Die Absurdität des Todes

Talente In "Der Fremde und der Freund" erinnert (sich) Uwe Timm an Benno Ohnesorg

Als Gerhard Schröder in der "Elefantenrunde" nach der Bundestagswahl 2005 arrogant und selbstherrlich mit dem Moderator umgesprungen war, erregte das, nicht ohne Grund, die Nation. Als aber kurz zuvor die Moderatoren einer ebensolchen Runde in einer nicht weniger arroganten Weise mit Gregor Gysi sprachen, schien das niemandem aufzufallen. Gysi selbst ließ sich nichts anmerken und trug die - freundlich formuliert - schlechten Manieren seiner Befrager mit Fassung. Aber auch keiner der anwesenden Politiker und keiner der kommentierenden Journalisten sah sich zu einer Rüge veranlasst.

Es scheint in diesem Lande, das sich so viel auf seine Demokratie zugute hält, als selbstverständlich zu gelten, dass man Linke herablassend behandeln darf, dass man mit ihnen umspringen darf, als wären sie unmündige Kinder, die nicht so recht wissen, was sie daherreden, und die man daher nicht ernst nehmen muss. Das gilt nicht nur in der Politik. Die Art, wie seit Jahren von manchen - zugegeben: keineswegs von allen - Literaturkritikern über Schriftsteller wie Uwe Timm geschrieben wird, ist ein Skandal. Man kann seine Bücher mögen oder ablehnen, man kann ihren literarischen Wert höher oder niedriger einschätzen, nur eins kann man nicht, wenn man tatsächlich Demokrat ist: von vornherein einen paternalistischen Ton anschlagen, als wäre Uwe Timm nicht ganz zurechnungsfähig, als müsse man ihm im besten Falle schulterklopfend versichern, wo´s lang geht und was sich gehört. Uwe Timm hat Anspruch darauf, mit der gleichen Ernsthaftigkeit wahrgenommen und rezensiert zu werden wie andere Schriftsteller auch, selbst wenn seine Ansichten und Haltungen manchem systemkonformen Kritiker nicht gefallen mögen.

Benno Ohnesorg ist eine historische Figur. Aber eignet er sich als Figur einer Erzählung? Zu einer historischen Figur wurde Ohnesorg vom Ende seines Lebens her, durch seinen gewaltsamen Tod, der einer der spektakuläreren Auslöser war für das, was man allzu vereinfacht "Studentenbewegung" nennt und was ohne Zweifel die Geschichte Deutschlands bis heute mitgeprägt hat. Aber ist auch das, was dem zufälligen Tod voranging, von öffentlichem, gar von literarischem Interesse? Es ist es dann und nur dann, wenn sich ein dazu begabter Schriftsteller des Themas annimmt. Wenn dieser Schriftsteller durch einen weiteren Zufall einmal mit Benno Ohnesorg eng befreundet war, wenn er also über ein Wissen und auch eine emotionale Erfahrung verfügt, die anderen abgehen, dann in der Tat sind die Voraussetzungen für eine dokumentarische Erzählung gegeben. Damit sind wir wieder bei Uwe Timm. Denn er erfüllt genau diese Voraussetzungen. Zudem ist es nicht das erste Mal, das Uwe Timm Menschen, die wirklich gelebt haben und die er sehr gut kannte, ins Zentrum seiner literarischen Produktion stellt.

Kennengelernt hatten sich Uwe Timm und Benno Ohnesorg in Braunschweig, auf dem zweiten Bildungsweg. Beide waren sie literarisch interessiert. Das machte sie zu Freunden.

Uwe Timm erzählt in dieser Erzählung nicht zuletzt von sich. Das ist keineswegs überflüssig. In seiner eigenen Biographie spiegelt sich die Biografie Benno Ohnesorgs. Die Unterschiede treten durch diese Gegenüberstellung umso deutlicher hervor. Die Lebensbeschreibung des Autors, der das überschuldete Kürschnergeschäft des früh verstorbenen Vaters übernehmen musste, statt das Gymnasium zu besuchen, ist nicht zuletzt wegen ihrer diskreten politischen Implikationen interessant. Sie erinnert an den unschätzbaren Wert von Bildung in einer Zeit der sozialen Diskriminierung, die heute, unter fleißiger Mitwirkung von Sozialdemokraten, die einst dagegen angekämpft haben, wieder verstärkt das Bildungssystem bestimmt. Sie erinnert daran, wie schwer es einem großen Teil der jungen Menschen gemacht wurde und gemacht wird, ihre Begabungen zu entwickeln und sich ihrer Liebe zu Kunst, Literatur und Wissenschaft zu widmen. Der Bundessprecher der österreichischen Grünen Van der Bellen erinnerte kürzlich in der Pressestunde des ORF zu Recht an das Potential, das durch die Benachteiligung von Frauen, insbesondere wenn sie Kinder bekommen, verschwendet wird. Von den verschwendeten Talenten derer, die man mit ökonomischen Mitteln vom Studium abhält, spricht heute kaum noch jemand. Da schließt Uwe Timms Erzählung ganz ohne rhetorischen Eifer eine Lücke.

Manchmal übertrifft die Wirklichkeit jede dichterische Phantasie. Uwe Timm erwähnt selbst solch einen "Zufall": Dieselbe Psychologin, die 1959 ein Gutachten für die Aufnahme Benno Ohnesorgs in das Braunschweiger Kolleg verfasst hatte, schrieb auch 1967 das Gutachten über den Polizisten Karl-Heinz Kurras, der Ohnesorg in "putativer Notwehr" erschossen hat. Wenn der Erzähler angesichts des Fotos vom erschossenen Benno Ohnesorg an den Film Der Tod des Orpheus von Jean Cocteau denkt und just dieser der Lieblingsfilm Ohnesorgs war, dann verweist diese Konstellation jede literarische Erfindung ins Abseits der aufdringlichen Konstruktion. Zugleich charakterisiert das Meisterwerk des cinéastischen Surrealismus seinen Bewunderer, der mir 20 Jahren von Becketts Molloy geschwärmt hatte. Cocteau, Beckett: nicht eben Autoren, die man mit der Studentenrevolte assoziiert.

Der Titel von Uwe Timms Erzählung zitiert offensichtlich bewusst den berühmten Roman von Albert Camus herbei, der für ihn und seinen Freund, wie für viele damals junge Menschen seiner Generation, eine zentrale Bedeutung hatte und über den Timm später dissertiert hat. Es gibt eine Verbindung zwischen Camus und dem Tod Benno Ohnesorgs: die Absurdität. Dass der Tod absurd sei, ist kein origineller Gedanke. Bei Elias Canetti zum Beispiel wird er hundertfach variiert. Aber im Falle Benno Ohnesorgs, der - noch nicht einmal besonders politisch - ohne irgendwelche Vorzeichen durch einen zufälligen Schuss mitten aus dem Leben geholt wurde, erscheint die Absurdität des Todes potenziert. Und wieder gilt: die Wirklichkeit übertrifft jede literarische Konstruktion.

Über das Buch von Camus schreibt Uwe Timm: "Diese lapidare, aussparende Sprache, in der über die Liebe und Freundschaft erzählt wurde, gefiel uns." Auch in Timms eigener Erzählung scheint jedes Wort genau bedacht. Auch Timm verzichtet auf Manierismen und Ornamente. Wenn sich seine Beschreibungen einem lyrischen Ton annähern, bleiben sie doch stets uneitel. Der Stil dient der Mitteilung und der Reflexion, er macht sich nicht selbstständig. Uwe Timms Prosa ist zugleich unmittelbar verständlich und frei von Anbiederung an einen zeitgenössischen Jargon, der Spracharmut hinter Klischeehaftigkeit zu verbergen versucht. Das Sprachbewusstsein ist es auch, was Uwe Timm erst jetzt, dreieinhalb Jahrzehnte später, über die Ereignisse schreiben ließ. Damals, so bekennt er, hätte die Sprache seine "hilflose Wut ins Deklamatorische" verwandelt.

Uwe Timm ist mittlerweile 65 Jahre alt. Er hat mehr als ein Dutzend Bücher geschrieben, die in ihrer Summe als literarische Zeugnisse der deutschen Nachkriegsgeschichte gelesen werden können. Die Erzählung über Benno Ohnesorg gehört dazu. Uwe Timm ist in der deutschen Literatur keine marginale Figur. Wie jene, die ihm gelegentlich paternalistisch auf die Schulter klopfen.

Uwe Timm: Der Freund und der Fremde. Eine Erzählung. Kiepenheuer Witsch, Köln 2005, 176 S., 16,90 EUR


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