Ich vertraue dem Schatten

Mit vollem Mund Älteres und Neueres von Alfred Kolleritsch

Wenn er keine einzige Zeile geschrieben hätte, wäre er doch in die Literaturgeschichte eingegangen: als Mitbegründer des Forums Stadtpark, das in den sechziger Jahren zum wichtigsten Zentrum des literarischen Lebens in Österreich wurde, und der Grazer Autorenversammlung, die 1972 eine Alternative zum reaktionären österreichischen P.E.N. bildete, und als Chef der manuskripte, jener maßstabbildenden Literaturzeitschrift, die unermüdlich neue Talente entdeckt und gefördert hat und weiterhin fördert.
Aber Alfred Kolleritsch ist ein bedeutender Autor, und zwar als Erzähler, als Lyriker und als Dramatiker. Wenn er nicht so im Gespräch ist, wie er es verdiente (und wie es geringere Geister sind), dann liegt das eben daran, dass er stets mehr Energie aufwandte zur Propagierung anderer als seiner eigenen Person. Noch dass seine jüngsten Veröffentlichungen in drei verschiedenen Verlagen erschienen sind, hat mit Loyalität zu tun, mit Treue zu Lektoren und Verlegern, die seinen Weg streckenweise begleitet haben.
Der kleine, ambitionierte Literaturverlag Droschl in Graz, wo der mittlerweile siebzigjährige (aber wie ein Fünfzigjähriger aussehende) Kolleritsch seit Jahrzehnten lebt und auch als Deutschlehrer, wie man von ehemaligen Schülern immer wieder erfährt, Spuren hinterlassen hat, übernahm es, seinen zweiten Roman Die grüne Seite von 1974 neu aufzulegen. Zu Beginn ihres gescheiten Nachworts reflektiert die Wiener Germanistin Juliane Vogel über die Bedeutung des "Grünen" aus dem Titel. Ihre Überlegungen ließen sich ergänzen: die Erinnerung an Kellers Grünen Heinrich dürfte Absicht sein, und grün ist die Landesfarbe der Steiermark, die das Werk des an der südsteirischen Weinstraße geborenen Kolleritsch geprägt hat.
Der Auftritt Gottfrieds mit seinem Vater im ersten Absatz, ja noch der Tonfall der direkten Rede des Vaters erinnern an den großen österreichischen Generationenroman des vergangenen Jahrhunderts, an Joseph Roths Radetzkymarsch. Kolleritsch freilich geht es um einen drei Generationen umfassenden Erziehungsroman ohne die geschichtsphilosophische Dimension, die bei Roth im Vordergrund steht. Die Parallelisierung der Familie mit der Epoche unterbleibt. Nicht das Schicksal der Protagonisten, ihr Verhalten vielmehr korreliert mit der Geschichte.
Zu den Qualitäten von Kolleritschs Prosa gehören die Genauigkeit der Details - nicht zufällig beginnt der Roman mit einem Termin beim Fotografen -, die unmittelbar einleuchtende Originalität der Vergleiche. Diese Prosa ist unaufgeregt und in einem fast altmodischen Sinne "schön", auch und gerade dort, wo die Botschaft schrecklich ist. Musikalität der Sprache und lakonische Verknappung bilden eine dialektische Einheit.
Die grüne Seite ist durchsetzt von direkter Rede. Rede ist nicht zuletzt - wie in Peter Handkes Kaspar, den Juliane Vogel in einem anderen Zusammenhang erwähnt - ein Instrument der Zurichtung, der Disziplinierung, der Herrschaftsausübung. Wo sie belehrt, fordert sie zugleich Gehorsam. An einer Stelle heißt es von Gottfried, dessen Vater bezeichnenderweise Oberlehrer ist: "Daß ich immer großen Reden ausgeliefert bin, dachte er, daß ich selber nicht handeln kann, ohne zu reden oder an Reden zu denken." Hier geht auch die Erfahrung einer Generation ein, die in ihrer Schulzeit nationalsozialistisch indoktriniert wurde. Das ist ein Thema, das für Kolleritsch von zentraler Bedeutung blieb.
Auf dem Weg zu dem zitierten Satz erlebt der Leser die Ausübung von Sprachterror, die Zerstörung von Sprache durch Sprache mit. Das klingt, so beschrieben, abstrakt. Aber die Performanz der Rede versinnlicht, was sie inhaltlich behauptet. Die Leistung von Kolleritsch besteht darin, dass er sprachtheoretische Erörterungen derart in die Figurenrede integriert, dass sich - in der Methode, wenn auch nicht im Stil Thomas Bernhards ungefähr zur gleichen Zeit entstandenem Kalkwerk vergleichbar - durchaus eine Fabel entwickelt.
Die Zerstörung durch Sprache wird vom Beschädigten, dem auch die Natur nicht die erhoffte Erlösung bringen kann, an die nächste Generation weitergegeben. Der "autoritäre Charakter" übt Autorität als Gewalt aus, wie er sie als Erleidender zu akzeptieren gelernt hatte. Gottfrieds Sohn Josef ist ein Ver-Sager. Im Kapitel, das ihm gewidmet ist, kommt keine direkte Rede mehr vor, nur der Schrecken vor einer von Sprache bestimmten Umwelt. Diese Umwelt ist konkret und historisch verortbar. Kolleritschs Roman ist nichts weniger als unpolitisch.
Es ergibt sich die Frage: Kann man erkennen, dass dieser Roman mehr als ein Vierteljahrhundert auf dem Buckel hat? Man kann es insofern, als es in der österreichischen Literatur der siebziger Jahre dafür ein Umfeld gab, stilistische und thematische Querbezüge; man kann es nicht im Vergleich mit der heute geschriebenen deutschsprachigen Literatur. Ein großer Teil davon wird durch Die grüne Seite an Modernität überholt.
Die schmale Auswahl von Gedichten bei Residenz aus Bänden, die zwischen 1978 und 1999 erschienen waren, beginnt mit einem Vers, der als Maxime Alfred Kolleritschs verstanden werden kann: "Meinen Einfällen vertraue ich nicht." In einem anderen Gedicht heißt es: "Ich vertraue dem Schatten mehr,/ den ich geworfen habe, als mir." Sein Schreiben (und sein öffentliches Reden) ist von Skrupeln gekennzeichnet. Vielleicht sind sie die Bedingung für die bereits erwähnte Genauigkeit. Kolleritschs Lyrik ist seiner Prosa verwandt, weil auch diese auf jeden Ansatz von Geschwätzigkeit verzichtet. Es handelt sich um Gedankenlyrik, die der Hermetik entsagt, aber auch nicht in den Alltagsjargon ausweicht wie bei einigen Zeitgenossen des Autors. Gelegentlich wird ein "Du" adressiert. Aber die Ansprache bleibt diskret. Kolleritsch weiß, dass andere zuhören. Eine offenbare Scheu vor dem Sentimentalen, auch wo er, gar nicht selten, zur Melancholie neigt, bewahrt ihn zugleich vor Klischees.
Das längste Gedicht ist dem früh verstorbenen Grazer Dichterkollegen Gunter Falk, einer charismatischen Figur, gewidmet. Darin befinden sich die verzweifelten Verse, die die Grenzen der Dichtung markieren: "Etwas herbeizulügen und schöne Namen/ für seine Wunden, erklärt die Wunden nicht." Skepsis den schönen Namen gegenüber auch hier.
Noch um eine Spur schmäler ist das Gedichtbändchen Die Summe der Tage aus dem Verlag Jung und Jung. Die darin enthaltenen Gedichte sind nicht datiert, dürften aber neueren Datums sein. Natur verbindet sich in ihnen mit Seelenzuständen und Stimmungen zu einem unentwirrbaren Geflecht. Und immer wieder die Sprache, ihre Begrenztheit, ihre Gefährdung, ihre Hilflosigkeit als Thema - paradoxerweise ausgedrückt in Sprache eben. Bis in die Syntax hinein, in die zögernde Kürze der Verse, spürt man Kolleritschs Sinn für poetische Ökonomie. Er vermittelt den Eindruck, als würde er in allen Lebenslagen das Schweigen einem überflüssigen Wort vorziehen. Es gibt Wortfelder, die Kolleritsch stets aufs Neue einkreist, umgruppiert, semantisch ausreizt, nur um zu erfahren, dass ein Rest bleibt, der sich nicht ausreizen lässt. Kolleritsch kennt, das ist nicht zu übersehen, die lyrische Tradition, aber er bemüht sich keinen Augenblick um Virtuosität. Seine Haltung ist der Demut am nächsten und von nichts so weit entfernt wie von Eitelkeit.
Schon 1997 ist das Lust-Spiel Die geretteten Köche in Buchform erschienen. Ort der Handlung ist ein Heilbad in jener südsteirischen Gegend, aus der Kolleritsch stammt. Dort stoßen zwei ältere Philosophen, ein Theologe und ein Maler aufeinander. Das Motiv des Essens, das bei Kolleritsch stets eine Rolle spielt, rückt hier in den Vordergrund und wird - über den Mund - mit der Sprache in Verbindung gebracht. Als Selbstzitat aus der Grünen Seite heißt es da: "Was ist das für eine merkwürdige Regel, dass man mit vollem Mund nicht reden darf. Im Mund sei die Trennung aufgehoben."
Die Philosophie des Essens und seiner Zubereitung wird durch eine Stimme verkündet, die der von den Nazis verschleppten Polin Maria Szmaragowska gehört, die einst für die Kriegsgefangenen gekocht hatte. Von ihr sagt einer der Philosophen, sie habe Wittgenstein geliebt. Im Kochen und Essen kommen die vier Herren mit Hilfe von Urszula, Maria Szmaragowskas leibhaftiger Nichte - auch sie parodiert Wittgenstein -, buchstäblich und im übertragenen Sinne zusammen. Theologische, philosophische und künstlerische Nutzanwendung treffen sich im Genuss. Als wäre er mit Brechts Ziffel verwandt, erzählt der Theologe: "Mein Vater, ein geheimer Anarchist wie ich, sagte oft mit zynischem Unterton, wie armselig die Unterscheidung zwischen dem angeblich Wahren und den falschen Weltanschauungen sei. Ehrlicher hingegen ist die Differenz zwischen einer echten und falschen Rindsuppe."

Alfred Kolleritsch: Die grüne Seite. Roman. Mit einem Nachwort von Juliane Vogel. Droschl, Graz - Wien 2001, 216 S., 19 EUR


Alfred Kolleritsch: Die Verschwörung der Wörter. 70 ausgewählte Gedichte. Mit einem Vorwort von Hans Eichhorn. Residenz, Salzburg - Wien - Frankfurt 2001, 96 S., 17,90 EUR


Alfred Kolleritsch: Die Summe der Tage. Gedichte. Mit einem Nachwort von Arnold Stadler. Jung und Jung, Salzburg 2001, 88 S. 16,40 EUR


Alfred Kolleritsch: Die geretteten Köche. Ein Lust-Spiel. Residenz, Salzburg und Wien 1997, 95 S.


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