Gretchen-Fragen

Essay Europakritik ist nicht notwendig nationalistisch, Europafreundlichkeit nicht unbedingt fortschrittlich
Ausgabe 28/2016

Die in Goethes Faust durch Gretchen gestellte Frage, wie man es mit der Religion halte, hat in Deutschland und sogar in Österreich mit großer Verspätung an Bedeutung verloren. An ihre Stelle ist die Frage getreten, wie man es mit Europa halte. Und die zulässige Antwort ist in ähnlicher Weise vorgezeichnet wie jene auf Gretchens Inquisition. Mit einer Wucht, die an Nötigung grenzt, hat sich von links bis weit rechts der Konsens durchgesetzt, dass das europäische Projekt ein Werk göttlicher Vernunft und seine Ablehnung des Teufels sei. Das Stigma der „Europafeindlichkeit“ hat die gleiche einschüchternde Wirkung wie der Vorwurf der „US-Feindlichkeit“ seitens der Neoliberalen oder die Beschuldigung der „Sowjetfeindlichkeit“ einst seitens der Kommunisten.

Die Kritik an der Europakonzeption erledigt sich für viele deutsche Linke mit dem Hinweis, dass sie zum Kernbestand der äußersten Rechten gehöre. Nun kann man etwas aus sehr unterschiedlichen, ja entgegengesetzten Gründen für falsch oder richtig halten. Auf alle Fälle zurückweisen muss man den Tadel, wenn er von Leuten kommt, die sich durch die Putin-Schwärmerei der Rechtsextremen nicht davon abhalten lassen, Putins Politik zu verteidigen. Was sie für sich beanspruchen, müssen sie anderen zugestehen, wenn sie sich nicht dem begründeten Verdacht der Doppelzüngigkeit aussetzen wollen.

Lektionen der Geschichte

Vieles spricht dafür, dass territorial größere Staaten oder Staatenbünde der Wirtschaft förderlich sind. Der Deutsche Zollverein und das Deutsche Kaiserreich geben dafür starke historische Belege ab. Dass sie auch politisch einen Fortschritt bedeutet haben, ist schon nicht mehr so offensichtlich. Und dass sie kriegerische Konflikte beseitigt hätten, erst recht nicht. Die haben sich lediglich verschoben. Weniger katastrophal wurden sie nicht.

Als das Habsburgerreich 1918 auseinanderfiel, herrschte weitgehend Übereinstimmung, dass das kleine Restösterreich ökonomisch nicht überlebensfähig sei. Alle politischen Parteien, die KP Österreichs inbegriffen, befürworteten, dass Deutschösterreich sich an Deutschland anschließen solle. Dieses Begehren wurde durch die Alliierten verhindert, es schwelte aber weiter. Schließlich gab es weiterhin gute Argumente für die Einbindung in einen größeren Wirtschaftsraum, wenngleich die Beweggründe der einzelnen politischen Parteien und Interessengruppen divergent waren.

Spätestens mit Adolf Hitlers „Machtergreifung“ 1933 bekam der Gedanke eine völlig neue Bedeutung. Dass Karl Renner, auf den sich die österreichischen Sozialdemokraten bis heute berufen, ebenso wie der Kardinal Innitzer noch 1938 für den „Anschluss“ plädierte, als hätte sich seit 1918 nichts geändert, ist der Sündenfall. Nicht mit der Weimarer Republik sollte sich Österreich nun vereinigen, sondern mit dem Dritten Reich, in dem längst Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, Behinderte und politische Gegner in Konzentrationslager deportiert wurden und wo man sich erkennbar für einen Zweiten Weltkrieg rüstete.

Natürlich ist die EU Welten von NS-Deutschland entfernt. Aber lässt sich trotzdem daraus etwas für die Gegenwart lernen? Dass ein vereintes Europa kein Wert an sich ist, dass die Einschränkung oder gar Aufgabe der Souveränität von Einzelstaaten kein Selbstzweck sein darf, sondern abhängen muss von den politischen Gegebenheiten, gegen die der vorausgegangene Zustand eingetauscht werden soll.

Wenn die EU Ungarn oder Polen wegen ihrer demokratiefeindlichen Maßnahmen und Gesetze nicht in die Schranken zu verweisen vermag, so liegt das weniger an mangelnden Kompetenzen als an der Tatsache, dass die konservative Mehrheit im EU-Parlament zu einem überwiegenden Teil mit diesen Maßnahmen sympathisiert, sofern sie sich nicht direkt gegen europäische Institutionen richten. Wenn also Einzelstaaten, die vernünftigere und gerechtere Gesetze und Regelungen haben – und es geht nicht nur um die Krümmung von Gurken –, sich den Bestimmungen der Europäischen Union unterordnen müssen, dann sollte das für Linke kein Gewinn, sondern ein Verlust sein. Wenn diese Staaten gegen die partikularen Interessen der Großkonzerne und Banken effektiver Widerstand leisten als die europäischen Behörden, dann sollten Linke ihre mechanistische Dichotomie von Europäern und Nationalisten in Frage stellen.

Die im April von der EU beschlossene Richtlinie zum „Schutz von Geschäftsgeheimnissen“ beispielsweise bedeutet gegenüber den Gesetzen der einzelnen Mitgliedsstaaten einen Rückschritt und eine Bedrohung der Meinungs- und Pressefreiheit. Eine „andere EU“ aber ist, wie die Dinge und die Machtverhältnisse derzeit liegen, weniger realistisch als keine EU. Was ist bloß in den gescheiten Gregor Gysi gefahren, dass er für diese „andere EU“ ausgerechnet auf die Konzerne hofft?

Da sollte man doch lieber auf Michael Scharang hören, der dieser Tage schrieb, die Europäische Union sei „von Anfang an ein Projekt des europäischen Großkapitals“ gewesen. Wo sind die Anzeichen, dass sich daran etwas geändert hat?

Oder ist die Preisgabe von sozialen und demokratischen Errungenschaften der Preis, den wir für eine Sicherung des Friedens bezahlen müssen? Auf Grund welcher Erfahrungen kommen linke Apologeten des vereinten Europas zu der Überzeugung, dass die Beseitigung von Zollschranken und Passkontrollen oder eine Gemeinschaftswährung den Frieden sichere oder sogar garantiere? Wenn diese Behauptung aber zuträfe – was rechtfertigt dann die Beschränkung der Vereinigung auf Europa oder vielmehr: einen Teil Europas? Bedeutet sie nicht eine Verlagerung der Konflikte zwischen den Nationalstaaten auf Konflikte zwischen EU-Europa auf der einen Seite und den USA, Russland, China oder den nicht-christlichen Staaten auf der anderen Seite? Die linken Europa-Fans starren wie gebannt auf den Nationalismus des 19. Jahrhunderts, der ja in der Tat schreckliche Folgen gezeitigt hat und zur allgemeinen Verwunderung heute eine Renaissance erlebt, geben aber einem Europa-Chauvinismus ungeniert Nahrung. Einst sangen die Linken von den „Verdammten dieser Erde“. Heute ist die Erde zu Europa geschrumpft. „Die stets man noch zum Hungern zwingt“ bleiben draußen.

Im Übrigen ist, wenn man zu differenzieren vermag, selbst die Abneigung der Rechten gegen eine Bevormundung durch Brüssel nicht frei von Ambivalenzen. Schließlich haben die Polen und Ungarn, zum Beispiel, eine historische Erfahrung mit der Entmündigung durch eine fremde Zentralregierung. „Europa“ klingt in ihren Ohren nicht ganz so verlockend wie in jenen vieler Westeuropäer. Der Nationalismus, der sich 1830 und 1848 gegen die preußische und die russische Fremdherrschaft oder gegen die Habsburger-Hegemonie wandte, findet seine Fortsetzung im trotzigen Justament gegen europäische Verordnungen.

Vielleicht ist alles auch nur ein großes Missverständnis. Vielleicht sind jene, die in einem vereinten Europa das Heil sehen, gar keine Linken. Vielleicht beteiligen sie sich einfach mehr oder weniger offen an einem Projekt zur Durchsetzung der Interessen der Konzerne.

Kritik und Europatrubel

Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der schon als möglicher Nachfolger von Bundespräsident Joachim Gauck gehandelt wird, hat kürzlich verkündet, er wolle seine Partei „ganz in die Mitte ziehen“. Er geht kurioserweise von der Annahme aus, die Grünen stünden links von der Mitte. Wo er selbst steht, hat er lange vor seinem Kuschelkurs mit den Christdemokraten offenbart, etwa als er seinem Parteifreund Jürgen Trittin vorwarf, dass er das Thema „Verteilungsgerechtigkeit“ zu sehr in den Mittelpunkt des Bundestagswahlkampfes 2013 gerückt habe.

Doch wo liegt überhaupt die Mitte? Nach einer seit der Französischen Revolution geläufigen Auffassung unterscheidet sich die Linke von der Rechten dadurch, dass Gleichheit für sie gegenüber der Freiheit Priorität genießt. Wenn die Mitte also zwischen links und rechts verläuft, stehen im deutschen Spektrum alle Parteien mit Ausnahme der Linkspartei, die sich ja auch so nennt, rechts der Mitte. Wenn Kretschmann seine Drohung wahr machen will, müsste er demnach die Grünen nach links ziehen. Aber so hat er das wohl nicht gemeint.

Befragt man jene, die für ein vereintes Europa unter den gegenwärtigen Bedingungen streiten und jeden des Nationalismus verdächtigen, der ihre Euphorie nicht teilt, wie sie es mit der (Chancen-)Gleichheit halten, kommt man schnell zu der Einsicht, dass sie der Linken nicht wirklich zugerechnet werden können. Auch Kretschmanns österreichisches Pendant Van der Bellen sollte man nicht bloß deshalb für einen Linken halten, weil er nicht so weit rechts steht wie sein Kontrahent Norbert Hofer. Auch das kleinere Übel ist schließlich ein Übel. Engelbert Dollfuß war kein Hitler, aber ein Demokrat war er deshalb noch lange nicht.

Vor weniger als einem Jahr hat Van der Bellen das Transatlantische Freihandelsabkommen TTIP zwischen der EU und den USA empfohlen. Seine Meinung hat er seither als braver Grüner lediglich aus Sorge vor dem Einzug genmanipulierter Lebensmittel in europäische Supermärkte geändert. Dass Hofer wiederum gegen die „Brüsseler Bürokratie“ wettert, sollte echte Linke von einer skeptischen Haltung gegenüber dem Europatrubel nicht abhalten. Nicht Hofers Kritik an der EU ist das Problem, sondern dass er Flüchtlinge „Invasoren“ nennt. Und dass der noch amtierende sozialdemokratische Bundespräsident Heinz Fischer ihm ohne Not seine „Anerkennung aussprechen, Respekt zollen (wollte), dass er in einem langen und spannenden Wahlkampf seine Standpunkte mit Engagement und Verve vertreten und verteidigt hat“. Was soll man von einem Staatsoberhaupt halten, das allein schon die Verteidigung eines Standpunkts, wessen Inhalts auch immer, für eine Tugend hält?

Darüber hinaus könnte man statt Besserwisserei Scham und Demut erwarten von jenen, die den Bologna-Prozess der Vereinheitlichung des europäischen Hochschulsystems, dessen verheerende Auswirkungen doch von Anfang an zu durchschauen waren, mitgetragen haben. Darüber hinaus: Wofür halten sich eigentlich die Deutschen, und, in karikierter Nachahmung, die Österreicher (ihre wirklichen und vorgeblichen Linken inklusive), dass sie den Menschen in anderen Ländern Ratschläge erteilen, wie sie Europa zu bewerten hätten? Das war 1972 und 1994 so, als eine Mehrheit der norwegischen Wähler, denen Deutsche fürwahr nicht erklären müssen, was Demokratie bedeutet, einen Beitritt ihres Landes zur EG beziehungsweise zur EU ablehnte. Das ist heute so, da Großbritannien für einen Austritt aus der Europäischen Gemeinschaft gestimmt hat, den rechtsradikale Nationalisten, aber eben auch – mit ganz anderen Argumenten – ein Teil der britischen Linken befürwortet haben.

Bei aller notwendigen Abwägung von Vor- und Nachteilen einer repräsentativen gegenüber einer direkten Demokratie: Was berechtigt Deutsche, ihren Standpunkt für kostbarer zu halten als, sagen wir, den der Schweizer? Die zeigen der EU übrigens die kalte Schulter. Unterstützt von der Partei der Arbeit. Nicht eine EU ohne England ist die Katastrophe – ein Europa der Le Pen, Petry, Strache wäre es. Jedenfalls für wirkliche Linke.

Thomas Rothschild ist Literaturwissenschaftler, Hochschullehrer, Buchautor, Journalist und Präsidiumsmitglied des P.E.N.-Zentrums

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden