Es gehört heute zum guten Ton, den Sozialstaat zu verteufeln, den Wettbewerb als Garanten von Wohlstand und Demokratie zu verherrlichen und konsequent zu behaupten, die 68er-Revolte sei von Übel, im besten Falle folgenlos gewesen. Schon wahr: viel ist nicht übrig geblieben von den Idealen und den Errungenschaften der Studentenbewegung. Das liegt freilich nicht an göttlichem Willen, sondern an menschlichem Handeln, an dem maßgeblich just solche beteiligt sind, die auch damals schon, nur eben auf der entgegengesetzten Seite, immer genau wussten, wo´s lang geht. Im Slogan "Sozialismus oder Barbarei" mussten sie nur den Begriff "Sozialismus" gegen "Kapitalismus" auswechseln, um sich dem politischen Status quo anzubiedern und doch ihr manichäisches Weltbild beibehalten zu können. Für Konzeptionen wie "Verteilungsgerechtigkeit", "gleiche Bildungschancen", "kompensatorische Erziehung" mussten sie nur die positive Wertung gegen eine negative austauschen. Die Schlagwörter konnten sie weiterverwenden. Wäre das nicht so unappetitlich, könnte man die Komik der Situation ja auskosten. Besonders witzig ist der Konformismus, mit dem die immer gleiche Mann- und Frauschaft von Renegaten, die sich für prononcierte Nonkonformisten halten, geschlossen auftreten, um ganze Bücher und Zeitschriftenhefte zu füllen oder gar, wie im Fall des Kursbuch, auf neuen Kurs zu bringen. Fast ist man angesichts dieser wundersamen Wandlungen, die sich gleichen wie ein Ei dem anderen, doch geneigt, an eine göttliche Intervention zu glauben.
Zu den tatsächlichen Folgen der Studentenbewegung gehörte eine bis dahin unbekannte Blüte von Kleinverlagen. Sie ist leicht zu erklären. Da die etablierten Verlage die Belletristik, insbesondere avancierte Formen, die gegen überlieferte Lesegewohnheiten verstießen, und vor allem die politische Literatur nicht (wieder)veröffentlichen wollten, die damals, in Opposition zum Kanon, interessierte, schuf man sich, neben anderen Institutionen der in jenen Jahren viel diskutierten "Gegenöffentlichkeit", mit mehr Idealismus als Kapital eben eigene Kleinverlage, die eine Vielfalt von älteren und neuen Texten, auch Manifeste und Essays von bis dahin missachteten Randgruppen zugänglich machten. Doch der Zynismus des Marktes war nicht beurlaubt. Als die großen Verlage bemerkten, dass man mit dieser zuvor von ihnen ignorierten Literatur Geld verdienen kann, richteten sie in kürzester Zeit neue Reihen und Nischen ein, in denen sie die Programme der Kleinverlage kopierten. Dabei sprangen sie, weil im Zweifel der Profit vor der Überzeugung Vorrang hat, meist über ihren politischen Schatten. Manchmal folgten sie sogar ihren Einsichten, denn auch in den Großverlagen konnten sich vorübergehend Lektoren unverzichtbar machen, die von der Studentenbewegung geprägt waren.
Die Zeiten sind vorbei. Im Deutschland einer rot-grünen Regierung, die sich anschickt, die soziale Marktwirtschaft eines Ludwig Erhard durch neoliberalen Wildwuchs zu ersetzen, in einem Deutschland, in dem jene als Intellektuelle gelten, die sich im günstigsten Fall mit dem kleineren Übel zufrieden geben und im Übrigen den Einsatz für Schwächere und Benachteiligte für bespottenswertes Gutmenschentum halten, gibt es kaum noch Leser für die Art von Literatur, die nach 1968 Herzen und Hirne gewann.
In dieser Situation ist erneut die Stunde der Kleinverlage angebrochen. Was wären wir ohne sie? Auf den Buchseiten der großen Tages- und Wochenzeitungen kommen ihre Produkte kaum vor. Das macht: sie können sich keine Anzeigen leisten. Gerade deshalb wären Rezensionen für sie überlebenswichtig. So mancher Redakteur, auf diesen Umstand hingewiesen, entgegnet mürrisch: "Es ist auch nicht alles gut, was in Kleinverlagen erscheint." Richtig. Das hat aber auch niemand behauptet. In Klein- wie in Großverlagen werden gute und schlechte, bemerkenswerte und vernachlässigbare Bücher publiziert. Aber vergangen ist eine Politik, die Großverlage nicht zuletzt moralisch verpflichtet hat, mit ihren Bestsellern auch schwer verkäufliche Bücher zu finanzieren, durch eine Mischkalkulation einen kulturellen Auftrag zu erfüllen. Ein ganzer Sektor experimenteller, schwieriger, politisch radikaler, provokanter Texte würde heute nicht das Licht der Öffentlichkeit erblicken ohne die Kleinverleger, ihre Selbstausbeutung und ihre (ökonomische) Interessengemeinschaft mit den Autoren. Auf der Leipziger Buchmesse werden wir diese Woche viele von ihnen wiedersehen. Wir heben das Glas auf sie. Mehr können wir leider nicht tun.
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