Mick und die Alt-68er

Linker Haken Wenn jemand vor 40 Jahren geirrt und Fehler begangen hat, dann gibt es daraus nur eine Lehre: dass er möglicherweise auch heute irrt

In Martin Scorseses Film Shine a Light gibt es ein Archivinterview, in dem der junge Mick Jagger gefragt wird, ob er sich vorstellen könne, mit sechzig noch auf der Bühne zu stehen. Er kann – und siehe da: der Film tritt den Beweis an. Längst über die Sechzig-Jahr-Marke hinweg, hüpft der Rolling Stones Frontman zwei Stunden lang über die Bretter und singt, als wäre er ein Teenager.
Und im Kino? Da sitzen Frauen und Männer, die, wenn sie keine Enkelkinder haben, jedenfalls solche im Teenageralter und darüber hinaus haben könnten. Rock’n’Roll galt einst als Jugendmusik. Ist er es nicht mehr? Oder hat der Begriff „jung“ seine Bedeutung verändert?
Das Internationale Forum bei der Berlinale trägt nach wie vor das Etikett „Junger Film“ im Namen. Was aber heißt „Junger Film“? Die Zeiten, da man mit einer gewissen Sicherheit davon ausgehen konnte, dass die Alten konservativ und die an Lebensjahren Jungen auch im übertragenen Sinne jung, will sagen rebellisch, unangepasst, für Experimente aufgeschlossen seien, sind in den Künsten wie in der Politik und der Wirtschaft längst Vergangenheit.
Die Retrospektive der Berlinale im Jahr 2008 zeigte Filme von Luis Buñuel und Francesco Rosi. Die beiden Alten lassen so manchen Jungen alt aussehen – politisch der eine, ästhetisch der andere. Und auch die Rolling Stones sind in Wahrheit um viele Jahre jünger als die zwanzigjährigen Greise mit ihrer stilisierten Plastikschönheit und ihrer industriell verfertigten Musik.
Als Feministinnen einsehen mussten, dass Margret Thatcher oder Golda Meir nicht unbedingt überzeugende Beispiele für die natürliche Friedensliebe der Frauen seien, definierten sie einen Unterschied zwischen Gender und Sex und erklärten, „männlich“ und „weiblich“ seien keine biologischen Kategorien. Vielleicht sollte man analog dazu darauf bestehen, dass auch „jung“ und „alt“ nicht biologisch zu bestimmen sei.
Woran denkt man im Übrigen bei „jung“ und „alt“? Früher assoziierte man mit dem Alter „Weisheit“, vielleicht auch „Güte“. Heute denkt eine auf Erwerb programmierte Gesellschaft eher an „Nutzlosigkeit“, „Belastung“. Dass man mit zunehmendem Alter klüger würde, hat sich in einem Topos konserviert, den viele 68er jetzt, da sie alt und in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind, pflegen.

Gemeint ist die Rede von den „Fehlern“, die man damals gemacht habe, von den fatalen „Irrtümern“, denen man erlegen sei. Stephan Reinhardt hat ihnen in seinem kürzlich erschienenen lesenswerten Großessay Verrat der Intellektuellen ein Denkmal gesetzt. (Dass dieses Buch nicht die Debatten auslöst, die es in einer funktionierenden Öffentlichkeit provozieren müsste, schuldet sich just jenen Zuständen, die es beschreibt.)

Erstaunlich ist dabei die unerschütterliche Gewissheit, heute im Recht zu sein. Wenn jemand denn vor 40 Jahren tatsächlich geirrt und katastrophale Fehler begangen hat, dann gibt es nur eins, was er daraus lernen konnte: dass er möglicherweise auch heute irrt und skeptisch sein sollte gegenüber den eigenen Ansichten. Ansonsten ist er der gleiche unbelehrbare Rechthaber geblieben.

Offen gestanden: ich höre einem intelligenten Konservativen lieber zu als einem dummen Linken. Doch die 68er-Konvertiten sind nicht nur charakterlos, sie sind größtenteils auch dumm. Und das strapaziert meine Toleranz bis zum Äußersten.
Besonders misstrauisch aber sollte man jenen gegenüber sein, die aus ihrem Gesinnungswandel Vorteile gewonnen haben und nicht einmal die Möglichkeit ins Kalkül ziehen, dass sich ihre heutigen Überzeugungen diesen Vorteilen und nicht irgendwelchen Einsichten verdanken.

Wer seine Lernfähigkeit für mächtiger hält als die psychologischen Mechanismen der Selbstrechtfertigung, der Sekundärrationalisierung, der kognitiven Dissonanz und des Opportunismus, kann jung sein oder alt: er ist schlicht beschränkt. Und kann noch nicht einmal singen wie Mick Jagger.
Fortsetzung folgt.
In der Freitag-Kolumne "Linker Haken" beklagt Thomas Rothschild Woche für Woche, dass alles immer schlimmer wird. Manchmal hat er aber auch andere Sorgen. Letzte Folge: Sex gegen Abschlussexamen

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