Die Qual der Wahl

Qual der Wahl Von Mehrheiten und Bundespräsidenten

Volker Lösch, der Hausregisseur des Stuttgarter Schauspiels, hat eine Schwäche für Lars von Trier. Nach Dogville hat er nun dessen Film Manderlay für die Bühne bearbeitet und dabei die Konstellation aus dem Süden der Vereinigten Staaten nach Deutschland verlagert. Grace, die Tochter eines Kapitalisten, auf der Bühne sinnigerweise verkörpert vom ehemaligen Direktor der Stuttgarter Mercedes-Benz-Niederlassung Thomas C. Zell, will die Sklaven, bei Lösch in einem Container zusammengepferchte Gastarbeiter, in die Selbstbestimmung führen - eine Nachfolgerin von Brechts heiliger Johanna der Schlachthöfe. Doch ihr Scheitern ist programmiert. Die Unterdrückten haben die Normen ihrer Unterdrücker internalisiert, mehr noch: Wie sich am Ende herausstellt, war es ihr Sprecher, der das Gesetz formuliert hat, nach dem sie von "Mam" ausgebeutet wurden.

Von Grace über die demokratischen Spielregeln instruiert, fällen Mehrheiten nun Entscheidungen, die der wohlmeinenden Revoluzzerin aus gutem Hause gegen den Strich gehen. Sie pervertieren die neu gewonnene Freiheit zu einer Konsumorgie, fordern einstimmig den Tod einer hungrigen Frau, die ihrerseits durch Mundraub den Tod eines Kindes verursacht hat, und lassen sich zuletzt gerne wieder demütigen und auspeitschen. Grace, die tüchtige Befreierin, soll nach dem Willen der Geknechteten ihre neue Herrin werden.

Die Provokation funktioniert. So wollen wir Demokraten die Demokratie nicht vorgeführt bekommen. Aber wer würde darauf wetten, dass Hitler, wenn nicht 1933, dann doch bald darauf bei nicht manipulierten Wahlen keine Mehrheit bekommen hätte? Welcher Gegner der Todessstrafe würde eine Volksabstimmung darüber riskieren, was mit Josef Fritzl passieren soll? Auch die "vernünftigste" Diktatur stellt keine wünschenswerte Alternative dar. Aber das ändert nichts daran, dass Mehrheitsentscheidungen nicht so unproblematisch und von vornherein "gut" sind, dass man sie und ihr Prinzip nicht diskutieren müsste. Das war auch Büchner, dem Autor des Hessischen Landboten klar, als er Dantons Tod schrieb, das bewegte auch, mit anderem Akzent, Ibsens Volksfeind. Für diese notwendige Diskussion liefert Löschs Inszenierung eine hilfreiche Anregung. Man sollte sich ihr stellen, statt sie zu verdammen.

Ähnliche Überlegungen, aus der deutschen Geschichte gewonnen, sind wohl dafür verantwortlich, dass der Bundespräsident in Deutschland nicht direkt, sondern von Bundesversammlung gewählt wird. In Österreich, wo der Bundespräsident vom Volk und nicht von dessen Berufsrepräsentanten gewählt wird, warb der gegenwärtige Amtsträger mit dem Slogan "Auf die Qualifikation kommt es an" um die Stimmen der Frauen - er kandidierte gegen eine Konservative - und die Anhänger der Gegenpartei. Er hatte Erfolg damit. Selbst eingefleischte Verfechterinnen der Quotenregelung, zumal wo sie selbst davon profitieren, unterzeichneten die Unterstützungserklärung für den feschen Sozialdemokraten Fischer.

Wenn allerdings Bedenken gegenüber Mehrheitsentscheidungen, an denen auch jene beteiligt sind, die sich eher über Fußball oder Börsenkurse kundig machen als über Politik, irgendeine Berechtigung haben, mag die Wahl des Bundespräsidenten durch "Fachleute" sogar die bessere Option sein. Freilich: Von Wahl kann ernsthaft nur gesprochen werden, wo es eine Alternative gibt. So gesehen ist die Kandidatur Gesine Schwans ein Sieg der demokratischen Kultur. Und ein eigener Kandidat der Linken wäre es erst recht, jedenfalls wenn man Zweifel daran hegt, ob Schwan innerhalb des geringen Spielraums, den sie auf Grund der Verfassung hätte, tatsächlich eine "linkere" Politik betreiben würde als der Amtsinhaber. Die Geschichte lehrt: Konservative Bundespräsidenten rücken, einmal gewählt, nach links, linke nach rechts. Wenn die Sache gelaufen ist, wird das Staatsoberhaupt, zur Zufriedenheit der Parteien, ohnedies bestrebt sein, allen zu gefallen: ob es nun Schwan heißt oder Köhler.

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