Gäbe es in Österreich eine in der Demokratie übliche Streitkultur, dann müsste es möglich sein, einen Menschen wegen einer Äußerung, die man für falsch oder gar für schädlich hält, heftig anzugreifen, und ihm beizupflichten, wenn er in einer anderen Sache Richtiges bemerkt. Es müsste, um ein extremes Beispiel aus der Politik zu nennen, erlaubt sein, Haider und seine Rolle leidenschaftlich abzulehnen und ihm in seiner Skepsis gegenüber der europäischen Bürokratie zuzustimmen. Hat man sich tatsächlich aus der Gemeinschaft der respektablen Mitmenschen herauskatapultiert, wenn man eingesteht, dass Jörg Haider mit seinem Misstrauen gegenüber der EU Recht hatte und Elfriede Jelinek, die den Beitritt Österreichs zur EU öffentlich empfahl, weil sie sich davon eine Modernisierung ihrer Heimat versprach, Unrecht? Als Europa sich tatsächlich, wie einst von Linken erhofft, einmischte, nämlich mit einem Boykott, plädierten plötzlich die meisten Sozialdemokraten für einen Schulterschluss mit der Regierung von Haiders Gnaden.
Die Anhänger der SPÖ sind genauso korrupt wie ihre rechten Pendants
Die Praxis sieht so aus: Selbst jene Haider-Gegner, die große Bedenken gegen den Brüsseler Zentralismus haben, unterdrücken diese in der öffentlichen Debatte, weil sie befürchten müssen, ansonsten den "Freunden" Haiders zugerechnet zu werden. Die "Freunde" Alfred Gusenbauers verschweigen ihre Unzufriedenheit mit dem SPÖ-Parteichef, die "Freunde" Wolfgang Schüssels (ÖVP) reden nicht über den Dissens, den seine Politik bei ihnen hervorruft, zur Sache wird hier wie dort nichts gesagt - und der Leidtragende ist die Demokratie, die es ohne solche Auseinandersetzungen eigentlich gar nicht geben kann. Ein österreichischer Lafontaine erscheint ebenso exotisch wie ein österreichischer Heiner Geißler. Was bedeutet es wohl für die politische Kultur, wenn Sozialdemokraten den schwarzen Kanzler für Maßnahmen attackieren, die sie bei ihrem roten Genossen im benachbarten Deutschland unkritisiert ließen? Was bedeutet es für die politische Kultur, wenn Konservative Schüssel durchgehen lassen, was Merkel an Schröder beanstandet? Wo Taktik für politische Klugheit gehalten wird, bleibt alsbald die Wahrheit auf der Strecke.
Schweigend billigt eine Mehrheit, und zu ihr gehören auch und gerade jene, die sich für Intellektuelle halten, dass Themen, die der Diskussion bedürften, undiskutiert bleiben - dass Unrecht, das vermeidbar wäre, nicht verhindert und nicht gesühnt wird. Man steht in unverbrüchlicher Treue zur Person, pflegt nicht weniger konsequent seine Feindschaften und opfert dem alles überlagernden Konfliktvermeidungsprinzip die Sache - und damit schließlich auch Menschen, die nicht das Glück haben, zum Ensemble der Freunde und Feinde zu gehören.
Kurz: was in Österreich so unerträglich scheint, ist die Unverfrorenheit, mit der man Haltungen und Aussprüche von Repräsentanten der Partei, mit der man sympathisiert, widerspruchslos hinnimmt, während man sie zugleich beim politischen Gegner attackiert. Es geht nie um Positionen, sondern stets nur darum, wer sie äußert.
Wer weiß, wie es ohne den Boykott gegen Österreich gekommen wäre?
In dieser Hinsicht sind Österreichs SP-Anhänger genauso korrupt wie ihre rechten Pendants. Mit Verwunderung lese ich in einem Aufsatz von Armin Thurnher, die "nachdrücklich verhaiderte österreichische politische Öffentlichkeit" erkenne man "an ihren schwachen Reflexen gegen demokratiepolitisch Unzumutbares, an ihrer Bereitschaft zu strukturellem Radikalopportunismus, an ihrer Empfänglichkeit für Populismus und an der Entschlossenheit des Publikums, jederzeit die frechsten Lügen der Politik über deren Absichten und Interessen zu schlucken".
Bei aller Aversion gegen Haider, die ich teile: in welcher Welt hat Thurnher vor Haider gelebt, wenn er nicht wahrgenommen hat, dass alle, buchstäblich alle von ihm benannten Erkennungsmerkmale schon zuvor auf Österreichs politische Öffentlichkeit zutrafen? Gab es etwa heftige Reflexe gegen demokratiepolitisch Unzumutbares wie die Parteibuchwirtschaft, den Proporz oder die Integration der Nationalsozialisten in die großen Parteien?
Was, wenn nicht "Bereitschaft zu strukturellem Radikalopportunismus" bedeutete der Eintritt in eine Partei, gelegentlich sogar in zwei Parteien, um eine Wohnung, einen guten Job, diverse Privilegien zu erlangen? War es nicht der sozialdemokratische Wiener Bürgermeister, der mit der Empfänglichkeit für Populismus kalkulierte, als er Ausländern den Einzug in Gemeindewohnungen verweigerte? Und was die Lügen der Politik über deren Absichten und Interessen betrifft - da hat "das Publikum" über Jahrzehnte hinweg weit mehr geschluckt, als auf die sprichwörtliche Kuhhaut passt. Vor der vorletzten Nationalratswahl kündigte der ÖVP-Vorsitzende Schüssel an, seine Partei werde in die Opposition gehen, wenn sie nur als drittstärkste bei der Wahl reüssiere. Die ÖVP wurde drittstärkste Partei, und Schüssel war wenige Wochen danach Bundeskanzler. Bei der letzten Nationalratswahl kündigte SPÖ-Chef Gusenbauer an, seine Partei werde in die Opposition gehen, wenn sie nur als zweitstärkste bei der Wahl reüssiere. Die SPÖ wurde zweitstärkste Partei, und Gusenbauer drängte wenige Tage später auf exklusive Koalitionsverhandlungen mit der regierenden ÖVP. Hat Thurnher das vergessen? Ist das alles und viel mehr der Verhaiderung anzulasten?
Armin Thurnher ist Chefredakteur des einstmals "alternativen" Wiener Stadtmagazins Falter. Mittlerweile kann er sich als Alternative nur noch die SPÖ denken. Thurnher ist in seinen Begriff der "Verhaiderung" und in die durch ihn implizierte Personalisierung der Politik dermaßen verliebt, dass er ihn seit Jahren ständig wiederholt wie die Werbung einen Markennamen. Haider aber ist nicht die Ursache dessen, was Thurnher mit Verhaiderung bezeichnet, sondern ihr Produkt. Er ist die Sumpfblüte einer total verächtlichen, zutiefst undemokratischen politischen Geschichte, die von den großen Parteien nach 1945 zu verantworten war. Nicht zufällig rekrutierten sie einen großen Teil ihrer Funktionäre und Vordenker aus dem Reservoir der gestrandeten Nationalsozialisten.
Ich gehöre zu jenen, die seinerzeit für den Fall einer Regierungsbeteiligung der FPÖ die Katastrophe prognostiziert haben. Es hat sich seither vieles zugespitzt, viele asoziale Maßnahmen sind in ihrer menschenverachtenden Dimension erkennbarer geworden, aber die Katastrophe ist ausgeblieben. Nur insofern also, als die von Haider ausgehende Gefahr überschätzt wurde, war der Boykott gegen Österreich ein Fehler. Aber wer weiß, wie es ohne diesen Boykott gekommen wäre. Es ist jedenfalls Zeit, neu über Haider und das, was er repräsentiert, nachzudenken. Die Spezifik der bürgerlichen Koalition in Österreich lässt sich nur dann beschreiben und analysieren, wenn man all jene Missstände isoliert, die nicht genauso bei der rot-grünen Koalition in Deutschland oder im Labour-England Tony Blairs anzutreffen waren, die also übergeordnete Ursachen haben. Der Rest allenfalls geht aufs Konto der "Verhaiderung".
Die geringen Unterschiede in der Politik von Sozialdemokraten, Konservativen und wechselnden Haider-Parteien, die alle rechnerisch möglichen Koalitionen dieser sich zum Schein bekämpfenden Brüder im Geiste des Neoliberalismus zulassen, bestätigen die These, wonach die Politik sich so sehr in die Abhängigkeit von Industrie und Global Players begeben hat, dass sie kaum noch Handlungsspielraum hat. Die einzige wirkliche Alternative zur Verhaiderung jeglicher Couleur ist eine politische Kraft, die der Wirtschaft Paroli bietet, die die Privatisierungsmaßnahmen schleunigst stoppt und rückgängig macht, die den gewählten und damit absetzbaren Volksvertretern die Macht zurückerstattet, Politik zu gestalten.
Eine solche politische Kraft aber ist in Österreich nicht zu erkennen. Und weit und breit kein Thurnher, der sie als nicht nur demokratiepolitisch zumutbar, sondern als unumgänglich propagierte.
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