Lastkähne schippern durch den Stuttgarter Hafen. Darauf stehen bunt gekleidete Frauen und Männer, die hüpfen und die Arme hoch reißen, als hätten sie die allzu lang versäumte amerikanische Tradition der cheer leader in Deutschland zu etablieren. Es sind die Sängerinnen und Sänger von Chören, die im Rahmen des Theaters der Welt ein Hafenkonzert mit Namen Singing River geben.
Musikalisch ist, was sie bieten, armselig. Das macht nichts. Man hört sie eh nur wenige Minuten im Vorbeifahren: der Einzug des Zappens in die Theaterkunst. Singing River ist ein Spektakel, mehr nicht. Aber es scheint von allem, was in dreieinhalb Wochen zu sehen, hören, erfahren war, das größte Entzücken ausgelöst zu haben. Das Event verdrängt auch im Theater die Bereitschaft, sich mit dichten Texten, mit durchdachten Kompositionen, mit elaborierter Schauspielkunst auseinander zu setzen. Aber vielleicht hat auch bloß die stechende Sonne, der die Zuschauer auf der Tribüne exponiert waren, das Kritikvermögen eingeschränkt und die Jubelbereitschaft erhöht.
Allenfalls eine lehrreiche Raumerfahrung lässt sich dem Defilee auf dem Neckar abgewinnen. Nun ist der Raum in der Tat ein entscheidender Faktor des Theaters, aber gelegentlich konnte man beim Festival den Eindruck erhalten, dass sich Produktionen in der Suche nach originellen Räumen bereits erschöpfen. Da wurde in einem Krankenhaus gespielt und installiert, in einem unklimatisierten alten Zug auf dem Hauptbahnhof und auf einem öffentlichen Platz, dessen Größe nur durch seine Hässlichkeit überboten wird.
Aber Felix Huby ist begeistert und preist die "geschickte Auswahl der Stücke und Inszenierungen aus allen Teilen der Welt" durch die Intendantin Marie Zimmermann, ihre Zusammenführung von "Volkstheater und Welttheater". Was Wunder. Ein ausgewähltes Stück Volkstheater stammt von Felix Huby. Eine weniger verdächtige Zeugin aus Griechenland, die professionell Theaterfestivals besucht, klagte, sie hätte noch nie ein so schlechtes erlebt wie hier in Stuttgart. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen.
Zu sehen waren unter anderem die Transformation eines Films von John Cassavetes zu einem Theaterabend, dem die Zuschauer auf Betten liegend folgten, ein japanisches Konversationsstück, das wohl beweisen sollte, dass man auch im Fernen Osten nicht nur Kabuki pflegt, ein Happening für Kinder im Spital, Figurentheater unterschiedlicher Ausprägung, ein Gastspiel aus Zürich, wo Welttheater, verstanden als große Schauspielkunst, keine rhetorische Floskel und kein Festivaltopos, sondern Alltag ist, ein russischer Marivaux und Elfriede Jelineks Burgtheater in einer Grazer Inszenierung, der Judy Garlands bigottes, aber nicht chauvinistisches There´s no place like home, das mit der utopischen Sehnsucht nach dem Land hinter dem Regenbogen im Wizard of Oz kontrastiert, und Paula Wesselys antipolnische und antisemitische Propaganda in Heimkehr austauschbar erscheint. Vielleicht sollte sich die Nobelpreisträgerin doch darum kümmern, was man aus ihren Texten macht. Auch politischer Verstand ist im Theater nicht ganz unverzichtbar.
So richtig schön wird die europäische Einheit erst durch die kulturelle Vielfalt, die kennen zu lernen und zu genießen das Theater der Welt Gelegenheit bot. In Ungarn gibt es eine ausgeprägte folkloristische Tradition, die nach 1945 eine skurrile Ehe mit den ästhetischen Vorstellungen des Sozialistischen Realismus einging. In der Musik stehen die Namen Bartók, Kodály und Ferenc Erkel für einen ideologisierten Folklorismus, der eine prägende Wirkung auf die gesamte ungarische Kultur entfalten konnte, und, anders als in anderen Regionen, nicht in Widerspruch zur Moderne geriet.
Die Peasantopera, mit der das Ensemble ihres Autors und Regisseurs Béla Pintér in Stuttgart gastierte, nimmt diesen Folklorismus auf die Schaufel. In kalkulierten, meist zur Rampe hin ausgerichteten Arrangements, in "lebenden Bildern", in bewusst kunstlosen tänzerischen Einlagen wird eine triviale Revolvergeschichte von Inzest, Mord und dem Besuch eines falschen Cowboys in einem ungarischen Dorf gezeigt. Der Witz resultiert zum Teil aus dem Konflikt zwischen vulgärer Sprache und dem aristokratischen Image der Oper. Musikalisch plustert sich ein abgedroschener Countrysong neben einem Bachzitat, der Kitsch einer gefälschten Zigeunerweise neben einem Fugato. Dem entspricht auf der Szene der Gegensatz von bäuerlichen Klischees und einer sexbesessenen Brautmutter im allzu eng anliegenden Leopardenkleid. Das klingt nach Ulk und ist es auch, aber der Reichtum der Einfälle macht es zu einem Bühnenereignis erster Güte.
Eimuntas Nekrosius, der 1952 geborene Regisseur aus Litauen, gehört zu den eigenwilligen Theatermachern unserer Tage. Seine Drei Schwestern, die man 1996 beim Theater der Welt in Dresden bewundern konnte, reihen sich würdig ein in die Serie von Inszenierungen dieses Jahrhundertdramas, die Theatergeschichte geschrieben haben und deren Schöpfer ein Who´s who der modernen Bühnenkunst konstituieren. Mit Otomar Krejc?as legendärer Inszenierung am Prager Theater hinter dem Turm teilte jene von Nekrosius die Technik, die traditionell eher unterdrückte psychische Bewegung der Figuren nach außen zu kehren. So viel Laufen und Rennen gab es bei Tschechow selten. Diese Konzeption bestimmt auch seinen Kirschgarten. Der Name Stanislavskij, den sich die koproduzierende Stiftung wählte, führt in die Irre. Bei Nekrosius hat die Biomechanik Meyerholds Pate gestanden, nicht der psychologische Naturalismus Stanislavskijs.
Mit den vier meistgespielten Dramen Tschechows verhält es sich wie mit den populären Opern Mozarts: ihre ursprüngliche Provokation ist nicht mehr zu reproduzieren. Also inszenieren Regisseure weniger den Text als ihre Reaktion auf die Aufführungsgeschichte. Der Kirschgarten von Eimuntas Nekrosius hat über weite Strecken den Charakter einer Revue von "Tschechow-Nummern", einer Parodie auf die vertrauten Momente aus den Dramen dieses Autors. So erscheinen in einem Tableau Anja, Dunjascha und Warja wie die Wiedergänger der Drei Schwestern. Auch an Stanislavskijs legendäres Vogelgezwitscher wird erinnert: durch ein ohrenbetäubendes Fortissimo aus dem imaginierten Kirschgarten. Und noch eins: schienen viele Darbietungen des Stuttgarter Festivals Sprach- und Bildertheater als eine Alternative zu verstehen, zwischen der man sich entscheiden müsse, so vereint Nekrosius die beiden fundamentalen Elemente des Theaters in seiner Inszenierung. Auch der Gegensatz von Regie- und Schauspielertheater erscheint bei Nekrosius obsolet.
Im Prinzip ähnlich wie Nekrosius mit Tschechow verfährt das New Yorker Ensemble Mabou Mines mit Ibsen. Groteske statt Naturalismus: Regisseur Lee Breuer nimmt den Alternativtitel von Nora ernst. Er lokalisiert das Emanzipationsdrama in einem Puppenheim. Hier wird nicht, wie so oft, das Ende vorweggenommen, sondern vorgeführt, dass das Patriarchat nur funktioniert, wo eine Nora die ihr aufgedrängte Rolle der Kindfrau annimmt. Die Männer werden bei Mabou Mines von Kleinwüchsigen verkörpert. Will sagen: ihre Macht gründet allein in ihrem Geschlecht. Die befreiende Erkenntnis verkündet Nora, teils singend, aus einer Opernloge. Diese Inszenierung misstraut dem Pathos Ibsens. Zugleich aber wird die sich endlich wehrende Nora vervielfacht durch Opernbesucher auf der Bühne, durch unser Spiegelbild also. Alles nur Theater? Oder gerade nicht?
Not macht erfinderisch. Die im Vergleich zu Mittel- und Osteuropa erbärmliche Theaterlandschaft der USA hat seit je die Fantasie freier Gruppen beflügelt. So auch die Riot Group aus San Francisco. Pugilist Specialist wurde, wie alle Stücke der Gruppe, von Adriano Shaplin geschrieben, der auch selbst mitspielt. Es ist ein Stück über Amerika in der hysterischen Atmosphäre des Irak-Kriegs. Aber es ist auch ein Stück über die Denk- und Reaktionsweise von Soldaten und darüber hinaus über die conditio humana. Das ist ungemütlich. Politisches Theater am Puls der Zeit. Und im Verzicht auf Mittel ein Extrem. Von Sinnlichkeit - keine Spur. Die Riot Group baut auf das Wort. Szenisch ist sie mit ihrem Minimalismus an einem Ende angelangt.
Als genaues Gegenstück erweist sich die dänisch-schwedische Mermaid nach Hans Christian Andersen, die man, in Analogie zum "Handlungsballett", "Handlungsakrobatik" nennen könnte. Knapp am Rande des Kitsches liefert die Mischung aus Zirkus und Schauspiel Bilder von dichter Poesie. Alltäglich ist das jedenfalls nicht.
Gegen Kitsch gefeit ist Christoph Marthaler. Denn wo Sentimentalität sich einstellen könnte, schaltet sich bei ihm automatisch die Ironiesicherung ein. Mit welchem Ensemble Marthaler und seine unvermeidliche Bühnenbildnerin Anna Viebrock auch arbeiten - es kommt stets das vertraute Marthaler-Design heraus, und das ist nicht despektierlich gemeint. Auch die in den Niederlanden einstudierten Seemannslieder tragen seine unverwechselbare Handschrift. So konsequent arbeiten nur noch Jérôme Deschamps und Pina Bausch, an die Marthaler in mancher Beziehung denken lässt. Am wenigsten haben seine szenischen Absagen an eine Dramaturgie der Kausalität mit den gefälligen Liederabenden eines Franz Wittenbrink zu tun.
Und was singt die Region im Zeitalter von Hartz IV und Ich-AG? Den Schwabenblues. Den Sozialdemokraten Felix Huby und seinen Koautor Jürgen Popig bewegt nicht der Bauernkrieg wie einst Yaak Karsunke, nicht die Badische Revolution wie Walter Moßmann und Cornelius Schwehr in ihrer Oper Heimat und nicht das Dorfleben im Dritten Reich wie Thomas Strittmatter, sondern das Schicksal der Unternehmerfamilie Hohner. Am Schluss steht der Mundharmonikafabrikant vor dem Bankrott. Von den Arbeitern ist nicht die Rede. Volkstheater? Nein, eher schon: Schröders Hoftheater.
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