Gewalt für Gerechtigkeit?

Zukunftsentwürfe Schon 1971 diskutierten Michel Foucault und Noam Chomsky über die Frage, wie man die herrschenden Verhältnisse ändern kann und darf

In einer kleinen, von Klaus Theweleit herausgegeben Reihe eines kleinen Freiburger Verlags ist ein schmales Bändchen erschienen, das erstmals in deutscher Übersetzung eine Fernsehdiskussion dokumentiert, die 1971 stattgefunden hat. Die Lektüre dieser Broschüre stimmt todtraurig. Denn sie macht einem schlagartig bewusst, dass solche Diskussionen heute nicht mehr geführt werden, obwohl die Themen und die konträren Antworten nach 37 Jahren eher noch an Aktualität gewonnen haben.

"Konträre Antworten": das bedarf der Präzision. Die beiden Intellektuellen, die da in einem Gespräch aufeinandertreffen, sind sich in vielen grundsätzlichen Positionen und in ihrer politischen, einer dezidiert linken Haltung, sehr nahe. Aber weil sie noch Intellektuelle sind und nicht nur Automaten zur Reproduktion linker Phrasen, die sich dann innerhalb kürzester Zeit durch Phrasen des reaktionärsten Zuschnitts ersetzen lassen, differenzieren sie, entwickeln sie eigene Standpunkte und sind daher in einigen Diagnosen und Lösungsvorschlägen für gemeinsam erkannte Probleme entgegengesetzter Meinung. Gerade das aber macht die Lektüre dieser Diskussion so spannend. Der Leser kann dem einen oder dem anderen Argument größere Plausibilität abgewinnen, eine eigene Meinung formulieren und vielleicht sogar zu dem Schluss kommen, dass es eine eindeutige Antwort auf die gestellten Fragen nicht gibt.

Die beiden Intellektuellen, von denen hier die Rede ist, sind der amerikanische Linguist Noam Chomsky und der 1984 verstorbene Philosoph Michel Foucault, und die Plattform für dieses Gipfeltreffen linker Intellektualität stellte das niederländische Fernsehen zur Verfügung.

Das von Fons Elders informiert geleitete Gespräch, Welten entfernt von vielen heutigen Talkshows, die sich an Dummheit gegenseitig überbieten, hebt an mit der Gegenüberstellung moderner Varianten der Vererbungs- und Milieutheorie. Während Chomsky eine "gesammelte Masse von Schematismen und angeborene Organisationsprinzipien, die unser soziales, intellektuelles und individuelles Verhalten leitet," als "Natur des Menschen" definiert - bekanntlich lag dieser Gedanke bereits den 1957 erschienenen, für die Linguistik revolutionären "Syntactic Structures" des damals 29-jährigen Chomsky zugrunde -, fällt es Foucault schwer, in der Vorstellung von der Natur des Menschen einen wissenschaftlichen Begriff zu erkennen.

Im weiteren Verlauf geht es um die Grundlagen der Kreativität. Hier liegen die Standpunkte der Kontrahenten gar nicht so weit auseinander. Dafür verweigert Foucault dem Moderator mit einer bewundernswerten Schroffheit, die man Talkshowgästen als Vorbild anbieten möchte, die Antwort auf persönliche Fragen, auf Fragen nach "persönlichen Erlebnissen".

In zweiten Teil der Diskussion geht es dann um Politik. Auf die Frage von Elders, warum er an Politik interessiert sei, antwortet Foucault: "Wie könnte ich es nicht sein?" Beide, Chomsky wie Foucault, sind davon überzeugt, dass eine radikale Veränderung der Gesellschaft notwendig ist. Foucault befürwortet eine Kritik an Institutionen, "die aussehen, als hätten sie nichts mit politischer Macht zu tun". Er nennt die Familie, die Universitäten, die Medizin. "Wenn man diese Stützpunkte ignoriert, riskiert man ihr Fortbestehen und muss vielleicht sogar mitansehen, wie die Klassenmacht sich nach einem scheinbar revolutionären Prozess rekonstituiert." Chomsky legt größeren Wert auf Zukunftsentwürfe. Man müsse sich der unerreichbaren Ziele bewusst sei, um die erreichbaren verwirklichen zu können: "Deshalb müssen wir es auch mal wagen, zu spekulieren und gesellschaftliche Theorien auf der Basis von Halbwissen zu entwickeln, dabei jedoch immer die tatsächlich hohe Wahrscheinlichkeit einkalkulierend, dass wir zumindest in mancher Hinsicht völlig danebenliegen können."

Danach kommt das Gespräch auf jenes Thema, das mittlerweile tabuisiert zu sein scheint oder vielmehr: durch die Selbstzensur intellektueller Feiglinge, die nicht anecken oder ihre Karriere gefährden wollen, aus der öffentlichen Auseinandersetzung entfernt, auf die Berechtigung zivilen Ungehorsams. Chomsky erklärt, man müsse dem Staat nicht unbedingt erlauben, zu definieren, was legal ist. "Der Staat hat zwar die Macht, seine ganz bestimmte Vorstellung von Legalität durchzusetzen. Aber Macht bedeutet nicht automatisch Gerechtigkeit oder auch nur Fehlerfreiheit."

Dieser Gedanke löst die eigentliche Kontroverse zwischen den beiden Denkern aus. Foucault stellt Chomsky die Frage, ob er sich, wenn er eine illegale Handlung begeht, zur Rechtfertigung auf Gerechtigkeit, eine höhere Legalität berufe oder auf die Notwendigkeit des Klassenkampfes. Chomsky plädiert nun, ausweichend, dafür, "die angemessen formulierten Bereiche der Gesetzgebung auszunutzen und dann direkt gegen die vorzugehen, die nur der Stützung des Machtsystems dienen". Foucault argumentiert dagegen: "Das Proletariat führt nicht Krieg gegen die herrschende Klasse, weil es diesen Krieg für gerecht hielte. Das Proletariat führt Krieg gegen die herrschende Klasse, weil es zum ersten Mal in der Geschichte an die Macht will. Und weil es die Macht der herrschenden Klasse stürzen wird, hält es diesen Krieg für gerecht." Zugespitzt: "Man führt Krieg, um zu gewinnen, nicht weil er gerecht ist."

Hier erfolgt Chomskys entschiedener Widerspruch: "Wenn ich zum Beispiel überzeugt wäre, dass die Machtergreifung durch das Proletariat zu einem terroristischen Polizeistaat führen würde, in dem Freiheit, Würde und anständige menschliche Verhältnisse zerstört würden, dann würde ich natürlich nicht wünschen, dass das Proletariat die Macht übernimmt."

Es geht hier also um die alte Frage, welche Mittel erlaubt sein sollen, um ein wünschenswertes Ziel zu erreichen. Es geht um die Zulässigkeit von Gewalt im Krieg der Klassen. Was schon zu Zeiten der Pariser Commune oder der Revolutionen nach dem Ersten Weltkrieg heftig diskutiert und zu den bekannten Ergebnissen geführt hat, hat sich keineswegs "erledigt". Und es fällt nicht schwer, sowohl Foucaults wie auch Chomskys Position plausible Seiten abzugewinnen.

Chomsky sagt: "Aber Anwendung von Gewalt und Erschaffung von Unrecht in bestimmtem Ausmaß sind nur auf einer Grundlage zu rechtfertigen: Der einer äußerst ernsthaft und mit großer Skepsis geprüften Annahme und Einschätzung, dass diese Gewalt ausgeübt wird, um ein gerechteres Ergebnis zu erreichen." Wer wollte dem widersprechen?

Foucault sagt: "Was das Proletariat durch das Verjagen der momentan herrschenden Klasse und die eigene Machtübernahme erreichen wird, ist genau genommen die Abschaffung von Klassenmacht überhaupt." Und: "In einer Klassengesellschaft scheint mir die Idee der Gerechtigkeit jedenfalls ebenso als Forderung der unterdrückten Klasse wie als Begründung ihrer Existenz zu funktionieren." Was daran wäre falsch?

Es bedarf keines faulen Kompromisses, um sich aus dieser Debatte von beiden Seiten jene Anregungen zu holen, die auch heute für eine Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse von Nutzen wären. Aber wo wird diese noch geleistet? Mehr noch: wer wagt es noch, die von Chomsky und Foucault gewählte Terminologie zu verwenden? Wirkt doch schon der "Vorwurf", man habe den Marxismus nicht überwunden, als Einschüchterung. Man kuscht - und deklariert die Konzeption der "Klassenmacht" zur Spinnerei einiger unbelehrbarer Linker. Die "herrschende Klasse", die es eben doch gibt, freut´s.

Michael Foucaul/Noam Chomsky/Fons Elders: absolute(ly) Macht und Gerechtigkeit. Aus dem Englischen von Jürgen Reuß. orange-press, Freiburg 2008, 61 S., 9,80 EUR

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