Das Prinzip der Gleichheit

Erniedrigte und Beleidigte Über die Verdrängung der Arbeiterbewegung aus dem öffentlichen Bewusstsein

Was hat es zu bedeuten, wenn 20-Jährige beim Wort "Konsum" nur noch an Einkauf denken, ihnen ein Verein dieses Namens und erst recht dessen historische Bedeutung aber nicht mehr bekannt sind? Was hat es zu bedeuten, wenn das Wort "Volkshochschule" negativ besetzt ist, wenn es nur noch hämisch und abwertend verwendet wird? Was hat es zu bedeuten, dass kaum noch jemand weiß, welche Funktion Mandolinenorchester und Chöre, Freizeitstätten und Sportvereine, erschwingliche Urlaubsheime und Samariterbünde für die Arbeiterbewegung hatten?

Es bedeutet, dass die Arbeiterbewegung und ihre Geschichte aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden sind. Selbst der Begriff scheint obsolet geworden, und von einer "Arbeitnehmerbewegung" möchte mit gutem Grund niemand sprechen. Aber gibt es nicht nach wie vor jene, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, die angesichts immer größer werdender Arbeitslosenzahlen dabei stets erpressbarer werden, die aber andere fundamentale Interessen haben als jene, die von fremder Arbeitskraft in mehrfacher Hinsicht profitieren?

Wieso spricht niemand von der offensichtlichen und systematischen Zerstörung der Einrichtungen und Errungenschaften der Arbeiterbewegung? Dass die 40-, später die 35-Stunden-Woche ein "Sieg der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften" war, gehörte doch zum täglichen rhetorischen Repertoire der Linken. Kein 1. Mai ohne Hinweis und berechtigten Stolz auf solche Errungenschaften. Wieso spricht heute angesichts verlängerter Arbeitszeiten und schlechterer Arbeitsbedingungen niemand mit derselben Deutlichkeit von der Niederlage der Arbeiterklasse und der Gewerkschaften?

Den Gewerkschaften fällt es offenbar schwer, ihre Niederlagen einzugestehen. Schon so laufen ihnen die Mitglieder weg, und die Verliererrolle trägt nicht eben zur Attraktivität bei. Und die an sich nicht gerade schüchternen Gewerkschaftsgegner, so dreist sie sich geben, wissen doch auch, dass allzu demonstrativer Triumph Gegenreaktionen auslösen könnte. Sie freuen sich insgeheim ihres Siegs und jammern dennoch in der Öffentlichkeit über ihre angeblich schwierige Lage. Bei Sabine Christiansen wiederholt ein seniler Keksfabrikant in einem fort seine unverhohlene Abscheu vor "sozialer Gerechtigkeit". Auch Milliardenprofite und herzerfrischende Bilanzen hindern die Reichsten der Reichen nicht daran, gebetsmühlenartig zu behaupten, "alle", insbesondere aber die Lohnabhängigen müssten Opfer bringen. Und eine rot-grüne Regierung betet ihnen diese Zwecklüge nach.

Dass es so ist, dass es unter einer grün modifizierten sozialdemokratischen Regierung in verstärktem Maße so geworden ist, wäre schlimm genug. Dass aber auch das Bewusstsein von Alternativen zerstört wurde, macht die Sache noch schlimmer. Zerstört wurde die Erinnerung an eine Geschichte, in der eine selbstbewusste Arbeiterklasse Rechte erkämpfte, die heute mit Fug und Recht nach internationalen Standards zu den Menschenrechten zählen, zerstört wurde der Blick in die Zukunft, das Denken in utopischen Dimensionen, über einen schlechten Status quo hinaus.

Was wissen Abiturienten über die Geschichte der Arbeiterbewegung? Kann man wirklich jedes Unwissen unter PISA abbuchen? Gibt es keinen Zusammenhang zwischen der Unkenntnis über die Geschichte der Erniedrigten und Beleidigten, der Ausgebeuteten und der Kämpfer gegen soziales Unrecht und der Tatsache, dass in Baden-Württemberg 86 Jahre nach der Gründung der Republik der demokratisch gewählte Ministerpräsident einen Bürger dieses Landes mit "Königliche Hoheit" anspricht? Hat der monarchistische Dreck, der von Illustrierten Tag für Tag in die Hirne von Menschen geträufelt wird, wirklich keine Wirkung? Natürlich, die liberalen Intellektuellen, die jedes Engagement belächeln und sich in Ironie flüchten, meinen ganz genau zu wissen, dass ja niemand diesen Schmarren ernst nehme. Ist das so sicher? Wenn man bedenkt, welchen Raum selbst die seriösen öffentlich-rechtlichen Fernsehsender irgendwelchen königlichen Hochzeiten, Begräbnissen oder Staatsbesuchen genehmigen, kommen einem massive Zweifel an der republikanischen Gesinnung. Hans Weigel sagte einmal mit Bezug auf Österreich: "Die Republik hat sich bewährt, aber nicht eingebürgert." Das gilt für Österreich in besonderem Maße. Aber ganz falsch ist dieser Satz auch mit Bezug auf Deutschland nicht.

Die Errungenschaften der Arbeiterbewegung sind auch deshalb so bedeutsam, ein Bewusstsein von ihnen ist auch deshalb so wichtig, weil sie zugleich konstitutiv demokratische Errungenschaften sind. Sie zielen allesamt auf Partizipation, auf Teilhabe an materiellen und symbolischen Gütern, an Chancen, an politischen Rechten. Die Volkshochschulen sollten jener Mehrheit, die über Jahrhunderte hinweg von einer höheren Bildung ausgeschlossen war, Zugang zur Bildung verschaffen - und das hieß damals nicht lediglich berufliche Weiterbildung und Yoga oder Ikebana. Der Konsumverein sollte jenen, die sich den Einkauf im Feinkostladen nicht leisten konnten, erschwingliche Lebensmittel garantieren. Ein Gedanke, der nur jenen überholt erscheinen mag, deren Vorstellungsvermögen es überschreitet, dass Menschen, auch in Deutschland, - schon wieder - hungern. Einrichtungen wie die Theaterbesucherorganisationen und Kulturgemeinschaften sollten einer sozialen Schicht Zutritt zu den kulturellen Institutionen verschaffen, die traditionell dem Bürgertum vorbehalten waren. Kurz: die Arbeiterbewegung kämpfte auf mancherlei Gebiet für jenes Prinzip der bürgerlichen Revolution, das die Bourgeoisie verraten hatte, das Prinzip der Gleichheit. Es ist ein fundamental demokratisches Prinzip. Bei Sabine Christiansen aber werden wir belehrt, dass wir es dem Prinzip der Freiheit opfern müssen.

Und auch der Kampf um die Verkürzung der Arbeitszeit war von Anfang an mehr als nur eine Kraftprobe. Es ging stets um Menschenwürde. Es ging um ein Leben, in dem man zwischen Geburt und Tod mehr erfahren darf als Arbeit und kurzfristige Regenerierung der Arbeitskraft. Die belächelten Mandolinen- und Akkordeonorchester waren immerhin der Versuch, Menschen an einer Form der künstlerischen Tätigkeit teilhaben zu lassen, denen die Hochkultur aus mehreren Gründen versagt blieb. Wer aber sollte selbst dazu noch Lust und Energie haben, wenn er 48 Stunden malochen muss? Der freie Samstag, später auch der freie Freitagnachmittag, der verlängerte Feierabend sollten den arbeitenden Menschen Zeit zur Selbstverwirklichung anbieten, Zeit für die Familie, Zeit auch für eine Erholung, die über ein Atemschöpfen hinausgeht, und nicht zuletzt Zeit zur politischen Bildung und zur politischen Aktivität, zur Mitarbeit in den Organisationen der Arbeiterbewegung.

Wenn das heute mit allerlei Ausreden und Schönfärberei zur Disposition gestellt wird, dann bedeutet das nicht mehr und nicht weniger als die tendenzielle Rückkehr zu frühkapitalistischen Zuständen, als einen Abbau von Demokratie und Menschenrechten. Mag sein, dass die Niederlage der Arbeiterbewegung eine endgültige, eine unumkehrbare ist. Wenn dem so wäre: wo bleibt der Hessische Landbote des Jahres 2005? Zumindest darauf wollen wir nicht verzichten: dass die Gewerkschaften, dass die verbliebenen Reste der Linken Empörung über Ungerechtigkeiten empfinden und zeigen und dem Vergessen entreißen, was da einmal war. Die Zeiten sind trist genug. Das Schweigen der Unzufriedenen macht sie noch trister.

Gelegentlich meldet sich ja so etwas wie ein schlechtes Gewissen derer, die sich, auch als Intellektuelle, einst als Teil oder zumindest als Sympathisanten der Arbeiterbewegung verstanden. Dann klagen sie darüber, dass ihnen das Objekt ihrer Zuneigung abhanden gekommen sei. Die Arbeiterbewegung sei nicht nur aus dem öffentlichen Bewusstsein, sie sei real verschwunden. Das Schlagwort heißt: "Verbürgerlichung". Und dass es sich dabei um mehr als ein Schlagwort handelt - wer wollte das leugnen? Doch was ergibt sich daraus?

Liegt nicht eine gestörte Wirklichkeitswahrnehmung vor, wenn man einfach übersieht, dass es nach wie vor Hunderttausende Menschen gibt, die morgens zur Arbeit fahren und dort andere Tätigkeiten verrichten als jene, die über die Produktionsmittel verfügen? Und Produktionsmittel, pardon, existieren wie vor 150 Jahren, auch wenn manche mit dem Marxismus zugleich seine Terminologie entsorgen möchten. Haben diese Hunderttausende nicht nach wie vor andere Interessen als jene, die darüber befinden, ob und unter welchen Umständen sie einen Arbeitsplatz behalten? Sind sie nicht nach wie vor von großen Bereichen der gesellschaftlichen Angebote ausgeschlossen? Der Anteil der Kinder von Nichtakademikern unter den Studierenden an deutschen Universitäten ist seit einigen Jahren rückläufig. Man muss sie nicht unbedingt "Arbeiterkinder" nennen. Macht das den Skandal kleiner? Und warum hören wir so wenig darüber? Wo bleiben die Proteste der Gewerkschaften und der Sozialdemokraten, die für diesen Zustand maßgeblich verantwortlich sind?

Wie die Dinge stehen, wie die Macht verteilt ist, gibt es wenig Grund zu optimistischen Prognosen. Der Kapitalismus und mit ihm die Interessen der Unternehmer, der Herren, gegen die Generationen von Arbeitern und von Bürgerlichen, die sich mit den Interessen der Arbeiter identifizieren konnten, gekämpft hatten, haben vor 15 Jahren einen historischen Sieg errungen über eine Alternative, die sich als untauglich erwies. Die Funktionäre der einstigen Arbeiterbewegung haben ihre Seele an den Status quo verkauft. Mehr und mehr ähneln auch europäische Gewerkschaften jenen amerikanischen Trade Unions, die Elia Kazans Film Die Faust im Nacken von 1954 so eindrucksvoll vorgeführt hat. Die Globalisierung hat jenen Rest, der noch auf der Seite der Abhängigen steht, erpressbar gemacht. Vielleicht ist die Arbeiterbewegung - mit Betonung auf "Bewegung" - mittlerweile ebenso historisch wie die Fußball-WM von 1954. Bloß: über das "Wunder von Bern" weiß man hierzulande besser Bescheid als über Konsumvereine und Volkshochschulen, über Mandolinenorchester und Arbeiterchöre.


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