Am ergreifendsten waren die zehnminütigen Standing Ovations für den 80-jährigen Hans Werner Henze nach der perfekten konzertanten Aufführung seiner Oper Gogo na Eiko. Den sängerischen Höhepunkt bildete Vesselina Kasarova als Sesto in Martin Kus?ejs wiederaufgenommener Inszenierung von La clemenza di Tito. Den Tiefpunkt markierte La finta giardiniera in der Regie von Doris Dörrie, die genau jene Komik bemühte, die Meg Stuart in It´s not funny witzig denunziert hatte. Den unheimlichsten Moment aber barg das Verstummen in sich. Im dritten Teil der Irrfahrten, auf denen Joachim Schlömer nach szenischen Lösungen für die Aufgaben suchte, die Mozarts Fragmente stellen, klang das Requiem, unergänzt, aus in Stille und Dunkelheit. Erloschen der grelle Scheinwerfer hinter dem Chor, erloschen die Pultlichter der Orchestermusiker und des Dirigenten, erloschen - man spürte es körperlich - das Leben des Komponisten der vorausgegangenen wunderbaren Töne.
Schlömers Experiment belegte, was auch manche andere Inszenierung bei den heurigen Salzburger Festspielen bewies: Nicht der Aufwand, nicht der Drang zum Superlativ, mag er Netrebko heißen oder sonst wie, macht die Qualität eines Opern- oder Theaterabends aus. Die scheinbar schlichten Einfälle waren oft die überzeugendsten.
Sie sind nicht zu beneiden, die Festspielintendanten. Tun sie, was alle anderen tun - etwa im Mozartjahr drei, vier Mozartopern auf den Spielplan setzen -, so wirft man ihnen zu Recht mangelnde Einmaligkeit vor. Beschließen sie hingegen, wie Peter Ruzicka in Salzburg, alle zweiundzwanzig Opern Mozarts aufzuführen, orten die Spötter olympischen Ehrgeiz und einen verzichtbaren Aufwand für Marginales.
Und doch handelt es sich um mehr als einen Rekord. Es ist schon instruktiv und zudem vergnüglich, das Opernschaffen des Jahrtausendgenies einmal in überschaubarer Frist im Zusammenhang zu hören. Es ist mehr als Snobismus, wenn man erfahren möchte, wie sich das Talent entwickelt hat, welche Querbezüge, Vorausdeutungen und Rückverweise sich in seinem Werk entdecken lassen. Die Präsentation eines kompletten Korpus von Schöpfungen einer Gattung bedeutet auch eine Verneigung vor der Integrität einer Person, vor der Kontinuität seiner Biographie. Die Rede vom "jungen Picasso", vom "mittleren Beethoven", vom "alten Goethe" zerstückelt einen Künstler in Torsi, gibt vor, man könne seine Geistesarbeit, um ein Lieblingswort Thomas Bernhards zu benützen, in Fragmente und Phasen teilen. Was aber das "Jugendwerk" und das "Alterswerk" zusammenhält, ist eben der Künstler. Ihn unverstümmelt vorzustellen, hat somit etwas Humanes.
Jedenfalls: alle 22 Opern Mozarts erleben zu dürfen - das ist eine "once in a lifetime"-Erfahrung. Dafür wird es so bald keine weitere Möglichkeit mehr geben.
Auffallend ist der Einfluss des Tanztheaters auf aktuelle Operninszenierungen. Gegen die Felsenstein-Schule rebelliert eine antinaturalistische, stilisierte Gestik, die eher der Musik folgt als dem Textsinn, oder sich gar verselbständigt. In Wahrheit sind die hochgereckten Arme, der Handrücken an der nach oben gedrehten Stirn, das Beiseitesprechen "hinter vorgehaltener Hand" nicht realistischer als die scheinbar zusammenhanglosen Gesten in der Regie von Claus Guth oder Joachim Schlömer. Sie sind lediglich konventionalisiert und mit Bedeutung ("Verzweiflung", "Trauer", "Geheimnisverrat") aufgeladen. Da sie längst zur Schmiere gehören, ist es verdienstvoll, wenn Guth, Schlömer und andere gegen die Konvention anrennen, auch wenn Teile des Publikums die Schmiere dem Rätselhaften vorziehen. Wie läppisch freilich die Zutaten sein können, bewies Pierre Audis konzeptionslose Zauberflöte.
Was Ruzicka mit Mozarts Opernwerk veranstaltete, realisierte Gidon Kremer mit dessen Violinkonzerten, indem er alle fünf, unterbrochen von Kompositionen eines anderen Jubilars, von Dmitri Schostakowitsch, an einem einzigen Abend aufführte und so den phänomenalen Sprung bewusst machte, den der Komponist innerhalb kürzester Frist zwischen dem zweiten und dem dritten Konzert bewältigt hat.
Eins der geistreichsten Stücke aus dem Umkreis des Surrealismus heißt Victor oder die Kinder an der Macht und sein Autor ist Roger Vitrac. In Salzburg heißt das Stück Viktor! Happiness Is A Warm Gun und als Autorin firmiert in der Vorankündigung die Regisseurin Barbara Weber. Die Inszenierung atmet die Komik der Anarchie, die Abgründe ahnen lässt. Aber Vitracs Victor muss seine Repliken zugunsten aktueller Anspielungen unterdrücken, wie Wendelin in Martin Kus?ejs Inszenierung von Nestroys Höllenangst keine Couplets singen darf, die für das Wiener Volkstheater nicht weniger essentiell sind als der Showdown für den Western, wie Lucio Silla nicht jene "Autonomie und Gnade" (Ivan Nagel) walten lassen darf, die Mozart komponiert hat, sondern dazu gepresst werden muss von Lucio Cinna, der nach dem Willen des Regisseurs Jürgen Flimm als neuer Diktator in Sillas Mantel schlüpft. Anstelle von Mozarts utopischer Hoffnung auf den aufgeklärten Absolutismus - Flimms pessimistische Diagnose. Anstelle des wortspielerischen Sarkasmus wienerischer Strophenlieder - eine Reminiszenz an amerikanische Nightclubs. Anstelle französischer Absurdität in der Nachfolge der Pataphysiker - eine angloamerikanische Metapher.
Zum Beispiel Nestroy. Seine Entwienerung war einst ein Akt des Widerstands gegen einen verharmlosenden biedermeierlichen Provinzialismus verschlampter Aufführungspraxis. Heute gilt es, Traditionen zu bewahren, die sich einer globalisierten Ästhetik widersetzen. Halten wir fest: Nichts ist so konformistisch und öde wie die Zitate aus der amerikanischen Popkultur, mit der, begleitet durch närrisches Hopsen, Inszenierungen an deutschen Bühnen seit Jahren gespickt werden. Diese oberflächliche Zeitgenossenschaft hat mit Interpretation und mit Stellungnahme zu einer ohnedies kaum mehr bekannten Inszenierungstradition nichts zu tun. Das Regietheater erlebte seine Blüte, als gescheite, analytisch geschulte Theaterleute die Komplexität ihrer Vorlagen zu demonstrieren oder auch kritisch zu würdigen wussten. Ein Regisseur, der klüger sein will als der Autor, es aber nicht ist, schafft einen schlechten Ersatz für ein besseres Original. Das erweist sich nicht als originell, sondern als anmaßend. Nicht Texttreue soll hier angemahnt werden, sondern Theaterarbeit, die der Genauigkeit vor dem Modischen den Vorzug gibt.
Freilich: der Humanismus, den Mozart wie kein Zweiter formuliert, ist seither zur Phrase verkommen. Jeder Politiker deklamiert aus den Lehrsätzen der Mozart-Libretti, und wir wissen, dass alles gelogen ist, unverbindliches Gerede, pure Ideologie. Die Frage stellt sich: kann man das, soll man das in einer Operninszenierung mitreflektieren? Soll man heutiges Wissen auf Mozart oktroyieren?
Der Preis für das Young Directors Project ist mit 10.000 Euro und dem "exklusiv für diesen Anlass entworfenen" Füllfederhalter einer berühmten Firma ausgestattet, die auf die obligatorische Selbstdarstellung ebenso wenig verzichten wollte wie auf den mittlerweile ebenso obligatorischen selbstironischen Tonfall bei der Pressekonferenz, und ging erwartungsgemäß an David Bösch für Viel Lärm um Nichts. Damit wurde eine zugleich saftige und intelligente Inszenierung ausgezeichnet. So kam das YDP im letzten Jahr Martin Kus?ejs zu einem guten Ende. Die Präsidentin der Salzburger Festspiele indes weilte zum Zeitpunkt der Preisverleihung, wo die wirklich wichtigen Entscheidungen fallen: in Wien, bei der Wahl der neuen ORF-Intendanz.
Ein Dilemma freilich hält an. Die Salzburger Festspiele bleiben, auch nach zehn Jahren Mortier und fünf Jahren Ruzicka, eine Angelegenheit für reiche Leute, die nicht unbedingt den höchsten Kunstverstand gepachtet haben. Und man kann, zumal als Österreicher, noch nicht einmal eine Senkung der Eintrittspreise befürworten, wenn dann der unbeteiligte Steuerzahler das Defizit ausgleichen muss. Wenn Jedermann Simonischek in einer Auftragskomposition von Fabio Vacchi den folgenden Text aus dem 18. Jahrhundert rezitiert, gibt es im Großen Festspielhaus tosenden Applaus: "Hier sind Einige im Besizze des übermässigten Reichtums; dort erliegen Andere unter dem drükkenden Joche der Armuth!" Ob sie anschließend einen "geplagten Neger" zum Abendessen in den Goldenen Hirsch einladen oder ihre Nerze zur Kleidersammlung bringen für jene, die "abhängig und sklavisch, fast Lastentieren gleich" leben?
Was deprimiert: Die journalistische Denkweise, wonach gut sei, was Erfolg hat, ist mittlerweile bei einem am Rand der Festspiele besuchten wissenschaftlichen Symposium angekommen. Weil die Jugend (angeblich) nicht mehr Mozart oder Schönberg höre, müsse, was sie stattdessen konsumiert, positiv bewertet werden. Diesem Verzicht auf ein eigenes Urteil, dieser Anpassung an den herrschenden Geschmack entspricht die Ersetzung überlieferter Festivalstandards durch die Erfordernisse einer Eventkultur.
Da nimmt man es denn auch hin, wenn sich Nikolaus Harnoncourt im letzten Moment vom Dirigat dreier Vorstellungen "entbinden" lässt. Das nährt den Verdacht, dass es nicht darauf ankommt. Hauptsache, die Smokings sitzen.
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