Ich bekenne: Ich esse gern. Und ich esse gerne gut. Innerhalb meiner finanziellen Möglichkeiten hat ein gelegentlicher Besuch in einem teuren Restaurant eine höhere Priorität als, sagen wir, ein neuer Wintermantel oder die Benützung eines Taxis anstelle eines öffentlichen Verkehrsmittels. In der Generation meiner Eltern galt es unter Linken als unanständig, das Essen zu wichtig zu nehmen. Das schlechte Gewissen in einer Welt, in der zwei Drittel der Menschen hungern, verbat die Fetischisierung des Luxus, und im alltäglichen politischen Kampf gab es anderes zu bereden als die Leistungen eines Küchenmeisters. Heute ist das Desinteresse an gutem Essen ja keineswegs eine Garantie für soziales Verantwortungsgefühl und politische Aktivität. Und wer sich mal einen überbezahlten Restaurantbesuch leistet, ist deshalb nicht von vornherein reaktionärer als der Liebhaber von Seidenhemden. Der permanente Skandal namens Wolfram Siebeck besteht ja nicht darin, dass auch der Berufsesser und Gastronomiekritiker für sich diese Prioritäten setzt, sondern in der arroganten Verachtung für alle jene, die seine Vorliebe nicht teilen. Dahinter verbirgt sich nur mühsam ein großbürgerlicher Standesdünkel. Ein Schalke-Fan mag sich darüber wundern, dass es Leute gibt, die sich für Fußball nicht interessieren. Er wird aber nicht unaufhörlich seinen Spott über sie ergießen, als gehöre der Fußballgenuss zur Legitimation des guten Geschmacks.
Dass ich gerne esse, ist also meine Privatsache, die ich mit einigen anderen gemeinsam habe, denen eine Kritik der aktuellen Gault Millaus für Deutschland, Österreich und die Schweiz von Nutzen sein mag. Dies vorweg: Von den zahlreichen Restaurantführern für die genannten Länder ist der Gault Millau der informativste und zuverlässigste. Kritik betrifft Nuancen. Die anderen Führer sind entweder zu exklusiv (Michelin) oder offenbar über Jahre hinweg durch gute Beziehungen einzelner Gastronomen zu den Testern im Urteil verzerrt (Feinschmecker, A-La-Carte). Punktesysteme laden zum Vergleich ein. Grundsätzlich scheint die österreichische Gault Millau-Redaktion strenger zu sein als die deutsche (vielleicht auch, weil das gastronomische Niveau, vor allem im Mittelfeld, in Österreich generell höher liegt als in Deutschland).
Als Indikator für das politikbedingte Aufblühen der Berliner Gastronomie mag die Tatsache gelten, dass Mathias Buchholz vom First Floor im Hotel Palace zum Koch des Jahres gekürt wurde und erstmals 18 Punkte erhielt. Zu Recht wurde auch der Landgasthof Adler in Rosenberg aufgewertet, wo man eine der originellsten Küchen in einem der originellsten Ambientes Deutschlands genießen kann, wenn man den Weg in den etwas abseits gelegenen Ort zwischen Ellwangen und Schwäbisch Hall findet. Dasselbe gilt für den Hirschen in Fellbach, der erstmals 16 Punkte bekam. Manchmal freilich stimmen die Relationen nicht. Da Gianni in Mannheim bietet erstklassige Küche. Aber dass sie zwei Punkte mehr verdient als Doblers Restaurant L'Epi d'or, kann man nicht bestätigen. Und dass Da Gianni gleich fünf Punkte über Stuttgarts La Sacala liegt, erregt den Verdacht, dass sich die Tester, beeindruckt vom Aufwand des Service, nicht mehr auf ihre Geschmacksnerven verlassen. Auch Berlins Vau ist mit 17 Punkten überbewertet. Mehr bekam auch Stuttgarts Spitzenkoch Martin Öxle nicht. Grundsätzlich häufen sich, trotz Berliner Boom, die Hauben südlich des Mains. Ob Heinz Winkler in Aschau freilich immer noch zu den sechs besten Köchen Deutschlands gehört, lässt sich diskutieren.
Bewegung muss sein. Findet sie nicht statt, muss sie suggeriert werden. Wer käme ansonsten auf die Idee, sich Jahr für Jahr einen nicht eben billigen Fressführer zu kaufen. Nicht weniger als 110 Aufsteiger registriert daher der neue Gault Millau für Österreich. Umso mehr verwundert die Abwertung von Rudolf Grabners Restaurant in Gmunden, das nicht nur durch seine einfallsreiche Küche, sondern auch durch ein verblüffendes Preis-Leistungs-Verhältnis besticht. In Graz ist Franz Schauer, einer der Besten in der steirischen Hauptstadt, im Hotel Wiesler, um einen Punkt abgewertet, wieder aufgetaucht. Sissy Sonnleitners Kellerwand in Kötschach-Mauthen wurde die längst fällige dritte Haube leider immer noch vorenthalten. Ihre Küche, eine der originellsten in Österreich, verdient auch ohne Sympathiebonus mindestens den siebzehnten Punkt. Auch beim österreichischen Guide gilt, dass die Noten bisweilen von Äußerlichkeiten beeinflusst zu sein scheinen. Wer in Salzburg gut und preiswert essen will, wird den anlässlich eines Wechsels in der Küche (warum bloß?, der beschreibende Text liefert keinen Anhaltspunkt) um einen Punkt abgewerteten 15-Punkte-Purzelbaum dem 18-Punkte-Pfefferschiff vorziehen. Und bei allem Respekt vor Gehrer im Wiener Korso (wo man neuerdings ohne Krawatte und Sakko keinen Zutritt findet) und vor Wörther in Zell am See: dass sie vier Punkte und zwei Hauben besser kochen sollen als etwa der bescheidene Hohenberger im St. Gillgener Timbale, will nicht recht einleuchten.
Zum Koch des Jahres wählte der Schweizer Gault Millau Martin Dalsass vom Santabbondio bei Lugano. Das berechtigte Lob für Horst Petermann für die mit 19 Punkten und vier Hauben bewerteten Kunststuben in Küsnacht sowie für Philippe Rochat, den Nachfolger von Star Fredy Girardet, in Crissier (ebenfalls 19 Punkte) wird ebenso wiederholt wie die weniger gerechte Nörgelei über den Teufelhof in Basel. Dass der Gault Millau oft noch konservativer ist als der Michelin, lässt sich etwa belegen damit, dass der (beim Schweizer Guide angehängte) Hotelteil das in der Ausstattung vieler Zimmer indiskutable Splügenschloss in Zürich mit langjähriger Beharrlichkeit als »Geheimtipp mit höchstem Komfort« qualifiziert. In anderer Hinsicht geht der Gault Millau mit der Zeit: Die deutsche Ausgabe enthält in einem Beiheft die österreichische und die schweizer Ausgabe bei den einzelnen Eintragungen Internet- und E-mail-Adressen.
Eins sollte der Benützer von Gault Millau bedenken: Es gibt eine Reihe erstklassiger und besuchenswerter Restaurants und erst recht liebenswerter Unterkünfte, die bloß deshalb nicht aufscheinen, weil sich deren Eigentümer oder Pächter dem Test verweigern. Und letzten Endes verhält es sich mit der Kochkunst wie mit anderen Künsten: Das Urteil bleibt subjektiv. Qualität lässt sich nur bedingt objektivieren. Und ob man einen Restaurantbesuch als beglückend erlebt, hängt von vielen Komponenten ab. Mag sein, dass es an der ganz persönlichen Atmosphäre liegt, dass mir die Gerichte in der Stuttgarter Délice besser erscheinen, als die 16 Punkte des Gault Millau suggerieren. Dass man in diesem intimen Lokal, wie übrigens auch bei Rudolf Grabner in Gmunden, erstklassige Weine zu jedem Gang glasweise erhalten kann, ist zudem für den Allein- und auch Zu-Zweit-Esser ein nicht zu vernachlässigendes Argument.
Gault Millau Deutschland 2001, Heyne, München 2000, 922 S., 58,- DM
Gault Millau Österreich 2001, Heyne, München 2000, 456 + 224 S., 56,- DM
Gault Millau Schweiz 1998, Ringier, Zürich 2000, 544 S., 56,- DM
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