Wer erinnert sich nicht daran, wie sehr es nervte, wenn Vertreter der älteren Generation, gar die eigenen Eltern behaupteten, früher sei alles - oder jedenfalls das Meiste - besser gewesen. Implizit wurde einem mit diesem "Argument" das Wort entzogen, denn da man ja damals nicht dabei war, als angeblich alles besser war, da man es nicht aus eigener Anschauung kannte, konnte man nicht mitreden.
Es ist das Vorrecht der Jugend, ihre Gegenwart und die erhoffte, vermeintlich absehbare Zukunft für einen Fortschritt zu halten gegenüber der Vergangenheit. Damit sichert sie sich die Überlegenheit der eigenen Generation und der eigenen Person. Nicht erst die Enkel fechten´s besser aus: Man selbst fühlt sich in der Lage, zu überbieten, was die quengelnden Alten, die zu bequem oder unfähig sind, sich neuen Verhältnissen anzupassen, für das Bessere halten. Symbolisch und ohne großen Aufwand bekundet man das durch die Musik, die man hört, durch die Kleidung, die man trägt, durch die Lokale, die man besucht - kurz: durch Konsumkonventionen. Und die Werbung bestätigt den Anspruch. Wer die richtigen Klamotten kauft, ist im Recht.
Sind die Alten also widerlegt, die dieser Affirmation ihre Zustimmung verweigern? Nur ein Schwachkopf kann leugnen, dass es Fortschritte gibt. Wer von einer Krankheit geheilt wurde, gegen die es vor zwanzig Jahre noch keine Medizin, zu deren Behandlung es noch keine Apparate gab, weiß davon ein Lied zu singen. Ob die Literatur besser wurde, seit sie auf dem Computer statt auf der Schreibmaschine oder mit der Hand geschrieben wurde, ob das Theater besser wurde, seit die Schauspieler Mikrofone im Gesicht tragen, ob Kirschen besser schmecken, seit man sie das ganze Jahr über einführt - darüber kann man streiten. Aber wer möchte noch seine Wäsche mit Waschbrett und Bürste über dem Bottich reinigen? Wer möchte noch Kohle aus dem Keller holen, um es im Wohnzimmer warm zu haben? Wer wollte auf die Annehmlichkeiten des freien Wochenendes und eines Urlaubs verzichten, von dem unsere Großeltern nicht einmal zu träumen wagten?
Mit der letzten rhetorischen Frage sind wir freilich in die Falle geraten. Denn sie stellt sich nur jenen, die Arbeit haben. Für Arbeitslose dürfte es keinen Zweifel daran geben, dass eine Vergangenheit der Vollbeschäftigung besser war als es eine Gegenwart der hohen Arbeitslosigkeit ist und eine Zukunft der möglicherweise noch wachsenden Arbeitslosigkeit sein wird. Mit anderen Worten: Dass heute alles besser sei, ist nicht weniger irreführend als die Schwärmerei, dass früher alles besser gewesen sei. Weder die Alten, noch die Jungen haben pauschal Recht. Die Diagnose muss in jedem Fall neu gestellt werden.
Früher galt es als ausgemacht, dass man mit zunehmendem Alter konservativer würde. Die psychologische Erklärung lautete: man will bewahren, was man sich erarbeitet hat, was einem vertraut ist. Wenn man freilich "konservativ" nicht psychologisch, sondern politisch versteht, gibt es kaum noch Indikatoren dafür, dass junge Menschen grundsätzlich weniger konservativ wären als ihre Eltern und Großeltern. In Österreich haben bei der letzten Wahl die erstmals zugelassenen Wähler, die zwischen 16 und 18 Jahre alt sind, überproportional den rechtspopulistischen Parteien ihre Stimme gegeben. Nichts deutet darauf hin, dass die Jungen mit den bestehenden Verhältnissen weniger einverstanden wären als die Alten.
Und da muss doch einmal mehr nachgefragt werden, ob das Gefühl eines Verlusts, das viele Ältere teilen, nicht seine guten Gründe hat. Wann war denn dieses "früher", als alles oder vieles besser gewesen sein soll? Nehmen wir mal an, zu der Zeit, als die Älteren jung waren, also vor dreißig bis vierzig Jahren. Damals konnte man hoffen, dass die offensichtlichen Missstände einer kapitalistischen Gesellschaft, dass Ungerechtigkeit, soziale Kälte und Ausbeutung, wenn nicht in nächster Zeit, so doch auf längere Sicht, überwunden würden. Heute steht der Kapitalismus, trotz Finanzkrise und offensichtlichen Pleiten, so unangefochten da wie nie zuvor. Soziale Errungenschaften, die in Jahrhunderten erkämpft wurden, werden über Nacht vernichtet, Kompromisse, die das Kapital unter Druck eingehen musste, werden flugs zurückgenommen, die Arbeitsbedingungen verschlimmern sich, die Arbeitszeiten werden verlängert, als hätten die Gewerkschaften nicht eben noch die 35-Stunden-Woche gefordert, die Studienverhältnisse an den Hochschulen verschlechtern sich ebenso wie die Bildungschancen für Kinder aus Nichtakademiker-Familien dramatisch, die Medien werden mehr und mehr zu PR-Agenturen, und die Mehrheit der Jungen, die nicht wahrhaben will, dass manches vielleicht früher doch besser war, macht sich ohne Bedenken zu Erfüllungsgehilfen dieser Entwicklungen. Kann all das diejenigen zur Euphorie verleiten, die sich schon einmal andere Utopien ausgemalt haben? Einige von ihnen prügeln jetzt die Utopien, um mit den Jungen mithalten zu können. Sie sind so lächerlich wie eine 80-Jährige im Minirock.
Zu den dümmsten Begleiterscheinungen des "Sozialismus" sowjetischer Prägung gehörte die dogmatische Einforderung von Fortschrittsglauben. Er führte sich ständig selbst ad absurdum, wenn die Realität die Propagandaphrasen als Zweckoptimismus enthüllte. Es gibt Fortschritte und es gibt Rückschläge, aber jede Vereinfachung, die einen Automatismus des Fortschritts unterstellt, ist auf alle Fälle ein Rückschritt gegenüber der Wirklichkeitswahrnehmung. Ludwig (nicht Herbert) Marcuse hat einmal ein Buch geschrieben mit dem Titel Pessimismus - ein Stadium der Reife. So radikal muss man es vielleicht nicht formulieren. Aber Pessimismus als Stadium der Senilität zu diffamieren, wäre gewiss ungerecht. Er bekommt schon seine Nahrung. Es bedarf einiger Selbsttäuschung, sie zu ignorieren. Aber vielleicht ist auch diese Selbsttäuschung ein Vorrecht der Jungen. In dreißig Jahren reden wir weiter.
Der britisch-österreichische Literaturwissenschaftler Thomas Rothschild ist Hochschullehrer an der Universität Stuttgart, Autor und Journalist.
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