Die verbreitete Politikverdrossenheit hat ihre Ursachen. Dass es denen da oben nicht um politische Ziele geht, sondern nur um Posten, dass Gleichheit und Gerechtigkeit, Solidarität und Umverteilung weniger Leidenschaften wecken als Hinweise zur Erhöhung von Wahlchancen, erscheint offensichtlicher denn je. Das ist der Stand der Dinge: Vor zwei Jahrzehnten diskutierte man noch über die Aktualität von Marx. Mittlerweile steht Keynes zur Disposition. Auch bei solchen, die sich für links halten. Von Marx ist nicht mehr die Rede.
Wo es für Christian Rickens lang geht, wird auf der ersten Seite klar. In jenem süffisant selbstironischen Ton, mit dem Bekehrte signalisieren, dass sie heute klug, ja weise sind, blickt er überlegen auf seine linke Jugend zurück. Es ist schließlich nicht schwer, retrospektiv Dummheiten aufzuspüren und lächerlich zu machen. Die Infamie besteht darin, dass mit ihnen auch das Richtige entsorgt und der gegenwärtige Standpunkt, mit dem es sich in dieser Gesellschaft gut leben lässt, geheiligt wird.
Eigentlich sollte der Titel schon warnen, in dem Links nicht etwa eine politische Position mit einer langen Geschichte bezeichnet, sondern ein Lebensgefühl. Dieser Reduktion eines komplexen ideengeschichtlichen Begriffs auf ein vages psychisches Ungefähr entspricht der autobiographische Ansatz, der den Ausgangspunkt für die Bekenntnisse des Autors bildet.
Christian Rickens, mittlerweile 37 Jahre alt und seines Zeichens Wirtschaftsjournalist, kann schreiben. Sein Stil ist locker, unterhaltsam, pointensicher und für die Gebildeten unter seinen Lesern zitiert er Joseph Conrad ohne Namensnennung herbei. Offenkundig geschult an amerikanischen Sachbüchern, beginnt er seine Kapitel mit "Fallstudien", mit Beispielen aus der jüngeren Vergangenheit, oder der aktuellen Politik oder auch aus "eigenen Recherchen", um die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen alsbald zu verallgemeinern. Rickens bekennt sich zu einem "linken Liberalismus", und er meint damit eine möglichst durch keine staatlichen Eingriffe gehemmte Marktwirtschaft in Verbindung mit sozialer Gerechtigkeit, internationaler Solidarität, Demokratisierung und Nachhaltigkeit. Dass diese Verbindung möglich sei, ist ein liberaler, nicht ein linker Topos. Und die Rechte will uns ohnedies einreden, Marktwirtschaft sei Bedingung und Garant von Freiheit und Demokratie. Deshalb ist ihr der chinesische Übergang zur Marktwirtschaft so peinlich, da er doch das Gegenteil beweist, wie es schon zuvor die marktwirtschaftlich organisierten faschistischen Diktaturen taten, die diese Advokaten eines menschenverachtenden Status quo geflissentlich übersehen.
Was ist für Rickens, gleich nach Oskar Lafontaine, für dem ihm als Vergleich nur "ein pubertierender Orang-Utan" einfällt, die Negativfolie? Bismarck und Keynes, "mehr Abschottung und mehr Sicherheit auf Kosten von weniger Freiheit und weniger Wachstum" und - erraten! - die Sozialversicherung. Diese Töne sind uns vertraut. Nur wären wir bisher nie auf die Idee gekommen, dass sie links angesiedelt sein könnten. Es kommt noch besser. Als Zeugen ruft Rickens´ - man höre und staune - ausgerechnet Milton Friedman auf.
Konsequent preist uns Rickens die Globalisierung als linkes Projekt an. Ihr sei die Verringerung von Armut zu verdanken. Sie sei Garant für ein originär linkes Postulat: die internationale Solidarität. Es gehe nur darum, Ungerechtigkeiten durch Umverteilung innerhalb der Globalisierung zu mildern. Dann hat man ihn, den linken Liberalismus Rickensscher Bauart. Rickens schlägt eine ganze Reihe nationalökonomischer Maßnahmen vor, von denen einige durchaus bedenkenswert, andere einfach naiv sind. So suggeriert der Autor allen Ernstes, es läge in den westlichen Demokratien an den notfalls dafür auch streikenden Bürgern, ob Währungen auf- oder abgewertet würden. Wäre dem so, hätten sich die Großbanken längst mit den Gewerkschaften verbündet und Plebiszite zur Bewertung der Währung gefordert.
Offenbar ahnt auch der Keynes-Verächter Rickens, dass die Großbanken eher als streikende Bürger den Gang der Dinge bestimmen und dass die Korrekturen, mit denen er das Attribut "links" rechtfertigt, ohne Eingriffe des Staats in den entfesselten Markt nicht durchsetzbar sind. Daher fasst er in einem Epilog seine Reformvorschläge in einer fiktiven Regierungserklärung aus dem Jahr 2013 zusammen. Welcher Partei die Bundeskanzlerin angehört, verrät Rickens nicht, nur dies: Frau Dr. Merkel ist es nicht. Aber auf alle Fälle eine Frau.
Es versteht sich, dass die Maßnahmen zur Schließung der Gerechtigkeitslücke, die Ottmar Schreiner vorschlägt, sich von den Rettungsvorschlägen eines "linken Liberalismus" deutlich unterscheiden, obwohl sich seine Stichwörter zum Teil mit jenen von Rickens decken: Globalisierung, Mindestlohn, Bildungsapartheid. Der im Marxschen Sinne ideologischen Legende von der Marktwirtschaft als Garantie der Demokratie stellt Schreiner die These gegenüber: "Soziale Sicherheit ist das Fundament der politischen Demokratie." Er stimmt einer in diese Richtung weisenden Aussage des Bundesumweltministers Sigmar Gabriel zu, um dessen Diagnose eines "Neofeudalismus" mit der rhetorischen Frage zu konfrontieren: "hat er vergessen, dass die SPD seit zehn Jahren Regierungsverantwortung trägt?"
Mit Bezug auf den Armutsbericht der inzwischen verabschiedeten rot-grünen Bundesregierung stellt Schreiner fest: "Es geht nicht mehr um Gerechtigkeit oder Gleichheit, sondern nur noch um (imaginäre) Chancengleichheit." Was bedeutet das? "Mit der neuen Gerechtigkeitsphilosophie entlässt sich der Staat aus der (Mit-)Verantwortung für sozialen Ausgleich, für den solidarischen Ausgleich von Verteilungskonflikten, für eine zukunftsfähige Arbeitspolitik, die sich an guter Arbeit orientiert. Arbeitslosigkeit wird nicht mehr als strukturelles, sondern als individuelles - und also auch individuell lösbares (Vermittlungs-)Problem definiert. Die Antwort lautet dann: Wer Arbeit sucht, der findet auch welche!"
Was Schreiner im Vergleich mit Rickens an Spritzigkeit und journalistischer Aufgeräumtheit vermissen lässt, ersetzt er durch die Genauigkeit der Analyse. Ein wenig erfüllt es einen mit Wehmut, wenn man hier einer sozialdemokratischen Haltung und einem moralischen Ernst begegnet, die beim heutigen Typus des Karrierepolitikers nicht mehr vorhanden sind. Bekanntlich hat Schreiner die Hoffnung nicht aufgegeben, seine Position innerhalb der SPD durchsetzen zu können. Er wäre nicht der Erste, der damit scheitert. Dass er wenigstens ausspricht, was bei Anderen, jedenfalls nach außen hin, der Selbstzensur verfällt, ehrt ihn. Andererseits wäre es an der Zeit, Bilanz zu ziehen über die tragischen Feldzüge all jener "Linksabweichler" innerhalb der Sozialdemokratie, die der Illusion erlagen, die Partei lasse sich von innen verändern; die geduldet wurden, solange sie linke Wählerschichten zu binden versprachen, und regelmäßig, fast naturgesetzhaft, der Lächerlichkeit preisgegeben, untergebuttert oder ausgeschlossen wurden, wenn sie tatsächlich die Partei zu prägen drohten.
Übereinstimmend mit Rickens benennt Schreiner den "ruinösen Steuerwettbewerb" innerhalb der EU als eine Ursache für die Erosion der Steuergerechtigkeit und die Verschlechterung der öffentlichen Leistungsangebote. Während aber Rickens als Lösung für das Problem fordert, dass jeder deutsche Staatsbürger unabhängig von seinem Wohnort nach deutschem Recht Steuern zahlen müssen soll, befürwortet Schreiner eine europäische Harmonisierung der Kapitalbesteuerung.
Abweichend von traditionellen sozialistischen Konzeptionen setzt Schreiner nicht auf die Arbeiterschaft, sondern auf die Mittelschicht - Facharbeiter, Angestellte, Handwerker, Beamte, Kleinunternehmer -, die in den vergangenen Jahren die stärksten materiellen Einbußen habe hinnehmen müssen. Das steht bis zu einem gewissen Grad in Widerspruch zu seinen Ausführungen über die Ungerechtigkeit im Bildungswesen. Dort heißt es zutreffend: "Kinder aus benachteiligten Familien sind die Verlierer auf unseren Schulen." Die aber kommen in den seltensten Fällen aus der "Arbeitnehmermitte". Es sind die Kinder der Migranten und der Armen, denen Schreiner in seiner Streitschrift viel Sympathie entgegenbringt. Ein "Pakt für soziale Gerechtigkeit" müsse auf zwei Säulen ruhen: auf guter Bildung für alle und auf mehr Verteilungsgerechtigkeit. Ist es tatsächlich die Mittelschicht, bei der da zu allererst anzusetzen wäre? "Eine Politik aber, die sich die Schwachen der Gesellschaft vorknöpft und die Starken zuverlässig verschont, schafft ständig neue Quellen des sozialen Unrechtsempfindens und weicht die politische Glaubwürdigkeit immer weiter auf." Richtig. Aber die Schwächsten befinden sich weit unterhalb der Mittelschicht. Die wird, so sehr sie selbst gebeutelt sein mag, etwas abgeben müssen, wenn Verteilungsgerechtigkeit für die Schwachen hergestellt werden soll. Im nationalen Maßstab, im europäischen, und im internationalen erst recht.
Christian Rickens Links! Comeback eines Lebensgefühls. Ullstein, Berlin 2008, 254 S., 16,90 EUR
Ottmar Schreiner Die Gerechtigkeitslücke. Wie die Politik die Gesellschaft spaltet. Propyläen, Berlin 2008, 254 S., 19,90 EUR
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