Die Last der Träume

Weltschmerz In "Russische Bücher" erinnert Jagoda Marinic sich und uns in lyrischen Tönen

Der Schweizer Germanist Emil Staiger hat einst vorgeschlagen, statt zwischen den Gattungen, den "Naturformen" Lyrik, Epik, Dramatik zwischen Lyrischem, Epischem und Dramatischem zu unterscheiden, die mehr oder weniger prägende Eigenschaft von Gedichten, von erzählender Literatur oder von Dramen sein können. Die drei Texte, die Jagoda Marinic in einem Band vorlegt, sind ohne Zweifel Erzählungen, also der Epik zuzurechnen. Aber sie sind zugleich lyrisch. Sie sind es durch ihre Bildhaftigkeit, durch ihre Subjektivität und vor allem durch ihre fluoreszierende Sprache, die nur in zweiter Linie der Vermittlung einer Handlung dient, zuvörderst aber Stimmungen, Assoziationen abruft, - vermutlich bewusst - unpräzise bleibt und der Phantasie des Lesers Raum lässt.

Das Thema der ersten Erzählung, angedeutet schon durch den spartanischen Titel Der Andere, ist uns aus einem Drama bekannt, aus Ibsens Frau vom Meer. Es geht um die Ahnung von einem anderen, ungelebten Leben, das sich verknüpft mit einem Mann, einem Versprechen, das "der Andere" allein durch seine Existenz zu geben scheint. Die Erzählung beginnt und endet in der Ich-Form. Der umfangreichere Mittelteil wird in der dritten Person erzählt, aber die Perspektive nähert die Frau, von der gesprochen wird, der Erzählerin an, verleiht auch dem Zentrum den Charakter einer Ich-Erzählung mit ständiger Versuchung zur manischen Selbstbeobachtung. Man mag das sensibel nennen, feinfühlig - es ist freilich auch ein wenig narzisstisch und in der Literatur junger Frauen seit den einst bejubelten, längst aber vergessenen Häutungen der Verena Stefan nicht eben ungewöhnlich. Als hätte Jagoda Marinic Angst, man könnte die Botschaft ihrer Psychostudie nicht verstehen, lässt sie ihre Protagonistin zudem begreifen: "Jeder trägt die Lasten seiner Träume und Ängste in sich, und wenn man einen Menschen findet, dem es gelingt, all diese Träume zum Leben zu erwecken, immer und immer wieder, ist man eher bereit, denjenigen gehen zu lassen, als diese Träume zerstört zu sehen." Irgendwie hat uns das Ibsen vor 115 Jahren schon subtiler vermittelt.

Die zweite Erzählung heißt wie die Heldin der ersten Lara, und sie ist nun durchweg in der Ich-Form geschrieben. Thematisch schließt sie an die erste Erzählung an. Auch die Erzählerin dieser Geschichte fragt sich (und ihre Freundin Lara), wie das richtige Leben auszusehen habe und wie es zu leben sei. Vielleicht ist es vermessen, von einer jungen Dichterin eine Antwort auf diese Frage zu erwarten, die sich vor ihr schon so viele große und kleinere Denkerinnen und Denker gestellt haben. Aber irgendwo verliert sich das Interesse an der melancholischen Reflexion, in der pubertärer Weltschmerz und ein durchaus ausgeprägter Sinn für Atmosphäre bruchlos ineinander übergehen. Der Text droht mehrfach, mangels substanzieller Gedanken zwischen Geplapper und Geraune abzustürzen.

Die dritte Erzählung heißt, wie der ganze Band, Russische Bücher, und sie trägt als Motto den berühmten ersten Satz aus Anna Karenina, der wie zur Rechtfertigung jeglicher Beschäftigung mit dem Unglück formuliert zu sein scheint. Es ist aber weniger das Stichwort "Unglück" als das Stichwort "Familie" im Tolstoj-Zitat, was die Erzählung inspiriert. Wieder gibt es eine Ich-Erzählerin, sie heißt hier Hannah, und sie rekapituliert eine Kindheit in einem kroatischen Dorf. Da gibt es auch sarkastische, fast boshafte Töne, die dem Text gut tun.

Eins noch. Weil offenbar auch bei Suhrkamp kein Lektor bereit ist, sprachliche Modetorheiten zu unterbinden, muss die Erzählerin ganz und gar unreflexiv ihren Magen erinnern und auch ihres Bruders zaudernde Schritte erinnern. Ich hingegen erinnere eine Zeit, in der man sich an den Magen und an die Schritte erinnert hat. Damals las man auch russische Bücher. Über den ersten Satz der Anna Karenina hinaus.

Jagoda Marinic: Russische Bücher. Erzählungen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005, 130 S., 16,90 EUR


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