Der Roman ist im Präsens geschrieben. Das soll den Leser in die Erzählung einbeziehen, als fände, wovon sie berichtet, gerade statt. Das erzeugt eine Aufgeregtheit, die kaum über fast 300 Seiten und viele banale Alltagssituationen inklusive einer nicht sonderlich originellen Liebesgeschichte (oder sind es zwei?) hinweg durchzuhalten ist. Die Erzählerin sagt: "Ich bin elf", aber wir wissen natürlich, dass sie nicht elf ist, denn ihre Sprache ist nicht die Sprache einer Elfjährigen. Sie vertraut nicht auf die Vergegenwärtigung durch das epische Präteritum, sondern tut, als würde sie sich retrospektiv in die vergangene Gegenwart hineinversetzen, als sie elf war und beleidigt, weil sie nicht zur Abschiedsparty ihres Bruders eingeladen wurde.
Eine Gegenwart steht, die Chronologie methodisch missachtend, neben der anderen: "Die Perestroika ändert nichts", "1991 gibt es sogar Lebensmittelkarten", "Im Kommunismus (der achtziger Jahre) sind zwar alle gleich, aber Eliteförderung wird trotzdem großgeschrieben", "Deutschland (in den frühen neunziger Jahren) ist bunt": der täuschende Anschein von Unmittelbarkeit verhindert eine sinnstiftende Perspektivierung. Manchmal wird die Pseudogegenwart noch verdoppelt, etwa in der inhaltsleeren direkten Rede: "Wir fahren gerade aus Sankt Petersburg raus, sagt mein Vater." Aber der Leser merkt den Schwindel. So leicht ist er nicht zu überrumpeln. Der neckische Ton der meist kurzen Sätze, der Kindheitswahrnehmung simuliert, wirkt bald nur kokett.
In Wahrheit ist Lena Gorelik 23, und von Wahrheit dürfen wir sprechen, weil die Autorin alle Äußerlichkeiten mit der Erzählerin teilt, wenn auch deren Freund Jan sie nicht mit Lena, sondern mit Anjetschka anspricht. Im weiteren Verlauf erfahren wir, dass sie Anja Buchmann heißt. Wie diese ist Gorelik tatsächlich mit elf Jahren von Sankt Petersburg nach Deutschland übersiedelt, wo sie jetzt mit einem Roman debütiert, der sich seinen Titel, nicht allzu bescheiden, von Dostojewski leiht. Aber gewiss, das besitzanzeigende Fürwort, das die Vorgabe ergänzt, stellt jene ironische Distanz her, die - Präsens hin oder her - den ganzen Roman kennzeichnet. Diese ironische Distanz ist bei Gorelik eng verbunden mit dem Kinderblick, den sie auch beibehält, wenn sie von sich als Erwachsener erzählt: "Das muss komisch aussehen, ein Mann und eine Frau halten über den Tisch hinweg jeweils eine Hand einer anderen Frau, und vor ihnen stehen Maßkrüge auf dem Tisch."
Ist es Lena Gorelik peinlich, davon zu erzählen, wie eine junge Russin Deutschland erlebt, wie es ihr im Text unangenehm ist, wenn das Wohnheim erwähnt wird, in dem ihre Familie die erste Zeit nach der Ankunft untergebracht war? Flüchtet sie sich in eine geliehene Naivität, um sich nicht festzulegen, um nicht haftbar gemacht zu werden für ihre Beobachtungen, die durchaus treffend und größtenteils objektivierbar sind?
Lena Gorelik zitiert Vorurteile, denen sie begegnet ist. Gehört jenes, dass Russen Dostojewski nicht gelesen haben, tatsächlich dazu? Typisch kann es kaum sein, und gut erfunden ist es auch nicht, da doch das Klischee viel eher lautet, dass alle Russen beim Metrofahren Klassiker lesen. Andere Dialoge erscheinen glaubwürdiger, und wie Gorelik ihre eigenen Reaktionen formuliert, ist manchmal tatsächlich witzig.
Und weil auch ein Roman, der sich über Klischees lustig macht, nicht unbedingt auf Klischees verzichtet, begegnen wir bei Gorelik der jüdischen Familie, die, scheint´s, in Amerika oder Israel genau so aussieht wie in Russland, die es wohl, wenn der Roman das so detailfreudig schildert, mit genau diesen klischeehaften mehr oder weniger liebenswürdigen oder entnervenden Attributen geben muss, der ich aber, offen gestanden, in der Literatur weitaus häufiger begegne als unter den Juden, die ich im wirklichen Leben kenne. Und Mütter, die ihre erwachsenen Kinder täglich im Urlaub anrufen, sind nach meiner Erfahrung wirklich keine jüdische Besonderheit. Diese Verzerrung der Realität wäre nicht weiter schlimm. Nur: so schrecklich viel gibt das Motiv von der ewig besorgten jüdischen Mama nicht her. Sie tritt auf wie die komische Alte in der Typenkomödie, aber sie trägt wenig zu einer Romanhandlung bei.
Am überzeugendsten scheint der Roman dort, wo er, fast anekdotisch, den Kulturschock auf den Begriff bringt, den jede Auswanderung, erst recht in eine zuvor als unerreichbar geltende Welt, mit sich bringt. "Wir haben in Russland gehört, dass ein Heft einen ganzen russischen Monatslohn kostet, da haben wir vorsichtshalber welche mitgenommen. Wie hoch ein deutscher Monatslohn ist, hat keiner gesagt." Zu den gelungenen Passagen gehören auch jene über eine russische Reisegruppe, die von Deutschland aus im Bus nach Paris fährt.
Daneben gibt es Sätze von einer deprimierenden Einfalt, "Postkartensprüche", wie die Erzählerin selbst die altklugen Ausführungen ihres Freundes Jan an anderer Stelle kommentiert. "Wir waren so verliebt, wie man das nur mit sechzehn sein kann." Da bringt auch das Präteritum keine Rettung. Und wenn die Erzählerin den folgenden Satz als "altes russisches Sprichwort" deklariert, fragt man sich, ob das deren mangelnde Bildung, ihren keineswegs überwundenen Russozentrismus belegen sollte, vielleicht auch den ihres russischen Freundes Ilja, oder ob es Lena Gorelik wirklich nicht besser weiß: "Wenn der Berg nicht zu Mohammed kommt, geht Mohammed zum Berg." Muss man es so genau nehmen? Vielleicht nicht unbedingt in einem Roman, in dem in der fünften Klasse eines deutschen Gymnasiums angeblich noch Diktate geschrieben werden und in dem die Perestrojka nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion beginnt.
Ganz am Ende, nachdem das Telefon geklingelt hat und Jan vermutet, dass Anjas Mutter dran ist, steht da noch ein Rezept für Russischen Kartoffelsalat, der im Roman eine leitmotivische Funktion hat. Russisch daran sind vor allem die Dosenerbsen. Leider mag die Erzählerin Soljanka nicht so sehr. Die ist ihr zu fett. So bleibt´s beim Kartoffelsalat. Ob die Anspielung auf Dostojewski nicht doch etwas hoch gegriffen ist?
Lena Gorelik: Meine weißen Nächte. Roman. SchirmerGraf, München 2004, 287 S., 18,80 EUR
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