Ernst Tollers Hinkemann ist die Ausnahme. Er entstammt der Fantasie seines Autors. Alle anderen Protagonisten der Stücke, mit denen die Salzburger Festspiele an vier aufeinander folgenden Tagen an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren erinnerten, schöpften aus der Realität: Charlotte Salomon, die Heldin der nach ihr benannten Oper von Marc-André Dalbavie, hat es ebenso gegeben wie Clara Immerwahr aus The Forbidden Zone von Duncan Macmillan, und Karl Kraus hat in seinen Letzten Tagen der Menschheit die erlebte und gedruckte Wirklichkeit ausgebeutet, die er vorgefunden hat: „Die grellsten Erfindungen sind Zitate.“
Clara Immerwahr hat sich erschossen, als im Ersten Weltkrieg Chlorgas eingesetzt wurde, das ihr Mann, der Chemiker und spätere Nobelpreisträger Fritz Haber, entwickelt hatte. Macmillans The Forbidden Zone, das in Salzburg als Koproduktion mit der Berliner Schaubühne uraufgeführt wurde, verknüpft Immerwahrs Schicksal mit der Geschichte ihrer Enkelin Claire. Die vergiftet sich Jahre später in den USA, als eine Zeitung meldet, dass ihr Großvater an der Entwicklung von Zyklon B beteiligt war, mit dem bekanntlich Menschen in Auschwitz getötet wurden.
Kein Zurück
Wir wissen aus der Geschichte: Entdeckungen lassen sich nicht rückgängig machen. Die Kernspaltung oder eben das Chlorgas wurden, erst einmal ermöglicht, auch genutzt. Das gilt auch für Videotechnik – nur vernichtet sie allenfalls das Theater als ein Medium der auratischen Kommunikation.
Die britische Regisseurin Katie Mitchell setzt in ihrer nur 70 Minuten langen Inszenierung von The Forbidden Zone ihre Suche nach einer Symbiose von Theater und Film fort. Die Synthese von Film und Video mit lebendigen Schauspielern auf der Bühne ist ja inzwischen nicht mehr überraschend. Sie reicht zurück zur Brüsseler Weltausstellung von 1958, wo die Prager Laterna magika ihre ersten Auftritte hatte, und noch darüber hinaus zu den Projektionen in den Roten Revuen von Erwin Piscator, der übrigens 1915 an der Ypern-Front kämpfte, wo erstmals Chlorgas eingesetzt wurde. Neu sind die Konsequenz und die Perfektion, mit denen Katie Mitchell die oft gedankenlos benutzte Technik verwendet.
Während die Schauspieler agieren, wird die von mehreren Kameras aufgenommene Aktion auf eine große Fläche projiziert, und zwar in einer Weise, dass sie aussieht wie ein mühevoll gedrehter und montierter Film. Die Genauigkeit bei der Wahl der Einstellungen, beim Bildschnitt, bei den Auf- und Abblenden bis hin zu Überblendungen und Parallelmontage sind faszinierend. Was aber kommt zu dem Film hinzu außer dem Bewusstsein, dass er gerade im Moment, „live“ gespielt wird?
Gleich zu Beginn fährt ein U-Bahn-Waggon auf die Vorderbühne. In ihm sitzt Claire Haber. Der Zuschauer sieht den Waggon von außen und zugleich auf der Projektionsfläche oben Claire Haber im Inneren des Waggons. Wenn sie sich erinnernd dort sitzt, nutzen Macmillan und Mitchell ein weiteres untheatrales Mittel, den inneren Monolog – in filmischer Terminologie: das „Voice-over“. Ansonsten gibt es knappe, schlichte Dialoge, die alles schnell auf den Punkt bringen, unterbrochen von poetischen Zitaten. So weit, so vertraut. Das Nebeneinander von Innen- und Außensicht betreibt Frank Castorf seit Jahren.
Aber Katie Mitchell geht einen Schritt weiter. Der U-Bahn-Waggon teilt sich in drei Abschnitte. Die Teile werden im Lauf des Abends verschoben, sodass sie vorübergehend den Blick ganz oder partiell freigeben auf Räume, in denen, die Chronologie durchbrechend, einzelne kurze Szenen stattfinden. Erneut fasziniert die Schnelligkeit, mit der Akteure und Kameras von einem Spielplatz zum anderen wechseln. Der Austausch der historisch genauen Kostüme muss mit diesem Tempo Schritt halten. Mitchells Inszenierung ist also auch ein wenig Zaubertrick, eine Zirkusnummer.
Wer auf dem funktionalistischen Standpunkt steht, dass die ästhetischen Mittel in den Künsten einem Zweck zu dienen haben, wird diese Inszenierung ablehnen. Sie wird ihm ohne Mehrwert erscheinen gegenüber einem Film wie Clara Immerwahr von Harald Sicheritz, der sich des gleichen Stoffes auf plakative Weise annahm. Wer die virtuose Verwendung theatraler Techniken und ihrer Erweiterungen hin zu den Nachbardisziplinen schätzt, wer ihnen eine gewisse von der Botschaft getrennte Autonomie zugesteht, wird The Forbidden Zone wie der Großteil des Premierenpublikums bejubeln. Ob sich der Jubel ausschließlich der Inszenierung verdankt, ist freilich nicht auszumachen. Er könnte auch einem Stoff gelten, der Feminismus und Pazifismus auf einen Nenner bringt. Clara Immerwahr steht, seit ihr Schicksal, reichlich spät, entdeckt und dokumentiert wurde, in einer Reihe mit Bertha von Suttner und Irène Joliot-Curie.
The Forbiddden Zone Text: Duncan Macmillan Regie: Katie Mitchell Salzburger Festspiele
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