Living Theatre in Berlin und Stuttgart

Musik Eine Legende ist auferstanden: Das Living Theatre hat eine Inszenierung rekonstruiert, die vor mehr als vier Jahrzehnten für Furore gesorgt hat. ...

Eine Legende ist auferstanden: Das Living Theatre hat eine Inszenierung rekonstruiert, die vor mehr als vier Jahrzehnten für Furore gesorgt hat. Anfang Mai gastiert es im alten Gebäude der Akademie der Künste, in dem es schon 1964 mit The Brig von Kenneth H. Brown auftrat; von 8. bis 11. Mai ist es dann im Stuttgarter Theaterhaus zu sehen. Das Stück hat nach all den Jahren auf erschreckende Weise an Aktualität gewonnen. Es geht um Gewalt in einem amerikanischen Militärgefängnis - allerdings nicht gegenüber dem "Feind", sondern gegenüber Soldaten der eigenen Marineinfanterie.

Das Gastspiel erinnert an eine Kultur, die schon fast in Vergessenheit geraten ist. In den sechziger Jahren, sprach man von Sub- oder Alternativkultur, der von Theodore Roszak geprägte Begriff hieß counter culture. Für das Theater repräsentierte sie sich in den zahlreichen Freien Theatergruppen. Deren Opposition richtete sich gegen die Staats- und Stadttheater und in den USA wie in Großbritannien gegen den seichten Anspruch der kommerziellen Bühnen am Broadway und im Londoner Westend. Für viele Freie Gruppen und für das Living Theatre war die Vorstellung des Kollektivs nicht eine bloß ästhetische Kategorie. Man war mehr als ein Ensemble, man war eine Kommune.

Nicht alle Erfahrungen waren positiv. Aber die Erinnerung daran lohnt sich allemal. Denn von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, hat sich in den vergangenen Jahren auf dem Theater ein grundlegender Wandel vollzogen. An den großen Bühnen zwischen Wien und Berlin kann man dieselben Spitzenschauspieler sehen. Was in der Oper seit langem üblich war, dass die berühmten Sängerinnen und Sänger den Ehrgeiz hatten, die Liste der "großen Häuser", an denen sie aufgetreten waren, zu erweitern, hat sich am Sprechtheater eingebürgert. Ensembles im strengen Sinn findet man heute allenfalls in der geschmähten Provinz oder eben bei den verbliebenen Freien Gruppen.

Starregisseure wie Peter Zadek oder Peter Stein hatten schon zuvor, wenn sie eine Gastregie übernahmen, gerne ihre Lieblingsdarsteller mitgebracht. Nun aber gehören viele prominente Schauspieler gar keinem Ensemble oder gleich mehreren Ensembles an. Die Billigflüge mögen da eine Rolle spielen sowie der Wunsch der Theaterleute, für (gut bezahlte) Fernsehangebote freie Hand zu haben. Der Theaternarr muss nicht mehr reisen, um bestimmte Schauspieler zu sehen - sie kommen zu ihm.

Das hat zur Folge, dass sich nicht nur die Spielpläne, sondern auch die Besetzungen an den großen Bühnen immer ähnlicher werden. Die einst belächelte Strategie der Tourneetheater - auf wenige berühmte Namen zu setzen, mit denen man dann die Stadthallen landauf landab bereiste - ist in den Staatstheatern angekommen. Sehgewohnheiten, die sich eher dem Film und dem Fernsehen verdanken, die Fixierung auf Stars und die Isolierung einzelner Leistungen, greifen auf das Sprechtheater über. So schön es für das örtliche Publikum sein mag, Künstler von besonderem Talent leibhaftig zu sehen: gegenüber den ansässigen Schauspielern ist diese Veränderung unfair. Der eingeflogene Kollege suggeriert ja, dass die Rolle aus dem Stamm der Angestellten nicht zu besetzen war.

Das Beharren auf dem Ensemblegedanken aber war Bedingung der Freien Gruppen, und so besteht ein Zusammenhang zwischen der Preisgabe der Ensemblekonzeption und der Marginalisierung von Freien Gruppen. Mehr noch: in beidem, im Repräsentationstheater der reisenden Stars wie im Verlust der Freien Gruppen spiegelt sich die gesellschaftliche Entwicklung der vergangenen 40 Jahre von kollektivistischen Utopien zum rücksichtlosen Individualismus, von der Solidarität zur Konkurrenz, vom Sozialstaat zum Neoliberalismus.

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