Die Situation ist, genau betrachtet, absurd. Wer nichts von Nabokov weiß, wer keines seiner Bücher gelesen hat, kennt doch den Namen Lolita und glaubt zu wissen, worum es in dem Roman geht, der diesen Titel trägt. Schuld daran ist der »Skandal«. Er hat den Weg zu einem der größten Sprachkünstler des zwanzigsten Jahrhunderts verstellt. Schuld tragen aber auch die Verfilmungen, die ihrerseits Folgen und Verbreiter des »Skandals« sind. Denn so problematisch Literaturverfilmungen grund sätzlich sind: im Fall von Lolita scheinen die Probleme unermeßlich. Es ist das Schicksal von Verfilmungen, die Story zu veräußerlichen, weil ihr bevorzugtes Material die Schatten menschlicher Körper, die wirkungsvolle Vortäuschung einer physischen Realität sind.
Jede Bemühung, die Grenze zwischen »Realität« und »Phantasie« innerhalb der Fiktion verschwimmen zu lassen, ist im Film zum Scheitern verurteilt. Das mußte auch Michael Haneke erfahren, als er Peter Roseis Wer war Edgar Allan? verfilmte. Für Lolita ist die Unentscheidbarkeit bezüglich der »Wahrheit«, die Humbert Humbert erzählt, konstitutiv. Dieser Roman - schon der dritte Satz, in dem der Name Lo-li-ta durch seine Artikulation beschrieben wird, sollte das unmißverständlich deutlich machen - hat das Täuschungspotential der Sprache zum eigentlichen Thema, er besteht aus Sprache, die in einer Weise verwendet wird, die sich dem Film fast völlig entzieht, nämlich ironisch. Ironie bedarf eines Erzählers, sie entspringt der Differenz zwischen Gesagtem und Gemeintem. Der Erzähler aber, im Film allenfalls als voice over präsent, ist dem Medium wesensfremd. Deshalb ist auch die erste Verfilmung durch den kürzlich verstorbenen Stanley Kubrick, obgleich gelungener als die jüngste Verfilmung von Adrian Lyne mit Jeremy Irons anstelle von James Mason, unbefriedigend.
Damit kein Mißverständnis aufkommt: Nicht irgendeine obskure Texttreue ist das Kriterium für dieses Urteil, sondern die Frage, ob der Regisseur für das andere Medium Entsprechungen gefunden hat, die nicht hinter den Leistungen des Romans zurückbleiben. Wenn aber, um ein Beispiel zu nennen, Kubrick, offenbar von seinem Dr. Strangelove Peter Sellers als Quilty fasziniert, aber auch der objekitivierenden Kraft des Mediums erliegend, keinen Zweifel daran läßt, wer Humbert Humbert im Auto verfolgt, wo bei Nabokov der über viele Seiten anhaltende Reiz gerade in der durch die Perspektive bewirkten Ungewißheit liegt, dann ist das ein Verlust, kein Gewinn gegenüber der Vorlage.
Trotzdem scheint auch Nabokov selbst an die Verfilmbarkeit seines Romans geglaubt oder sie jedenfalls aus taktischen Gründen für möglich gehalten zu haben. Denn, was wenig bekannt ist: der erste, später verworfene Drehbuchentwurf zu Kubricks Film stammt von ihm. Nun liegt er, von Dieter E. Zimmer, dem gewissenhaften Herausgeber und Übersetzer der deutschen Werkausgabe, um bisher unveröffentlichtes Material erweitert, erstmals in deutscher Sprache vor und gestattet einen Einblick in die Werkstatt des Schriftstellers sowie einen Vergleich mit den realisierten Verfilmungen. (An den Übersetzer eine klitzkleine Anfrage: muß man »painful« tatsächlich mit »peinvoll« übertragen?)
In seinem Vorwort, einer meisterhaften Miniature Nabokovscher (Selbst-)Ironie, vermerkt der konziliante Drehbuchdebütant, offenbar resigniert zum Resultat, das er auf der Leinwand zu sehen bekam: »Die Modifikationen, die Verballhornung meiner besten kleinen Funde, die Weglassung ganzer Szenen, die Hinzufügung neuer sowie alle möglichen anderen Änderungen hatten vielleicht nicht ausgereicht, meinen Namen aus dem Vorspann zu tilgen, aber sie machten den Film dem ursprünglichen Drehbuch zweifellos so ungetreu, wie es die Rimbaud- oder Pasternak-Übersetzung eines amerikanischen Dichters ist.« Dieser Satz ist in mehrfacher Hinsicht subtil. Der Vergleich mit einer Übersetzung trifft das Verhältnis zwischen Drehbuch und Film, aber auch bereits jenes zwischen Roman und Drehbuch. Auch Nabokov also war ein Übersetzer seiner selbst, als er sich widerstrebend auf das Projekt einließ. Daß er von einem Dichter, nicht bloß einem Übersetzer spricht, kann als Kompliment an Kubrick verstanden werden: es gesteht dem Regisseur immerhin künstlerische Kompetenz zu. Daß er diesen Dichter des Vergleichs jedoch ohne Not als amerikanisch spezifiziert, weist auf eine Differenz hin, die sich noch über jene zwischen Literatur und Film lagert: die Differenz zwischen der europäischen und der amerikanischen Tradition. So sehr Kubrick in Hollywood Außenseiter blieb - sein Film ist ein in England gedrehter durch und durch nord amerikanischer Film. Nabokovs Roman hingegen ist ein europäischer Roman, der in den USA spielt. Rimbaud und Pasternak sind ihm verwandter als Whitman oder William Carlos Williams.
Der bedeutendste Eingriff Kubricks in Nabokovs Drehbuch war eine radikale Kürzung. Wenn selbst ein so unkonventioneller und ästhetisch sensibler Mann wie der Regisseur von 2001 oder Barry Lyndon, dessen letzter Film sich, in diesem Zusammenhang bemerkenswert, an den im englischen Sprachraum nicht übermäßig populären Arthur Schnitzler heranwagt, wenn selbst Kubrik vor der von Nabokov angepeilten (allerdings auch unterschätzten) Überlänge zurückschrak, besagt das etwas über den medialen und institutionellen Zwang zur Kürze, der von vornherein verbieten sollte, solche Romane zu Filmvorlagen zu machen, für die Ausführlichkeit eine unverzichtbare Bedingung ist.
Trivialromane verlieren nichts, wenn man einen Handlungsstrang streicht, Dialoge verknappt, Abläufe auf ihren Kern reduziert. Kunstwerke aber, deren Form den Inhalt ausmacht, sind nicht beliebig kürzbar. Die Reduktion auf den »plot«, die Fabel, ist der katastrophale Irrtum, mit dem der Großteil der Literaturverfilmungen in Tateinheit mit großen Teilen der Literaturkritik à la »Literarisches Quartett« das Verständnis von Kunst torpedieren. In der bildenden Kunst ist das jedermann klar. Wer von einem Bild sagt, es gehe darin um die Kreuzigung Christi, hat noch nicht bestimmt, worin der Unterschied zwischen einem Grünewald-Altar und dem Kitsch in Großmutters Schlafzimmer besteht. Und man stelle sich die Aufführung einer Beethoven-Symphonie ohne den vierten Satz oder unter Streichung von 64 Takten pro Satz vor. Daß Ähnliches in den neu entstandenen populären Klassikrados tatsächlich passiert, macht den Schwachsinn noch nicht verzeihlicher.
Das im Zusammenhang mit Kubrick genannte Problem formuliert Dieter E. Zimmer in seinem Nachwort so: »Wie läßt sich Humberts Rivale und Widersacher Quilty gleichzeitig sichtbar und unsichtbar machen?« Daß diese Gleichzeitigkeit für den Roman entscheidend, für die Charakterisierung seines paranoiden Helden nicht weniger wichtig ist als seine Obsession mit pubertierenden Mädchen, ist so offensichtlich, die Fehlentscheidung Kubricks so eklatant, daß man sich nur darüber wundern kann, wie wenig Beachtung ihr die Filmkritik schenkte. Nabokov selbst hatte, wie Kubrick und abweichend vom Roman, das Ende, die Ermordung Quiltys, im ersten Teil eines ausufernden, auf mehreren zeitlichen Ebenen spielenden und in der Tat nicht sehr filmisch gedachten Prologs vorangestellt. Diesen Anfang des Prologs strich er dann in der Buchfassung des Drehbuchs. Aber anders als Kubrick läßt er Quilty - und das ist von eminenter Bedeutung - eine Maske tragen, die nicht Beiwerk, sondern in einer anderen ebenfalls gestrichenen Szene motiviert ist. Man mag darüber streiten, ob der Prolog überhaupt sinnvoll ist. Aber wenn sich Kubrick doch dafür entschied, seinen ersten Teil zu inszenieren, hätte er auf die Maske nicht verzichten dürfen. Sie ist die materielle Minimalentsprechung zur durch Sprache erzeugten faszinierenden Ambiquität der Romanvorlage. Im übrigen läßt Nabokov, als hätte er Angst vor der Konkretheit des Bildes, seinen Prolog nur mit Ton, also einer Stimme aus dem Dunkel, beginnen.
An der erwähnten Stelle, an der Humbert und Lolita im Auto verfolgt werden, schreibt Nabokovs Drehbuch vor: »Quilty sorgt dafür, daß er ein flüchtiger Schatten bleibt, ein geisterhaftes Raubtier, während er Humbert auf der Spur bleibt, ihn bald überholt, bald erwartet. Humberts Angst und Wut werden noch dadurch gesteigert, daß er nicht weiß, ob es ein Detektiv oder ein Liebhaber ist.« Wie das filmisch umzusetzen sei, scheint Nabokov nicht zu kümmern.
Bezeichnend ist aber auch die Hilflosigkeit Nabokovs beim Versuch, die Verzauberung Humbert Humberts bei der ersten Begegnung mit Lolita, seinem ersten Blick auf sie filmisch umzusetzen. Kubrick vertraute im berühmtesten Bild seines Films auf die Laszivität des eher von der Kamera als von Humbert betrachteten Objekts. Nabokov zitiert in einer Regieanweisung wörtlich aus seinem Roman und schlägt vor, die darin enthaltene »erweiterte Metapher« zu filmen, wobei er dem Zitat in Klammern seine Vorstellung der Umsetzung hinzufügt: »Als wäre ich die Märchenamme einer kleinen Prinzessin (Humbert als alte Amme), verlaufen, geraubt, in Zigeunerlumpen wiedergefunden, durch die ihre Nacktheit den König und seine Meute anlächelt (Humbert als König), erkannte ich das winzige dunkelbraune Muttermal an ihrer Seite.«
Übrigens wird bei Nabokov jene Zahnspange, die Dominique Swain in Lynes Verfilmung irrwitzigerweise, offenbar zwecks Verjüngung, aber unter Aufopferung der erotischen Attraktivität, den ganzen Film hindurch tragen muß, nur - an einer aus der amerikanischen Druckfassung des Drehbuchs gestrichenen Stelle - angekündigt.
Und die zentrale Szene in den Verzauberten Jägern, die bei Kubrick so prüde ausfiel und damit sogar die Story verfälschte? Im Vorwort verrät Nabokov, daß ihm zunächst der Hinweis in der Schlußszene zugemutet wurde, »Humbert sei die ganze Zeit insgeheim mit Lolita verheiratet gewesen«! An der heik len Stelle verstummen auch bei Nabokov die Regieanmerkungen, aber der Dialog macht deutlich, daß er die Verführung Humberts durch Lolita nicht vorzeitig ausblenden wollte.
Vladimir Nabokov: Lolita. Ein Drehbuch. Nach den Originaltyposkripten zusammengestellt und übersetzt von Dieter E. Zimmer (Gesammelte Werke. Band XV2). Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1999, 344 Seiten, 48,- DM
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