Die herrschende Ideologie der Einsparung und des Entertainment fordert auf dem Gebiet der Künste im Allgemeinen und der Literatur im Besonderen ein Entgegenkommen, das dem Leser die geringste denkbare Anstrengung abverlangt. Das ist der Hintergrund für den Erfolg von Kinderfernsehsendungen und -literatur bei gestandenen Erwachsenen. Der Verführung, vom Boom der Literatur für Halbanalphabeten zu profitieren, erliegen auch viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die anders könnten. So entsteht, durch die Anpassung an einen ökonomisch gewollten Kurs, ein scheinbar von Götterhand gelenkter Trend. Man erzeugt jene allgegenwärtige Trivialität, deren Vordringen man zu beobachten behauptet. Was Radio und Kino vorgemacht haben, ist längst auch in die Literatur vorgedrungen.
In der deutschen Literatur war es allen voran Arno Schmidt, der nach 1945 Widerstand leistete gegen eine mühelos konsumierbare Erzähleuphorie. Er hat nur wenig Nachfolger gehabt. Reinhard Jirgl hat diese Tradition - wie man hört: ohne direkten Bezug zu Arno Schmidt - aufgenommen und führt sie mit seinem jüngsten Roman fort. Das offenbart sich auch hier wieder bereits im Schriftbild, zu dem er in seinem Buch Gewitterlicht komplexe Überlegungen notiert hat. Es nötigt den Leser zur Langsamkeit, staut den Lesefluss, statt ihn zu beschleunigen, zwingt zum Anhalten, lenkt die Aufmerksamkeit auf das einzelne Wort, die Phrase, und unterminiert damit eine bloß auf das Inhaltliche fixierte Rezeption.
Dass diese (immer noch und wieder) avantgardistische Schreibweise mit der Thematik der Großstadt kollidiert, ist wohl kein Zufall. Der wahrscheinlich bedeutendste deutsche Roman des 20. Jahrhunderts, Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz hat dafür den Weg gewiesen. Der Komplexität der modernen Großstadt kann nur eine komplexe Darstellung gerecht werden. Von Döblin hat Jirgl die Montagetechnik übernommen. Eingefügt in den Text sind Kästchen mit Passagen, die eigentlich auf andere, ausdrücklich benannte Seiten des Romans gehören. Das ergibt ein Verweissystem, das zum nichtlinearen Lesen, zum Vor- und Zurückblättern ermuntert. Jirgl selbst spricht von den Einschüben als "Links" und mahnt damit an das Internet, dessen Techniken freilich für seinen Roman analog funktionieren wie die Techniken des Stummfilms seinerzeit für Döblin oder auch Dos Passos.
Der Roman ist zunächst in der Ich-Form geschrieben. Aber die Sprache imitiert nicht die Sprech- oder Schreibweise eines Journalisten, der - in Norddeutschland auf dem Lande aufgewachsen - nach Berlin kommt. Sie verselbständigt sich, wie auch der eher angedeutete als forcierte Handlungsfaden keiner realistischen Erzählstrategie folgt, sondern sich zu immer neuen Abschweifungen und Assoziationsclustern verknüpft. Bei Dialogen verzichtet Jirgl ebenfalls auf die Charakterisierung der oder des Sprechenden durch deren Rede. Die Ich-Erzählung wird unterbrochen von Kapiteln, die den Charakter von Aufzeichnungen oder Protokollen haben. An einer Stelle ist von "Notizen Schreibheften" die Rede.
Nach mehr als 200 Seiten, ziemlich genau in der Mitte des Romans, drängt sich ein zweiter Lebenslauf, wie er nur in der DDR sich ereignen konnte, mit Nachdruck in den Roman, diesmal erzählt in der dritten Person. Die Figur verschwindet aus dem Roman und taucht an anderer Stelle unvermutet wieder auf. Zusammenhänge werden nicht ausgewiesen. Der Leser kann, muss sie aber nicht herstellen. Jirgls Roman ist ein Steinbruch, aus dessen Brocken sich eine Skulptur hauen kann, wer will. Er quillt über mit Erzählungen aus der Berliner Wirklichkeit, mit historischen Rückgriffen, mit philosophischen Einsichten, mit essayistischen Ansätzen, und eine veritable Liebesgeschichte kommt auch vor. Die Frau trägt den Namen Sophia, und das heißt bekanntlich: Weisheit. Alles frei zur Entnahme.
Ein vergleichbares Buch aus der deutschen Literatur der vergangenen Jahre dürfte nicht zu finden sein. Eher schon erinnert Jirgl an einen 1998 auf Deutsch erschienenen rumänischen Roman, an Dumitru Tsepeneags Hotel Europa. Mit Abtrünnig scheint die einheimische Literatur in einem vereinten Deutschland angekommen zu sein, in dem die Herkunft des Autors aus der DDR oder aus der alten Bundesrepublik keine Rolle mehr spielt. Die Unterscheidung von Ossis und Wessis wird hier überflüssig. Das haben sich manche Beobachter der Literaturszene, die eher in politischen als in ästhetischen Kategorien denken, seit langem gewünscht: den gesamtdeutschen Roman. Ob das tatsächlich eine Bereicherung bedeutet oder eine Vereinheitlichung, also eine Verarmung, sei dahingestellt. Aufzuhalten ist diese Entwicklung über kurz oder lang ohnedies nicht. Die nächste Schriftstellergeneration wird zu den zwei deutschen Staaten, ihren unterschiedlichen historischen Erfahrungen, ihren je eigenen kulturellen Besonderheiten ein ähnlich distanziertes Verhältnis haben wie die Generation Jirgls zur Weimarer Republik. Da lebte Alfred Döblin und schrieb Berlin Alexanderplatz. Dieses Meisterwerk, immerhin, existiert fort in einer Literatur, die ihr Geschichtsbewusstsein noch nicht an Harry Potter verpfändet hat. Das macht Mut, auch für die Zukunft.
Reinhard Jirgl: Abtrünnig. Roman aus der nervösen Zeit. Hanser, München 2005,
544 S., 27,90 EUR
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