Ein bisschen Duldung

Homosexualität In manchen Stadtteilen trifft man in Cafés nur auf Homosexuelle. Warum begeben sich so viele Schwule freiwillig in ein Ghetto? Beobachtungen in der Motzstrasse in Berlin

Wenn Vegetarier bevorzugt vegetarische Restaurants besuchen, so hat das seinen guten Sinn: Sie können damit rechnen, dass sie dort zu essen bekommen, was in anderen Restaurants nicht unbedingt auf der Speisekarte steht. Wenn Liebhaber von klassischer Musik eher Konzertsäle frequentieren als Discos, so ist das nicht weiter verwunderlich: Sie wissen, wo sie auf ihre Prioritäten treffen. Wenn Radfahrer Routen wählen, auf denen es Radwege gibt, leuchtet das ein: Es erhöht die Überlebenschancen.

Aber was bedeutet es, wenn in den Lokalen bestimmter Viertel von Großstädten, zum Beispiel in der Berliner Motzstraße in Schöneberg, fast ausschließlich homosexuelle Paare sitzen, die es offenbar darauf angelegt haben, als solche identifiziert zu werden? Was bedeutet es, wenn man heterosexuelle Paare in diesen Lokalen nur ausnahmsweise sieht? Sie fallen auf wie eine exotische Vogelart. Das Leben besteht ja nicht nur aus Partnersuche, für Schwule ebenso wenig wie für alle anderen Menschen. Und von Speisegewohnheiten, die sich den sexuellen Vorlieben verdanken, ist nichts bekannt. Es gibt demnach keinen zwingenden Grund für Schwule, in spezielle Restaurants oder Cafés essen und trinken zu gehen.

Wenn also Schwule in signifikanter Zahl und konzentriert Orte aufsuchen, an denen sie unter sich sind, dann kann das nur heißen, dass sie sich dort wohler fühlen als anderswo, negativ formuliert: dass sie sich anderswo nicht wohl fühlen, also verachtet, missbilligt, im besten Fall „nur“ schief angesehen werden. Wenn das zutrifft, ist es nicht weit her mit der viel gerühmten Toleranz. Sie wäre dann tatsächlich bloß, was das Wort eigentlich besagt: Duldung. Ein bisschen wenig. Die Alternative zu dieser Erklärung wäre, dass die Schwulen ihrerseits unduldsam sind gegenüber Menschen, die ihre sexuelle Orientierung nicht teilen, dass sie sich mit ihnen gesellschaftlich nicht „mischen“ wollen.

Wie sonst sollte man erklären, dass in Lokalen in der Motzstraße und überall anderswo sich Paare und Individuen nicht mit jener Selbstverständlichkeit die Plätze teilen, wie es der statistischen Wahrscheinlichkeit entspräche? Wie Brillenträger und Nicht-Brillenträger, wie Menschen mit Mundgeruch und solche ohne Mundgeruch nach einer Zufallsverteilung in Lokalen herumsitzen. Homosexualität wird nicht mehr vom Gesetz verfolgt, und in den Köpfen der Menschen mag sich ihr gegenüber in den vergangenen Jahrzehnten einiges verändert haben. Aber so lange Menschen eines Kollektivs in ein Ghetto gedrängt werden oder sich aus freier Wahl in solch ein Ghetto begeben, darf an der Toleranz unserer Gesellschaft gezweifelt werden. Die Motzstraße drängt dem sonntäglichen Spaziergänger solche Überlegungen auf.

In der Tschechischen Republik, die seit der samtenen Revolution von 1989 als demokratisch gilt, wirbt eine nationalistische Partei für eine „Endlösung der Zigeunerfrage“. Die Wortwahl und die Assoziationen, die sie abruft, sind gewollt. Eine Lösung, gar eine Endlösung ist dort erforderlich, wo es ein Problem gibt. Dass es Menschen gibt, dass man Menschen zur Wahl einer Partei animieren kann, indem man Zigeuner, Juden oder eben Homosexuelle ghettoisiert und zum Problem erklärt, ist eine Bankrotterklärung unserer Zivilisation. Die Cafés in der Motzstraße sind gewiss gemütlicher als die Siedlungen, in denen die tschechischen Zigeuner leben. Doch das Phänomen der Ausgrenzung, und sei sie freiwillig, bleibt sich gleich.

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