Einsam und traurig

Helden Thomas Bernhard und Lermontow-Spuren einer entfernten Verwandtschaft

Im Vorwort zur zweiten Auflage seines bekanntesten Werks, Ein Held unserer Zeit, beklagt sich Michail Jurjewitsch Lermontow: "Unser Publikum gleicht dem Provinzler, der aus der Unterhaltung zweier Diplomaten einander feindlich gesinnter Höfe die Überzeugung gewinnt, dass sie der gegenseitigen zärtlichsten Freundschaft zuliebe ihre Regierung betrügen." Und er mokiert sich über jene Leser, die sehr feinsinnig bewiesen, "der Verfasser habe sich und seine Bekannten porträtiert..."

Thomas Bernhard, der am 9. Februar dieses Mozart-Jubeljahres, wäre er nicht bereits seit 17 Jahren tot, seinen 75. Geburtstag gefeiert hätte, war mit dem hier angesprochenen Problem vertraut. Ein Leben lang hat man ihn mit seinen Figuren verwechselt, ihn für deren Ansichten verantwortlich gemacht. Ganz schuldlos ist er an dieser provinzlerischen Rezeption nicht. Die Ähnlichkeit seiner im engeren Sinne autobiographischen Bücher mit seinen Fiktionen, auch seine Formulierungen in Interviews haben solcher Missdeutung Vorschub geleistet.

Thomas Bernhard erwähnt sowohl in seiner erzählenden, wie in seiner dramatischen Literatur immer wieder Namen russischer Schriftsteller: Dostojewski, Tolstoj, Lermontow, Majakovksij, insbesondere auch die anarchistischen Denker Kropotkin, Bakunin. Diese Erwähnungen dürfen jedoch nicht als Hinweise auf einen direkten Einfluss gewertet werden. Man kann noch nicht einmal aus den literarischen Vorlieben einer Bernhardschen Figur auf seine eigenen Prioritäten schließen, aber manches spricht dafür, dass er viele literarische Wertungen seiner Protagonisten teilt.

Lermontow, obwohl mehrfach übersetzt, gehört heute nicht zu den russischen Schriftstellern, die man selbst bei belesenen Deutschen als bekannt voraussetzen darf. Sein Werk ist schmal, aber nicht nur von großer Bedeutung für die russische Literaturgeschichte, sondern auch von erstaunlichem psychologischem Scharfblick und von überraschender Modernität.

Lermontow wurde am 15. Oktober 1814 in Moskau geboren. Er hat Lyrik, erzählende Prosa und das Drama Maskerade geschrieben. Er fiel 26-jährig am 27. Juli 1841 in einem Duell. Als sein vielleicht bedeutendstes Werk kann der anfangs zitierte Roman Ein Held unserer Zeit gelten, der aus mehreren in einander verschachtelten Erzählungen besteht. Mit dessen zentraler Figur Petschorin hat Lermontow den Typus des so genannten "überflüssigen Menschen" literarisch unübertrefflich gestaltet. Die Bedeutung dieses Typus für die russische Literatur von Puschkins Eugen Onegin über Gontscharow, Turgenjew, Dostojewski und Tschechow bis in die Gegenwart, kann gar nicht überschätzt werden. Was sie mehr als alles andere charakterisiert, ist die "Langeweile", was man französisch "ennui" nennt, eine gewisse Blasiertheit. Es gibt dafür soziologische Erklärungsansätze, auch literarische Moden spielen eine Rolle. Lord Byron diente ganz Europa zeitweise als Vorbild. Melancholie kennzeichnet auch die deutsche Literatur der Epoche, man denke etwa an Mörike, Lenau oder Grillparzer. Die Namensgebung des Helden unserer Zeit enthält übrigens eine Anspielung auf Onegin: Petschora und Onega sind beide nordrussische Flüsse.

Es gibt auch deutsche Schriftsteller, allen voran Novalis, auf die Thomas Bernhards Figuren immer wieder positiv Bezug nehmen. Es dürfte aber nicht ganz abwegig sein, eine Passage aus dem großen Roman Auslöschung als Beleg dafür zu nehmen, was Bernhard an der russischen und auch an der französischen Literatur im Vergleich zur deutschen schätzte. In dieser Passage nennt der Erzähler die deutsche Literatur "eine von Leitzordnern unterdrückte", "eine lächerliche Büroliteratur, die von Leitzordnern diktiert ist", "eine kleinbürgerliche Beamtenliteratur". Diese "Leitzordnerliteratur", zu der ausdrücklich Thomas Mann und Robert Musil gerechnet werden, von der aber (der tatsächliche Büroangestellte) Kafka ebenso ausdrücklich ausgenommen wird, gehöre "in den Abfalleimer der Literaturgeschichte".

Durch seinen Onkel Georg war der Erzähler von Auslöschung zum Lesen gekommen. Die ersten Bücher, die er sich gekauft habe, seien Heinrich von Ofterdingen und Johann Peter Hebels Kalendergeschichten gewesen. "Von da bis zu Kropotkin und Bakunin war es noch weit, hatte ich zu Gambetti gesagt, zu Dostojewski, Tolstoi, Lermontow, den ich über alles liebe." Lermontow wird übrigens auch in anderen Büchern Bernhards, zum Beispiel in Amras, mehrfach genannt.

Weitaus weniger als der Erzähler und Dramatiker ist der Lyriker Thomas Bernhard bekannt. Man findet bei ihm Gedichte, die sich zwar nicht in ihrer Form, wohl aber in ihrer Stimmung mit solchen von Lermontow vergleichen lassen. Die hier zitierten Gedichte Lermontows gehören zu seinen bekanntesten, jeder russische Schüler kann sie auswendig. Die erwähnten Gedichte von Thomas Bernhard stammen aus dem Band Unter den Eisen des Mondes von 1958.

Das Segel ist aus dem Jahr 1832 und wurde von Heinrich Greif ins Deutsche übertragen. Es beginnt mit zwei rhetorischen Fragen: "Wo Meer und Himmel sich vereinen,/ Erglänzt ein Segel, weiß und weit -/ Was trieb es aus dem Land der Seinen? Was sucht es in der Einsamkeit?" Ähnlich melancholisch beginnt ein titelloses Gedicht von Bernhard: "Bevor der Winter mich überfällt/ hinter den feindlichen Höfen/ die ihre Musik mit Schnee zudecken und süßem Rauch..."

Lermontows Und einsam und traurig ist von 1840 und ins Deutsche gebracht von Barbara Heitkam. Es hebt unvermittelt an: "Und einsam und traurig, und niemand steht helfend bereit,/ Im Leide die Hand dir zu reichen..." Ein Gedicht Bernhards fängt an mit einem am Anfang von zwei weiteren Strophen wiederholten Vers: "Meine Verzweiflung kommt um Mitternacht/ und schaut mich an als wär ich lange tot". Der Schluss von Lermontows Gedicht lautet: "Das Leben, wie kühl und bedächtig man um sich auch blickt,/ Ist nichts als ein Scherz nur, so leer und so nichtig..."

Einsam tret ich auf den Weg, den leeren wurde 1841 geschrieben. Diese Übersetzung stammt von Rainer Maria Rilke. "Einsam tret ich auf den Weg, den leeren,/ Der durch Nebel leise schimmernd bricht;/ Seh die Leere still mit Gott verkehren/ Und wie jeder Stern mit Sternen spricht." Ein weiteres Gedicht von Thomas Bernhard beginnt so: "Kein Baum und kein Himmel/ wird dich trösten,/ auch nicht das Mühlrad/ hinter dem Krachen des Tannenholzes,/ kein sterbender Vogel,/ nicht die Eule und nicht das rasende Rebhuhn". Lermontows Sterne kommen auch in Bernhards Gedicht vor, und seinem "Baum" entspricht bei Lermontow eine "immergrüne Eiche".

Solche Vergleichbarkeiten finden sich auch im erzählenden Werk der beiden Dichter. In Bela, der einleitenden Erzählung von Ein Held unserer Zeit, wird dieser "Held" Petschorin charakterisiert. Er sagt - in der Übersetzung von Günther Stein - von sich selbst: "Da überkam mich Langeweile... Ich wurde bald darauf in den Kaukasus versetzt, das war die glücklichste Zeit meines Lebens. Ich hoffte, mir würde die Langeweile unter dem Kugelregen der Tschetschenzen vergehen. Vergebens. Nach einem Monat hatte ich mich so an ihr Pfeifen und an die Nähe des Todes gewöhnt, dass ich wahrhaftig mehr auf die Mücken achtete - und ich langweilte mich ärger denn je, weil ich beinahe meine letzte Hoffnung verloren hatte."

Das Motiv der "gähnenden Leere" in Thomas Bernhards Auslöschung erinnert an Lermontow: "Drehst du dich nach dem Vergangenen um, schaust du nur in die gähnende Leere hinein, dachte ich, schaust du das Gestern an, ist es schon nicht mehr als nur die gähnende Leere, dachte ich, selbst wenn du in den gerade verlebten Augenblick zurückschaust, schaust du nurmehr noch in die gähnende Leere."

Im Glenn-Gould-Roman Der Untergeher wird über den Charakter des Freundes Wertheimer gesprochen. "Tatsächlich könnte ich ja sagen, er war zwar unglücklich in seinem Unglück, aber er wäre noch unglücklicher gewesen, hätte er über Nacht sein Unglück verloren, wäre es ihm von einem Augenblick auf den anderen weggenommen worden, was wiederum ein Beweis dafür wäre, dass er im Grunde gar nicht unglücklich gewesen ist, sondern glücklich und sei es durch und mit seinem Unglück, dachte ich." Ein Lermontowscher Held unserer Zeit? "Möglicherweise müssen wir davon ausgehen, dass es den sogenannten unglücklichen Menschen gar nicht gibt, dachte ich, denn die meisten machen wir ja erst dadurch unglücklich, dass wie ihnen ihr Unglück wegnehmen." Weitere Stellen, etwa aus Beton oder aus Verstörung, ließen sich mühelos zu Lermontow in Beziehung setzen.

In der ersten Szene von Thomas Bernhards Jagdgesellschaft sagt der "Schriftsteller": "Fortwährend lese ich/ wie Sie wissen Lermontow/ ... Zwei Stunden Lermontow/ und dann wieder zwei Stunden Lermontow". In der letzten Szene des Stücks liest der Schriftsteller, wie zum Beleg, eine längere Passage aus Lermontows Erzählung Der Fatalist - aus Ein Held unserer Zeit - vor. Freilich: nur Provinzler meinen, "der Verfasser habe sich und seine Bekannten porträtiert ..."


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