Der humanistische Kern, der dem Sozialismus, im Gegensatz zum Nationalsozialismus, eignet und bei aller Verunstaltung nie ganz in Vergessenheit geriet, kennzeichnet auch die Literatur der DDR. Und niemand, außer vielleicht Jurek Becker, steht so sehr für diese humanistische Haltung wie Christa Wolf. Da sie in diesen Tagen ihren 75. Geburtstag feiert, wird man zu hören und zu lesen bekommen, dass sie die bedeutendste lebende deutschsprachige Schriftstellerin sei, als handle es sich bei Literatur um eine Olympiade, als ginge in dieser Welt der Konkurrenz nichts mehr ohne Ranglisten. Diskret werden sich jene zurückhalten, die der jedenfalls bekanntesten DDR-Schriftstellerin ihrer Generation noch vor einem Jahrzehnt nicht nur politisch, sondern auch in Hinblick auf ihr Talent in beleidigender Weise am Zeug flickten. Denn Christa Wolf war es nicht gegönnt, einfach auf Grund der Qualitäten ihrer Werke beurteilt zu werden wie amerikanische oder französische Kollegen. Die Zeitgeschichte ließ das nicht zu. Und so wurde sie, im Guten wie im Bösen, immer wieder instrumentalisiert für Ziele, die die ihren nicht waren.
Die offizielle DDR propagierte sie als bedeutende Repräsentantin ihrer Literatur, wenn sie sie nicht gerade wegen Unbotmäßigkeiten rügte. Die westliche Kritik, die nach jeder Spur von Opposition schnüffelte, missbrauchte sie als Zeugin gegen die DDR, nur um sie gleich nach der "Wende" als angebliche Kollaborateurin des Systems zu denunzieren. Die Frauenbewegung sah in ihren Büchern seit Kassandra einen Beleg für weibliche Sicht- und Schreibweisen. All dies verstellte bloß den Blick auf die Tatsache, dass Christa Wolf in ihren Romanen und Erzählungen Strukturen und stilistische Verfahren realisiert hat, die ihr Werk aus dem Mittelmaß der Massenproduktion herausragen lassen.
Christa Wolf gehört zu den belesenen Schriftstellerinnen. Mehr noch: aus ihrem im vergangenen Jahr erschienenen Tagebuch erfahren wir, mit welcher Anteilnahme sie sich für die Arbeit der Kollegen, auch aus der vorausgegangenen und der nachfolgenden Generation interessiert. Derlei ist unter Schriftstellern keineswegs selbstverständlich und hatte wohl unter anderem mit der Situation in der DDR zu tun. Aufschlussreich ist dabei Christa Wolfs Ostblick auf die Westler, etwa wenn in ihr der Verdacht auftaucht, Uwe Timm könne zu "links" sein, um ihre Kassandra zu loben. Angst vor der Linken selbst bei jenen, die sich der Linken zurechnen? Kein Wunder, dass die Konservativen leichtes Spiel hatten und haben.
Das Interesse Christa Wolfs für Kolleginnen und Kollegen unterscheidet sich nicht grundsätzlich von ihrem Interesse und einer ganz unzeitgemäßen Empathie für Menschen überhaupt. Ob sie über Freunde aus dem realen Leben schreibt wie in ihrem vielleicht ergreifendsten Buch Nachdenken über Christa T., ob sie Figuren der Mythologie und der Literatur wie Kassandra oder Medea psychologisiert, als wären sie real - niemals gewinnt man den Eindruck, dass sie ihr lediglich Material sind, Konstrukte, die erzählerischen Techniken zur Verfügung stehen. Wir wollen nicht missverstanden werden: Was wir hier beschreiben, ist nicht Bedingung guter Literatur. Deren Möglichkeiten sind vielfältig und sollen es bleiben. Aber es kennzeichnet die erwähnte humanistische Haltung, die auch jenseits der Literatur in einer kälter gewordenen Welt immer unverzichtbarer wird. Nur Zyniker können sie als sentimental oder "politisch korrekt" denunzieren.
Man hat Christa Wolf gelegentlich Dogmatismus attestiert. Man lese, wie sie den gewiss unverdächtigen Erich Fried anlässlich seines 65. Geburtstags gegen die unlogischen Anklagen und maßlosen Aggressionen einer Feministin verteidigt hat, jenen Erich Fried, der selbst zunehmend auf schamlose Weise instrumentalisiert wird und sich noch nicht einmal wehren kann, weil er tot ist. Christa Wolf hat begriffen, dass die Ausgrenzung, gegen die sich ein großer Teil ihrer Prosa wendet, ein Übel ist, von dem Frauen bevorzugt, aber keineswegs allein betroffen waren und sind.
Es dürfte wenig Titel neuerer literarischer Werke geben, die so häufig zitiert werden wie Kein Ort. Nirgends. Diese typographisch wie grammatisch irritierende, enigmatische Formulierung, die im gegebenen Kontext in eine entferntere Vergangenheit verweist, bringt offenbar ein Lebensgefühl auf den Begriff, das viele Zeitgenossen mit Christa Wolf teilen. Kein Ort? Nirgends? In einer Wiener Rede von 1985 hat ihn Christa Wolf entdeckt. "Die Kunst ist heute wohl der einzige Ort, zugleich beinahe das einzige Erprobungsfeld für die Vision von ganzheitlichen menschlichen Wesen."
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.