Stult

UNKULTURKOMMENTAR Ist es deutsch, ein Stolzer zu sein?

Der Stolz. Wem oder was strömt die aufwallende Gemütsverfassung zu? Dem geliebten Menschen, der eigenen Errungenschaft, dem Widerstand, dem Pass, dem selbstgemachten Kind? Liegt der Privatstolz vorn oder doch der nationale? Man hätte nicht gedacht, dass es noch einmal derart ins Kraut schießen könnte, das Gemaule um den deutschen Stolz. Wehe der Nation, die welchen nötig hat, das hätte man gedacht.

Da hilft vielleicht ein Blick zurück. Nicht was deutsch ist, soll geklärt sein, sondern: Was ist Stolz? Wohl dem, der ein Herkunftswörterbuch hat. Das aus dem Mittelhochdeutschen kommende Adjektiv bedeutet "stattlich, hochgemut" - gewissermaßen adlig. Im Spätalthochdeutschen gilt es schon als "hochmütig", alsbald die Bedeutung wechselnd zu "steif aufgerichtet". Hier verläuft ein Zweig zur niederländischen "Stelt" (Stelze) - "Krücke" und schlimmer noch: "Stütze". Ein im Niederländischen verwandtes Verb bedeutet gar "steif werden, gerinnen" und es lautet "stulten". Ich bin stult, ein Deutscher zu sein. Oder sollte es doch Stulle heißen?

Die Nationalstulle, mal wieder dick belegt. Sicher, Stolz bedeutet "Selbstbewusstsein". Aber wie immer, wenn der Stolz auf Hemden prangt wie tätowiert, dann ist es darum gar nicht gut bestellt. Und, nebenbei, ist es ja wieder ein Diskurs unter "uns Deutschen", der auf die Westhälfte festgelegt bleibt. Dort greift jeder Populist in den Zitatenmüll des anderen, um nur irgendwie damit ein Ohr zu fangen, das sich zur Stimme ummünzen lässt. Soll jeder Speicheltropfen ein Prozentpunkt sein. Identität ist gefragt, die Krise hält an. Keineswegs die Identitätskrise der Deutschen, Ost oder West und weder Nord noch Süd. Es ist die Identität der sogenannten Volksparteien, die auf der Kippe steht.

Dass der grüne Buhmann Auslöser der Debatte war, ist schnell vergessen. Man könnte meinen, er sei die vorgeschickte Vogelscheuche, die einen dummen Satz zum besten gibt, damit die Trottel von der Opposition sich einschießen und im dialektischen Umkehrsatz die Moralkeule als Anachronismusvorwurf auf die Schädeldecke kriegen. So kam es auch, deshalb schon wieder Flaute.

Der Feind ist der Unstolze, der Nichtpatriot, reklamieren die Rechten. Der Feind ist der, der nicht den Zusatz macht, warum konkret er Patriot beziehungsweise Stolzer ist, argumentieren allzu subtil die Linken. Schon die Positionsbestimmung ist ein Witz, denn es ist nichts weiter als ein Clinch in der Mitte, vom schwärenden Rand der Nazis abgesehen. Da kann man jenem rumänischen Jogginganzugträger dankbar für die Klarheit sein, die er fürs Fernsehen vor dem Reichstag postuliert hat: Hier geht´s viel besser als zuhause, gibt alles gut zu kaufen in Geschäften, ich bin stolz ... Das weist mit 15 Fingern auf die soziale Komponente dahinter. Etwas, das den Begriff aller moralischen Konditionen, zu denen er ja gezählt wird, enthebt.

Überhaupt, die Moral. Wo bleibt zum Beispiel die moralische Instanz? Das kann kaum der Bundespräsident beantworten. Kann man gleich das BGB, die Bibel oder die Skatregeln lesen. Angesichts der Wirklichkeit werdenden Europäischen Union, die mit dem Verzicht auf nationale Währungen den bislang größten Schnitt in nationale Identitäten macht, nimmt der Mangel an Identität beängstigendes Ausmaß an. Diese Angst scheint die Domäne der Politiker zu sein. Sie lässt sich für Profilierungskämpfe gebrauchen. Die Flut der Bekenntnisse, "Ich bin stolz ..." ist abnorm.

Eigentlich kein Stoff für Satire, denn es ist offensichtlich, dass es sich um eins dieser Stellvertretergefechte handelt, die zur Verdrängung tieferliegender Probleme dienen. Eines davon ist die nationale Einheit. Die als selbstverständliche gefeiert wird, aber immer noch kein Selbstverständnis ist. Das soziale Ost-West-Gefälle mag inzwischen für den globalen Nord-Süd-Konflikt stehen, ein deutsches Problem ist es mithin. Ostdeutschen Politikern, die die Interessen ihrer Landsleute vertreten, bringt das populistische Gezeter wenig. Zwar ist der östliche Rechtsradikalismus auch der Identitätskompensation nach Abgang des restriktiven Staatsgebäudes geschuldet, doch für Pathos ist die Situation zu nüchtern, die Differenz nach Westen zu groß. Stolz, ein Bundesdeutscher zu sein? Es kommt auf die Bedingungen an. Auch den Westdeutschen, ist zu vermuten, bringt der Stolz nicht viel. Nichtmal den Bauern, die mit Schwein und Kuh jetzt vor die Hunde gehen. Sie wissen am längsten, was es heißt, ein Deutscher nach Europa-Norm zu sein.

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