Fluchtpunkt Nation

Deutsche Interessen Wofür und gegen wen?

Die Grünen haben in vielerlei Hinsicht enttäuscht. Fast alle ursprünglich unverzichtbaren Positionen wurden, wenn es der Erhalt der Macht zu erfordern schien, preisgegeben. Nur in einem blieben sich die Grünen treu: in der Konzeption einer multikulturellen Gesellschaft. Deutschtümelnde Spinner blieben bei ihnen eine Episode der frühen Jahre.

Bei den Christdemokraten hingegen, wie auch bei den Sozialdemokraten erklingen periodisch - zumal, wenn das Wählerpotenzial von NPD und DVU Begehrlichkeiten weckt und Stimmen, nicht Inhalte zählen - nationalistische Töne. Es sind keine Ausrutscher, keine Beiläufigkeiten von Randfiguren, sondern massive, im Zentrum geplante Kundgebungen, die nicht selten in eine Kampagne münden.

Nationalismus ist ja nicht von vornherein etwas Böses. Er lässt sich nicht ahistorisch bewerten. Der Nationalismus in Europa hatte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine andere Bedeutung als an der Wende zum 20. Jahrhundert. Der Nationalismus kleiner Staaten, die sich gegen die politische und wirtschaftliche Dominanz mehr oder weniger streitbarer Großmächte wehren müssen, ist anders zu beurteilen als der Nationalismus dieser Großmächte, der Nationalismus von Kolonialvölkern anders als jener der Kolonialherren. Die gegen den Habsburgischen Zentralismus und die Hegemonie der deutschsprachigen Bürokratie gerichteten nationalen Bewegungen in Böhmen oder Ungarn um 1848 lassen sich ebenso wenig als reaktionär einstufen wie die nationalistischen Unabhängigkeitsbewegungen des 20. Jahrhunderts in Afrika oder Asien.

Der Nationalismus in unserer Zeit ist deshalb so gefährlich, weil er stets mit Chauvinismus verknüpft ist. Wer heute in Deutschland nationalistische Töne anschlägt, argumentiert nicht für, sondern gegen etwas, insbesondere gegen Menschen, die sich einem nationalistischen Verständnis von Deutschtum, einer "Leitkultur" nicht eingliedern lassen. Vom Chauvinismus aber bis zur Aggression ist es nur ein Schritt. Und die deutsche Geschichte der vergangenen 70 Jahre lässt sich nicht einfach ignorieren, wenn in diesem Land von Nationalismus die Rede ist. Direkte Vergleiche mit anderen Staaten verbieten sich. Auch der 3. Oktober hat übrigens eine grundsätzlich andere Bedeutung als der 14. Juli.

Auf dem Parteitag der CSU verkündete jüngst die Gastrednerin Angela Merkel, die CDU/CSU arbeite "für deutsche Interessen, für unsere Arbeitnehmer in unserem Land". Wenn die CSU ebendort die Angst artikulierte, Zuwanderer könnten sich, statt Arbeitsleistungen zu erbringen, Sozialleistungen erschwindeln, so besteht zwischen diesen beiden Statements ein Zusammenhang. Gesetzt den Fall, es gäbe eine signifikante Zahl zugewanderter "Sozialschmarotzer": Was wäre daran so schlimm? Wie christlich sind Parteien, die so gern auf das C in ihrem Namen verweisen, wenn ihnen angebliche "deutsche Interessen" wichtiger sind als Nächstenliebe? Wie sozialdemokratisch ist eine Partei - da auch aus ihren Reihen ähnliche Äußerungen zu vernehmen sind -, die das Prinzip der Solidarität verabschiedet, wenn jene, die ihrer bedürfen, keine Deutschen sind? Wer sich über horrende Managergehälter empört, begegnet schnell dem Vorwurf des Neids. Der groteske Neid auf die Zuwanderer aus den Armenhäusern der Welt aber ist gesellschaftsfähig. Bei Christen wie bei Sozialdemokraten.

Was kann es den reichen Ländern ausmachen, wenn sie einem kaum messbaren Anteil der wirklich armen Weltbevölkerung etwas abgeben? Und was die "deutschen Interessen" angeht: Wenn die reichen Völker schon nicht aus Einsicht christlich und solidarisch handeln, so sollten sie es aus eigenem Interesse tun. Denn verglichen mit dem weltweiten Konflikt, den die Gleichgültigkeit gegenüber der Armut mit Notwendigkeit heraufbeschwört, sind zwei Flugzeuge in Wolkenkratzern ein Klacks.

Auf den ersten Blick scheint die unübersehbare Renaissance des Nationalismus in Deutschland eine Reaktion auf die Globalisierung zu sein. In Wahrheit gehen Nationalismus und Globalisierung gut zusammen. Einem Nationalismus der Worte entspricht eine Globalisierung der Praxis, weil die Praxis längst nicht mehr von der Politik, sondern von der Wirtschaft bestimmt wird. Und die Interessen der Wirtschaft sind niemals von vornherein "deutsche Interessen", sondern stets die Interessen der Wirtschaft. Die sind nicht einheitlich. Wer vorwiegend auf den Binnenmarkt angewiesen ist, mag deutschen Interessen, die ihrerseits keineswegs einheitlich sind, entsprechen. Die Macht jedoch haben jene, die als Global Players auf dem internationalen Parkett mitspielen. Sie brauchen Angela Merkels Reden nicht. Die stören sie freilich auch nicht. Sie wissen: Frau Merkel redet, das Sagen aber haben sie.

In der FAZ meinte Karl Feldmeyer: Dass Merkel die Entwicklung der EU nicht als Selbstzweck sehe, sondern aus dem "deutschen Interesse" rechtfertige, sei neu. Neu ist lediglich, dass es so unverblümt ausgesprochen wird. Wenn in Deutschland von der EU-Erweiterung die Rede war, betonten deren Befürworter stets, dass die Deutschen davon keinen Schaden hätten, dass sie nur gewinnen. Wenn das so ist - wer sind die Verlierer? Ist, was für "uns" gut ist, immer auch gut für die anderen? Ist der Verdacht abwegig, dass in deutschen Phantasien von einem mächtigen Europa immer schon großdeutsche Vorstellungen mitschwangen, die man nach 1945 so unverhohlen nicht mehr aussprechen kann, wie sich hinter der Mitteleuropa-Euphorie vieler Österreicher nichts anderes verbirgt als eine historisch längst überholte habsburgische Weltbetrachtung? Die Wahrheit ist: Solange eine deutsche Putzfrau in einem polnischen Haushalt nicht ebenso selbstverständlich ist wie eine polnische Putzfrau in einem deutschen Haushalt, herrscht in der EU lediglich ein moderner Kolonialismus.


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