In Berlin gibt es eine S-Bahn-Station namens Anhalter Bahnhof. Den Bahnhof freilich gibt es längst nicht mehr. Von ihm ist nur ein Ruinenfragment geblieben, das mahnend, aber funktionslos in die Gegend ragt.
So ähnlich verhält es sich mit der SPD. Sie trägt zwar die Bezeichnung "sozialdemokratisch" in ihrem Namen, aber von all dem, was diesen Begriff einmal inhaltlich ausmachte, ist kaum etwas geblieben. Und so dürfte der Titel eines Buchs von Christian v. Ditfurth, SPD - eine Partei gibt sich auf, spontan auf Zustimmung stoßen. Der Prozess dauert schon eine Weile an, er ist nicht auf die deutsche Sozialdemokratie beschränkt, aber dass die Sozialdemokratie mittlerweile mit ihrer ehrwürdigen Tradition gebrochen, dass sie längst auf ihre essentials verzichtet hat, ist evident.
Manche loben diese Entwicklung, andere sehen sie mit Trauer, wieder andere haben dafür nur Häme übrig. Man kann verschieden darauf reagieren, nur leugnen kann man sie nicht. Dass zwei Drittel der Wirtschaftsbosse einem sozialdemokratischen Bundeskanzler Beifall zollen würden, dass sie bei ihm ihre Interessen besser aufgehoben wissen als bei der CDU, das hätten sich die Gründer der SPD, die Führer der Arbeiterbewegung, nicht träumen lassen. So ist denn die Frage, die der Zeitgeschichtler in seiner knappen Vorbemerkung stellt, rhetorisch. Nämlich, "ob die SPD sich nicht überflüssig macht, wenn sie auf das verzichtet, was sie wesentlich von allen anderen Parteien unterscheidet".
Der Rest des Buchs dient genau dem Nachweis der genannten Voraussetzung, also der ebenfalls evidenten Tatsache, dass die SPD nach und nach auf alles verzichtet, was sie von anderen Parteien unterscheidet. Dass die SPD die bessere CDU sei, ist mehr als ein Wortspiel, und die Kündigung der einstigen Position - wiederum: nicht nur in Deutschland - ist ja auch die Bedingung dafür, dass inzwischen ehemalige kommunistische Parteien diese Position ausfüllen können. Vieles, was Gregor Gysi heute sagt, hätte man vor noch gar nicht so langer Zeit aus dem Munde sozialdemokratischer Politiker zu hören bekommen. Was nicht unbedingt für Gysi, aber gewiss gegen die Sozialdemokratie spricht.
Christian v. Ditfurth macht sich munter, leidenschaftlich und mit einer gehörigen Portion Subjektivität an sein Thema heran. Er tut gar nicht erst so, als ginge es ihm nicht unter die Haut. Das wird man ihm - das ist vorauszusehen - vorwerfen. Hätte er sich um mehr Sachlichkeit bemüht, hätte er Objektivität vorgetäuscht, so hätte man sich vermutlich über die Trockenheit der Darstellung, über den Mangel an Engagement beschwert. Für Kritik der vorliegenden Art gibt es stets Immunisierungsstrategien, die nur verschleiern sollen, worum es wirklich geht: um die Verhinderung von Kritik.
Besonders schmerzt den Autor, und nicht nur ihn, der Verlust der Kompetenz für soziale Gerechtigkeit, den Umfragen der SPD Gerhard Schröders mit gutem Grund attestieren. Er ist die Kehrseite der Medaille, die eine Wirtschaftspolitik propagiert, die nach Schröders Worten nicht sozialdemokratisch, sondern nur gut oder schlecht sein kann und in der Praxis vor allem für die Unternehmer gut ist, also nicht eben für die traditionelle sozialdemokratische Klientel.
Als Ausgangspunkt - sozusagen zur Etablierung des Maßstabs - an dem sich die Selbstaufgabe der SPD überprüfen ließe, wählt v. Ditfurth eine differenzierte Darstellung der Positionen Eduard Bernsteins, die gut ein Drittel des Buchs füllt. Ein weiteres Drittel widmet er, immer mit Rückverweisen auf Bernsteins Einflüsse, der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Ein besonders dunkles und wenig bekanntes Kapitel beschäftigt sich mit der Haltung der SPD zu Hitler. Die SPD-Führer, so weiß v. Ditfurth zu berichten, gingen Anfang April 1933 hart gegen eigene Genossen vor, als die Berliner Organisation der Sozialistischen Arbeiterjugend "in die Illegalität übergehen wollte, um den Widerstand gegen das braune Regime zu organisieren". Lapidar fügt er hinzu: "Statt Widerstand gab es eine Anbiederung an die neuen Machthaber." Und er liefert dafür Belege.
SPD-Genossen erbaten von Hermann Göring Reisepässe, mit denen sie dann ins Ausland fuhren, um "ihre europäischen Bruderparteien davon abzuhalten, das NS-Regime allzu hart zu kritisieren". Kaum bekannt dürfte auch sein, dass die SPD im März 1933 aus der Sozialistischen Arbeiter-Internationalen austrat, weil diese zwei Resolutionen gegen die NS-Machthaber ohne Konsultation mit den deutschen Genossen beschlossen hatte. Nur das Verbot der SPD konnte verhindern, dass die in Deutschland verbliebenen Funktionäre der SPD unter Paul Löbe, die sich offiziell von den in die Emigration gegangenen Parteiführern distanzierten und im Reichstag mehrheitlich Hitlers Friedensresolution zustimmten, zu Kollaborateuren der Nazis wurden. In diesem Zusammenhang erscheint die jüngst publik gewordene Tatsache, dass die österreichische Bruderpartei der SPD nach 1945 mit großem Elan ehemalige Nationalsozialisten aufgenommen und deren Vergangenheit verschleiert hat, in neuem Licht.
Eine Kontinuität, die v. Ditfurth zu Recht beklagt, besteht darin, dass die SPD "zu oft das Gegenteil von dem praktizierte, was sie gefordert oder versprochen hatte". In der Weimarer Republik betraf das etwa den Panzerkreuzerbau, nach dem Godesberger Programm die Überführung großer Wirtschaftsgebilde in Gemeineigentum, die Investitionskontrolle, die Unternehmensverfassung für die Großwirtschaft oder die Änderung der ungerechten Einkommens- und Vermögensverteilung. Eingestandenermaßen zugespitzt formuliert v. Ditfurth: "Bis heute trauen sich manche Sozialdemokraten nicht mehr, auf das gültige Parteiprogramm zu verweisen, denn nur Naive können annehmen, dieses sei ernst gemeint und würde die Regierungsarbeit beeinflussen." Und zum Beleg zitiert er aus dem Berliner Programm von 1989, in dem die Rede ist von einer von Klassenschranken befreiten Gesellschaft, vom Abbau von Privilegien und von der Vollendung der Demokratie. Darauf folgt ein Satz, der ungeschützt ausspricht, was immer mehr potenzielle Sympathisanten von der SPD abstößt: "In Wahrheit will die gegenwärtige sozialdemokratische Politik die Reichen noch reicher machen in der Hoffnung, dass dabei Arbeitsplätze entstehen." Dieser Satz ist leider ebenso wahr wie banal. Zu Bernsteins Zeiten und noch vor kurzem hätte er allenfalls die konservativen Gegner charakterisiert. Er ist eines der stärksten Argumente dafür, dass sich die SPD aufgibt.
Dieser Zustand freilich hat eine Vorgeschichte. Er ist das bisherige Ende eines seit langem anhaltenden Prozesses. Mit einer hohen Plausibilität behauptet v. Ditfurth: "Die Grünen besetzten den Platz, den die Schmidt-SPD links frei gemacht hatte. Es gibt in der Politik kein Vakuum, die Nachfrage schafft sich ihr Angebot." Nur sind die Grünen von heute nicht mehr die Grünen aus der Zeit Helmut Schmidts, ist die Regierungspartei Joschka Fischers weit entfernt von der oppositionellen Basisbewegung. Wer heute den Platz besetzen wird, den die SPD und auch die Grünen frei machen, steht noch nicht fest. Es muss nicht unbedingt eine linke Partei sein. Dieses Beispiel vermittelt eine Ahnung, was da in Zukunft drohen könnte. Das österreichische Beispiel ist übrigens auch ein Argument für v. Ditfurths These, dass die meisten Arbeiter nie sozialistisch waren, sondern ihre Partei, die SPD, als ihre politische Interessenvertretung in der bürgerlichen Gesellschaft begriffen. In dem Augenblick, da offensichtlich wird, dass die Sozialdemokratie die Interessen der Arbeiter nicht mehr vertritt, weil sie eben dafür sorgt, dass die Reichen noch reicher werden, kann ein Haider, der genau die Vertretung dieser Interessen verspricht, Zulauf gewinnen, und zwar eben bei jenen Arbeitern, die traditionell sozialdemokratisch wählten.
"Die Schröderisierung ist gleichbedeutend mit dem Verzicht, die Gesellschaft gegen die Interessen der Unternehmer zu verändern", fasst v. Ditfurth zusammen. Und klingt es nicht abenteuerlich, was Gerhard Schröder 1997 erklärte: "Wir werden damit Schluss machen, dass naturwissenschaftliche und technologische Innovationen zunächst auf ihre Risiken abgeklopft werden, ehe man sich ihren Chancen zuwendet." Ähnliche Äußerungen, die bei jeder Aktionärsversammlung von Hoechst oder DaimlerChrysler willkommen wären, kann man freilich auch von sozialdemokratischen Funktionären in anderen Ländern hören. Ein Manko des vorliegenden Buchs ist seine Deutschzentriertheit. Es wäre eine Überlegung wert, inwiefern die beobachtete Entwicklung ein gesamteuropäischer Befund ist. Blair und Schröder haben nicht umsonst gemeinsam ein berüchtigtes Papier verfaßt, und der Österreicher Viktor Klima hat den Preis für diese verfehlte Politik bezahlen müssen. Er wird wohl nicht der letzte bleiben.
an v. Ditfurth: SPD - eine Partei gibt sich auf. Henschel-Verlag Berlin 2000, 351 S., 48,- DM
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