Kein Minderheitenschutz in der Kultur

Wende allenthalben Das Weltfilmfestival in Montreal mit Trend zum Konservativen

Es ist neun Uhr. Die Vorstellung sollte beginnen. Da öffnet sich die linke vordere Tür des voll besetzten Filmpalasts, drei Männer tragen einen Konzertflügel herein, schrauben die Beine fest und adjustieren Notenstütze und Deckel. Ein Mann mit Jeansjacke und Rucksack läuft vor der ersten Sitzreihe hin und her und redet, heftig gestikulierend, in sein Handy.

So komisch geht es nur im Kinosaal zu. Auf der Leinwand ist alles viel ernster und vor allem ökonomischer. Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Im 25. Jahr des Montrealer Festival des Films du Monde lobtadelt Kanadas seriöse Globe and Mail: »In einer businessverrückten Welt bleibt das Montrealer Festival eine Bastion der aristokratischen Gleichgültigkeit gegenüber der geschäftlichen Seite des Films.« Der Artikel konstatiert die verlorene Schlacht gegen die Konkurrenz in Toronto, die stets drei Tage nach dem Montrealer Ereignis ins Rennen geht - das einzige A-Festival Nordamerikas hie, der größte kommerzielle Umschlagplatz des Kontinents für Filme dort - und zitiert die französischsprachige Zeitung La Presse: »Keine Atmosphäre, und weniger bis keine Stars, Produzenten oder Verleiher.«

Was früher als Norm galt, wird heute als auffällig registriert: die Priorität des künstlerischen Aspekts bei Filmfestivals. Jüngeren Journalisten scheint ein Unternehmen ohne Verkaufserfolge ohnedies exotisch. Aber auch Montreal kann sich seine Unschuld nicht bewahren. Auch hier macht sich, wenn nicht im Programm, so doch in den Couloirs, das Business breit, das längst die großen Kinos in aller Welt besetzt hält, zunehmend auf Kosten einer Kunst, die nicht nach Brot geht.

Das Publikum, zum Glück, schert´s nicht. Es strömt massenhaft zu Filmen, die es anderswo nicht zu sehen bekommt, und widerlegt damit die hartnäckige Lüge, »so etwas« interessiere doch niemanden. Das Problem des Films: Er ist, anders als ein Roman, eine Komposition, ein Bild, meist zu teuer, um - als Kunst wiederum - die Herstellungskosten auf dem freien Markt einzuspielen. Deshalb benötigt Filmkunst die öffentliche Förderung. Der Trend freilich geht in die umgekehrte Richtung. Auch die in Mitteleuropa bislang subventionierten traditionellen Künste sollen zunehmend dem Markt überlassen werden, wenn sie Glück haben und artig sind, unterstützt von Sponsoren und Mäzenen. Kein Minderheitenschutz in der Kultur. Kein richtiges Leben im falschen. Pearl Harbour kann das überleben. Ein genial-anarchischer Film wie Emir Kusturicas Super 8 Stories wohl kaum.

Dabei haben die deutschen Filmemacher alle Ursache, zufrieden zu sein. Montreals Serge Losique, dem Begründer und Immernoch-Direktor des Festivals, hat es gefallen, nicht weniger als 20 Spielfilme und 23 Kurzfilme aus Deutschland einzuladen, davon sechs für den Wettbewerb, dazu noch vier Koproduktionen, an denen Deutschland beteiligt war. Eine eigene Reihe war heuer dem deutschen Film gewidmet. Man wünschte den derart Geehrten ein wenig von der Geisteshaltung eines Musikers, dem eine Einladung nach Donaueschingen schmeichelhafter erscheint als ein zweifelhafter Quotenerfolg.

In den deutschen Beiträgen häuft sich die Lieblosigkeit, die Sehnsucht nach Zärtlichkeit und Geborgenheit. Aber die jüngeren Regisseure interpretieren den Befund nicht als Ausdruck sozialer Kälte. In ihrer Sicht müssten nur die Menschen besser sein - dann wären alle Probleme gelöst. Ihre Filme verweilen im Faktischen, kolportagehaft (wie Vanessa Jopps Engel Joe), oder, nach dem Vorbild Ödön von Horváths und des jungen Fassbinders, stilisiert (wie Iain Diltheys Ich werde dich auf Händen tragen).

Interessanter sind da allemal jene Filme, die mehrere Lesarten zulassen, unter der visualisierten Oberfläche eine weitere Wahrheit mitzuteilen haben. Zum Beispiel Michael Kliers Heidi M., auf den ersten Blick die genau inszenierte Geschichte einer von ihrem Mann verlassenen Frau in mittleren Jahren, die mühsam nach neuen sozialen und sexuellen Kontakten sucht, darüber hinaus jedoch eine subtile Parabel über die Orientierungslosigkeit in den Neuen Bundesländern, über die Weigerung des Westens, die Wende für die Betroffenen begreifbar zu machen. Oder die polnisch-schweizerisch-deutsche Koproduktion Weiser von Wojciech Marczewski, die, bei der Berlinale wenig beachtet, in Montréal ihre nordamerikanische Premiere erlebte. Scheinbar die Geschichte des rätselhaften Verschwindens eines Kindes, ist dies in Wirklichkeit ein Film über Schuld und Erinnerung, über Aufarbeitung von Geschichte und über Mechanismen der Verdrängung. Bedenkt man, dass der verschwundene Knabe ein Jude ist, der bei seinem ersten Auftritt im Film nur eben deshalb von seinen Mitschülern misshandelt wird, berücksichtigt man zudem, dass die Geschichte just in der Zeit spielt, da es im kommunistischen Polen zu einer neuen antisemitischen Welle kam und eine große Zahl der Juden aus dem Lande »verschwanden«, dann ist die brisante Botschaft nur unschwer zu entschlüsseln. Freilich bleiben solche Zusammenhänge verborgen, wenn man, wie die Kanadier, die Lage im gegenwärtigen Deutschland, wenn man, wie in Deutschland, die jüngste polnische Geschichte nicht kennt.

Selbst die besseren Filme jedoch verharren auf der erzählerischen Ebene in einem psychologischen Realismus, der bereits veraltet war, als der Tonfilm erfunden wurde. Die Aufmerksamkeit wird auf den Fortgang der Handlung, niemals auf das nächste Bild, die nächste Montage gelenkt. Die Errungenschaften der Avantgarde, bei Alexander Kluge einst noch bewahrt, sind aus dem deutschen Film endgültig verschwunden.

Ausschließlich aus Klischees, inklusive Saties Gymnopédie Nummer 3 und dem Zukurzgekommenen, der seine Frau bespringt, wenn er im Fenster gegenüber eine Nackte beobachtet hat, besteht Joseph Vilsmaiers neuer Film Leo und Claire, der im Wettbewerb uraufgeführt wurde. Hier erinnert nichts mehr an eine Wirklichkeit und jede Einstellung an vorausgegangene Filme, was nicht weiter schlimm wäre, wenn nicht mit dem Kredit einer »wahren Geschichte« gewuchert würde. Das ist Handwerk ohne die geringste Inspiration und schadet, so gut es gemeint sein mag, mehr als es nützt.

Ohne Klischees geht, scheint´s, gar nichts. Und Klischees enthalten schließlich stets einen wahren Kern. Deshalb wurden sie zu Klischees. Aber Klischees verändern sich. Und wenn die aktuellen Klischees etwas aussagen über das aktuelle Bewusstsein, dann sieht es düster aus für die Utopien von gestern. Bei Michael Klier überreicht der sympathisch gezeichnete Liebhaber der verlassenen Frau einen Ring als Symbol der angetragenen Verlobung. Sie aber gerät, wie die Protagonistin in My Name Is Joe von Ken Loach, in Panik, brüllt, läuft davon. (Warum machen sich Männer, jedenfalls im Film, stets stillschweigend aus dem Staub, wenn eine mögliche Bindung sie schreckt?) Auch in Engel Joe wird bedeutungsvoll ein milieugerechter Verlobungsring angeboten. Hier freilich kommt es erst zum Skandal, als sich herausstellt, dass der Ring von einer anderen Frau stammt. Bei den Nachwuchsregisseuren (und -regisseurinnen, wohlgemerkt) erstreben die jungen Frauen, nein, Mädchen nichts dringlicher als geheiratet zu werden. Wende, wie man sieht, allenthalben.

Der Konzertflügel war übrigens für die Abendvorstellung. Metropolis mit Live-Musik! Richtiges Leben im falschen.

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