Alle reden von Goethe. Fünfzig Jahre nach Goethe aber, heuer also wie jener wegen des runden Geburtstags Jubilar, erblickte, wie man so optimistisch sagt, der größte russische Dichter das Licht (oder vielleicht doch die Finsternis?) der Welt, der den deutschen Kollegen freilich nur um fünf Jahre überlebte. Wie kommt es, daß man außerhalb seiner Heimat allenfalls den Namen, nicht aber sein Werk kennt? Die auf so unerfreuliche Weise verkürzte Lebenszeit kann's wohl nicht sein. (Goethe als Opfer eines Duells: welche eine Vorstellung!) Könnte es daran liegen, daß Tiefsinn höher punktet als Ironie, ein Menschheitsdrama höher als die Tragikomödie des einzelnen Menschen, die Nähe zur idealistischen Philosophie höher als die Vorwegnahme moderner Psychologie, das Symbolhafte höher als das lustvoll Erzählerische?
Lust: genau das ist es, was Alexander Puschkins opus magnum, der Eugen Onegin, bis heute weit spendabler gewährt als der deutsche Faust (mit dem sich, nebenbei, auch Puschkin beschäftigte). Wer nur die Fabel kennt, nämlich über Tschaikowskis Oper oder auch John Crancos Ballett, kennt ihn überhaupt nicht, den russischen Dandy, diesen frühen »überflüssigen Menschen«, der Byrons Langeweile, den »Ennui« für die slavischen Literaturen erobert hat und mit einer neuen Dimension versah. Denn Puschkin hat ein Poem geschrieben, eine Verserzählung, einen »Roman in Versen«, in dem die Form nichts weniger ist als Beiwerk, in dem jeder Reim, jede rhythmische Abweichung vom Metrum, jedes lautmalerische Detail Bedeutung trägt und der deshalb für manche bis heute als unübersetzbar gilt. Dabei haben wir Glück. Rolf-Dietrich Keil hat vor knapp zwanzig Jahren einen neuen Versuch unternommen und dabei das bisherige Optimum einer Übersetzung erreicht. Es gibt also keine Entschuldigung mehr für die Nachlässigkeit, sich einer der vergnüglichsten, geistreichsten und zugleich ergreifendsten Lektüren zu berauben, die die Weltliteratur zu bieten hat. (Ach Gott, wie platt ist Gretchens Tragödie gegen die der Tatjana Larina. Darüber kann doch der Tod der einen und das Überleben der anderen nicht hinwegtäuschen!) Wie sehr dieses Meisterwerk Demut als adäquate Haltung einfordert, mag die Tatsache erhellen, daß sich der bedeutende Literaturtheoretiker Jurij Lotman nicht zu fein war, 1980 einen umfangreichen Kommentar als Lehrerbehelf zu schreiben.
Keils Onegin-Übersetzung wurde nun neu aufgelegt, als eine der zahlreichen Veröffentlichungen zum 200. Geburtstag Puschkins, darunter eine umfangreiche Biographie von Keil und eine schelmisch-dichterische Annäherung an den Dichter durch den Autor des Puschkinhauses Andrej Bitow. Es gehört gewiß zu den dämlichsten Verlagsstrategien, den Zufall von Geburts- und Todestagen zum Anlaß für Publikationen zu machen, aber wenn dies dazu führt, daß Puschkin neue Leser findet, soll es uns recht sein. Es wäre uns auch 1998 oder 2000 recht gewesen.
Die Gedichtausgabe, die der Insel-Verlag zum Jubiläum in der Übersetzung von Micha el Engelhard und, lobenswert, auch zweisprachig (sowie nach Art des Hauses zweitverwertet in einer Taschenbuchauswahl der Erotischen Gedichte) herausgebracht hat, zeigt uns Puschkin als einen äußerst produktiven Lyriker, der schon als Gymnasiast, mit vierzehn Jahren bemerkenswerte Gedichte - gelegentlich in französischer Sprache - schrieb, aber auch mit sechzehn, hellsichtig, wie wir mit dem bessern Wissen der Nachgeborenen spekulieren können, frühzeitig melancholisch oder auch bloß einer zeitgenössischen Mode folgend (Keil kommentiert es als Parodie), sein Epitaph verfaßte, mit Kreuzreim sowie einer rhythmisch bewegten und verbalen Saloppheit im Original, die die Übertragung nur andeutungsweise trifft: Dies hier ist Puschkins Grab; mit Musen, heiterem Sinn, / Mit Lieb und Müßiggang bracht er sein Leben hin; / Er tat nichts Gutes - doch verfiel er nie dem Bösen, / Und ist, beim Himmel, gut gewesen. Hier stößt man auf jenes später in der Poem Ruslan und Ljudmila aufgenommene Märchengedicht, das Mascha in Tschechows Drei Schwestern nicht aus dem Kopf gehen will. In Engelhards Übertragung hebt es an: »Am Meersaum rauscht die Eiche leise; / Die goldene Kette hängt am Ast; / Der kluge Kater geht im Kreise / An dieser Kette ohne Rast. Nein, ganz glücklich kann man nicht sein damit, wenn die Eiche nicht mehr, wie im Original, im zweiten Vers wiederholt wird, wenn der Kater um des Metrums willen klug statt gelehrt ist (metrisch präziser wäre auch »gold'ne« anstatt »goldene«, aber Engelhard »haßt«, wie sein Herausgeber entschuldigt, den Apostroph - die »Lieb« im Epitaph nahm er dennoch in Kauf) und nicht mehr »Tag und Nacht« im Kreise gehen darf, weil »ohne Rast« um zwei Silben länger ist als die schlichte russische Entsprechung und weil zwei weitere Silben für das Fürwort »dieser« benötigt werden, wo das Russische ohne auskommt. Ganz zu schweigen vom Verlust der suggestiv dunklen lautlichen Qualität dieser Verse im Original. Aber das ist nun einmal das Gfrett mit Übersetzungen, zumal von Lyrik. Liegt hier die Antwort auf die Frage, warum Puschkin außerhalb Rußlands nicht so berühmt ist, wie er es verdiente? Goethe hatte Glück. Boris Pasternak hat seinen Faust ins Russische übertragen. Einen deutschen Pasternak, pardon Herr Engelhard, hat Puschkin noch nicht gefunden.
Bei der Edition der Prosa war Katja Wagenbachs Friedenauer Presse dem Jubiläumsdatum voraus. In der Reihe Wolffs Broschur, die einen russischen Schwerpunkt hat, erschien bereits 1998 Puschkins Bericht über Die Reise nach Arzrum während des Feldzugs im Jahre 1829. Nun hat der kleine aber feine Verlag die Erzählungen, neu übersetzt und herausgegeben vom bewährten und philologisch gewissenhaften Peter Urban, der bereits 1967 in der Zeit unter dem Titel Noch kein Gipsding die Qualität der deutschen Puschkin-Übersetzungen beklagt hatte, in vertrauter vorbildlicher Buchgestaltung - Lesen kann mehr sein als die mechanische Aufnahme von Buchstaben - auf den Markt gebracht. Die Romane in vergleichbarer Ausstattung sind angekündigt.
Zunächst wird auch der Leser, für den Puschkin Neuland ist, auf bekannte Signale stoßen. Auf Pique Dame, die er bisher, wie den Onegin, für eine Oper Tschaikowskis hielt. Oder auf den Postmeister, den der grob-sentimentale Heinrich George einst eher als das deutsche Klischee vom Russen denn als Russen spielte - unbekannt ist dagegen hierzulande die Verkörperung der Figur durch Iwan Moskwin vom Moskauer Künstlertheater in einem Stummfilm von 1925 - und der jetzt in Urbans Übersetzung genauer Der Stationsaufseher heißt. Er gehört zu den Erzählungen des verstorbenen Ivan Petrovic Belkin, einem erzähltechnisch raffinierten, spannenden Zyklus, der seiner Entstehungszeit weit voraus war und wie in der deutschen Literatur allenfalls Kleists Novellen und Anekdoten hohen ästhetischen Anspruch mit narrativer Süffigkeit zu verknüpfen versteht. In seinem kurzen Nachwort weist Peter Urban überzeugend und unter Nennung von einzelnen Titeln nach, daß Lermontow, Gogol, Turgenjew, Saltykow-Schtschedrin, Dostojewski, Tolstoj, Tschechow, Gontscharow und noch Charms und Babel von Puschkins Erzählprosa inspiriert wurden.
Der Aufbau-Verlag hat zum Jubiläum in seine Bestände gegriffen und eine dreibändige Werkausgabe zusammengestellt. Auf die Gedichte muß man hier verzichten. Dafür findet man neben der erzählenden Prosa, darunter einige der schönsten Kunstmärchen der Weltliteratur, und den Poemen (einschließlich des Eugen Onegin in der bejahrten, überarbeiteten Übersetzung von Theodor Commichau) - einer dem Versepos zumindest verwandten, wenn nicht mit ihr identischen Gattung, die bei keinem europäischen Schriftsteller der Neuzeit eine so zentrale Stellung einnahm wie eben bei Puschkin - die Dramen. Auch hier entdeckt der Leser einen Text, der ihm wohl eher als Opernlibretto vertraut ist: Boris Godunow. Nur zehn Druckseiten lang ist das Drama Mozart und Salieri. Und wenn man in Keils Biographie nachlesen kann, daß Puschkin - unter anderem in Bezug auf Boris Godunow - Plagiat vorgeworfen wurde, so mag man sich fragen, ob Peter Shaffer nicht bei Puschkin jenen Einfall für Amadeus aufgespürt hat, der ihm via Milos Forman Weltruhm einbrachte. Für die Ausgabe spricht der sensationell günstige Preis. Daß hier von Novellen die Rede ist, wo die Friedenauer Presse von Erzählungen spricht, sollte nicht verwirren. Die russische Literatur kennt für diese wie jene und gelegentlich sogar für kürzere Romane nur einen Begriff. Gattungssysteme sind Setzungen und nicht universal. Eins der Poeme, Der eherne Reiter, ist auch in einer neuen Übersetzung von Rolf-Dietrich Keil und mit den charakteristischen Illustrationen von Alexander Benois aus den zwanziger Jahren in der langlebigen Insel-Bücherei erschienen.
Die utilitaristische, soziologistische und vulgärmaterialistische Literaturkritik des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts hat Puschkins Werk so sehr für ihre Interessen zu instrumentalisieren versucht oder, wenn das nicht gelang, abgelehnt, daß die formalistische und strukturalistische Kritik ihrerseits polemisch und ebenso dogmatisch darauf reagierte. Diesem Werk wird nicht gerecht, wer es einseitig lediglich als Sprachspiel oder nur als Abbildung der gesellschaftlichen Wirklichkeit betrachtet. Es ist beides in ganz ungewöhnlichem Ausmaß. Wer etwas, subjektiv gebrochen, über das Rußland des frühen neunzehnten Jahrhunderts wissen will, über die Rolle einer blasierten Aristokratie, deren letzte Ausläufer uns fast ein Jahrhundert später in Tschechows Dramen begegnen, über psychische Vorgänge, die die Wissenschaft ebenfalls erst knapp ein Jahrhundert später zu erklären ansetzte, kann all dies kaum vergnüglicher und differenzierter erfahren als von Puschkin. Wer den Genuß zu schätzen weiß, den der virtuose Umgang mit den Mitteln der Sprache und mit poetischen und erzählerischen Techniken zu gewähren vermag, wird - mit den Abstrichen, die eine Übersetzung naturgemäß erfordert - bei Puschkin fündig werden wie bei nur wenigen Schriftstellern seiner Zeit. Dem Genie des Russen nähert sich freilich nur adäquat, wer die Einheit von ästhetischer Verarbeitung und gesellschaftskritischem Potential erfaßt. Der ganze Puschkin muß es sein. Der 200. Geburtstag liefert die Gelegenheit. Er hat sein Gutes.
Alexander Puschkin: Jewgeni Onegin. Roman in Versen. Aus dem Russischen und mit einem Vorwort und Erläuterungen von Rolf-Dietrich keil. insel taschenbuch 2524, Frankfurt am Main und Leipzig 1999, 271 Seiten, 17,80 DM
Alexander Puschkin: Die Gedichte. Russisch und deutsch. Aus dem Russischen übertragen von Michael Engelhard. Herausgegeben von Rolf-Dietrich Keil. Insel-Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 1999, 1.127 Seiten, 148,- DM; dass. einsprachig: bis zum 31. 12. 1999: 78,- DM
Alexander Puschkin: Erotische Gedichte. Aus dem Russischen übertragen und herausgegeben von Michael Engelhard. insel taschenbuch 2526, Frankfurt am Main und Leipzig 1999, 159 Seiten, 12,80 DM
Aleksandr Puskin: Die Reise nach Arzrum während des Feldzugs im jahre 1829. Aus dem Russischen übersetzt und herausgegeben von Peter Urban. Friedenauer Presse, Berlin 1998, 128 Seiten, 28,- DM
Aleksandr Puskin: Die Erzählungen einschließlich der Fragmente, Varianten, Skizzen und Entwürfe - mit einem Nachwort, einer Zeittafel und Anmerkungen. Neu übersetzt und herausgegeben von Peter Urban. Friedenauer Presse, Berlin 1999, 488 Seiten, 49,- DM
Alexander Puschkin: Ausgewählte Werke. Drei Bände. Herausgegeben von Harald Raab. Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1999, 400 + 480 + 440 Seiten, 48,- DM
Alexander Puschkin: Der eherne Reeiter. Eine Petersburger Erzählung. Aus dem Russischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Rolf-Dietrich Keil. Insel-Bücherei 1195, Frankfurt am Main und Leipzig 1999, 63 Seiten
Rolf-Dietrich Keil: Puschkin. Ein Dichterleben. Biographie. Insel-Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 1999, 451 Seiten, 24,80 DM
Andrej Bitow: Puschkins Hase. Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze. Insel-Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 1999, 194 Seiten, 38,- DM
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