Die ReiterarmeeIsaak Babel
Darin sind sich viele Schriftsteller, Kritiker und ganz normale Leser einig: es gibt für die Gattung der Kurzgeschichte im 20. Jahrhundert nur wenige Exemplare, die sich mit Isaak Babels Zyklus aus den zwanziger Jahren messen können, der auch unter dem deutschen Titel Budjonnys Reiterarmee veröffentlicht wurde. Diese sprachliche Dichte, diese Fülle expressiver Bilder – das raubt einem heute noch den Atem. Aber auch stofflich ist Die Reiterarmee einmalig: die Konflikte eines Intellektuellen, der die Einsicht in die Notwendigkeit der Revolution nicht mit den Unmenschlichkeiten in Einklang bringen kann, die sie begleiten, sind hier unüberbietbar formuliert. Von den zahlreichen, zum Teil skandalösen Übersetzungen sei jene von Peter Urban empfohlen.
Die Reiterarmee Isaak Babel, Friedenauer Presse 2006, 320 S., 18,50 €
Zoo oder Briefe nicht über die LiebeViktor Šklovskij
Im nachrevolutionären Exil schrieb der Literaturtheoretiker Viktor Šklovskij (in manchen Ausgaben Schklowskij transkribiert) diesen scheinauthentischen Briefroman: Zoo, weil die russischen Emigranten in Berlin mit Vorliebe in der Gegend des Zoos wohnten, Briefe nicht über die Liebe, weil Alia, die Schwester von Lilja Brik und nachmalige Elsa Triolet, dem gurrenden Šklovskij verbietet, über die Liebe zu schreiben. Herausgekommen ist einer der schönsten, poetischsten Texte der Moderne, der alles Mögliche in kunterbuntem Durcheinander anspricht und in Wahrheit von der Sehnsucht nach der Heimat handelt. Das Buch ist schändlicherweise vergriffen, aber im Antiquariat und in Bibliotheken erhältlich.
Radetzkymarsch Joseph Roth
Manchen ist dieser Roman zu sentimental. Sei’s drum. Man muss sich seiner Tränen nicht schämen, wenn man am Ende über den Tod des jungen Trotta weint, der einem bei der Lektüre dieses grandiosen Epochenpanoramas ans Herz gewachsen ist. Nicht weniger faszinierend freilich als die historischen und psychologischen Details ist Joseph Roths wunderbare musikalische Sprache. Wie klischeehaft wirkt doch im Vergleich dazu die Sprache von Roths erfolgreichen Zeitgenossen Feuchtwanger, Werfel oder Stefan Zweig.
RadetzkymarschJoseph Roth, DTV 1998, 416 S., 9,50 €
Der Weg ins Freie Arthur Schnitzler
Am liebsten würde man Arthur Schnitzlers Gesamtwerk empfehlen. Der einsame Weg, Das weite Land, Professor Bernhardi sind auch als Lesedramen, diesseits der Bühne, ein Abenteuer, und Erzählungen wie Frau Berta Garlan oder Spiel im Morgengrauen wirken kein bisschen veraltet. Unsere Empfehlung aber gilt einem der zwei Romane Schnitzlers, dem Weg ins Freie. Literarisch mag er, wie manche meinen, misslungen sein, weil er die zwei Stränge, aus denen er besteht, nicht hinreichend verknüpft. Man kann freilich auch fragen: nach welchem Gesetz muss er das? Tatsache ist, dass kaum ein anderes literarisches Werk so präzise Auskunft gibt über den Antisemitismus um 1900 und somit über die Vorgeschichte des Holocaust. Wer Vergnügen findet an gescheiten Dialogen, wird hier fündig.
Der Weg ins FreieArthur Schnitzler, Insel 2002, 463 S., 5,45 €
Thyl Ulenspiegel Charles de Coster
Till Eulenspiegel kennt jeder, zumeist aus Bearbeitungen für Kinder, wie sie etwa Erich Kästner besorgt hat. Seinen flämischen Verwandten Thyl Ulenspiegel kennt man viel zu wenig. Der Roman, in dem Charles de Coster seine Erlebnisse und die seines plebejischen Begleiters Lamme Goedzak im Kampf gegen die spanische Inquisition beschreibt, ist eins der überzeugendsten Beispiele eines politischen Romans in historischem Gewand, das die Weltliteratur hervorgebracht hat. Wer dicke Bücher liebt, die nicht nach zwei Abenden ausgelesen sind, sollte sich in die Welt des Thyl Ulenspiegel begeben. Er wird sie nicht mehr vergessen. Und sie fügt, ganz nebenbei, Schillers Don Carlos und unserer Schullektüre eine Dimension hinzu. Nur antiquarisch erhältlich, online aber über das Gutenberg-Projekt.
Flüchtlingsgespräche Bertolt Brecht
Die Ansicht, dass Brecht als Lyriker bedeutender sei denn als Dramatiker, ist nicht sonderlich originell. Wir halten uns aus diesem Streit heraus und empfehlen die Flüchtlingsgespräche, ein Prosawerk also in Dialogform. Die aphoristischen Weisheiten, die der Intellektuelle Ziffel und der Proletarier Kalle am Bahnhof von Helsinki austauschen, sind so vergnüglich wie geistreich, so witzig wie lehrreich. Wem die Lektüre von Marx zu mühsam ist, der ist fürs Erste mit den Flüchtlingsgesprächen als Ersatz gut bedient. Sie haben Schule gemacht. Etwa bei Volker Braun, dessen Hinze-Kunze-Roman wir in diesem Zusammenhang gerne in Erinnerung rufen.
FlüchtlingsgesprächeBertold Brecht, Suhrkamp 2000, 147 S., 7,00 €
Eugen Onegin Alexander Puschkin
Das Werk, das im russischen Literaturkanon ganz oben steht, ist in Versen geschrieben. Weil die fast unübersetzbar sind, ist es außerhalb Russlands nie in seiner ganzen Bedeutung erfasst worden. Sagen wir es so: Wer Eugen Onegin nur als Oper kennt, kennt lediglich den Stoff. Was Puschkins Versroman oder Poem ausmacht, die erzählerische Ironie, die Schönheit der Verse eben, kann die Oper nicht vermitteln. Deshalb, trotz aller Abstriche, die eine Übersetzung gerade hier bedeutet: eine Empfehlung für Puschkins Meisterwerk.
Eugen Onegin: Roman in Versen Alexander Puschkin, Manesse 1981, 256 S., 17,90 €
Drei Schwestern Anton Čechov
Bei Čechov ist es wie bei Schnitzler. Eigentlich möchte man sein Gesamtwerk empfehlen, seine Dramen ebenso wie seine Kurzgeschichten. Hier aber soll tatsächlich ein Werk ans Herz gelegt werden, das streng genommen erst auf der Bühne zu sich selbst findet, die Drei Schwestern. Es gibt Banausen, die Čechov langweilig finden. Wenn sie lieber Yasmina Reza sehen wollen – meinetwegen. Wer aber wissen will, woraus das Drama des 20. Jahrhunderts geboren wurde, der sollte die Drei Schwestern lesen. Was Gogol für die russische Literatur des 19. Jahrhunderts gewesen sein mag, das sind Čechovs Stücke für die dramatische Weltliteratur des 20. Jahrhunderts. So apodiktisch soll man nicht urteilen. Aber wenn es doch wahr ist?
Drei SchwesternAnton Cechov Reclam 1998, 96 S., 2,50 €
Boris PilnjakMaschinen und Wölfe
Noch einmal das nachrevolutionäre Russland. Was Isaak Babel in der Kurzgeschichte, das hat Boris Pilnjak im Roman geleistet. Der Titel ist bereits die Inhaltsangabe. Es geht um die Industrialisierung in einer agrarischen Gesellschaft. Das mag nicht sehr verlockend klingen. Aber mit welcher Wucht, mit welcher Kraft Pilnjak erzählt – das lässt einen einmal mehr darüber trauern, was in der Sowjetunion an grandiosen Ansätzen der frühen Jahre zerstört, vernichtet, buchstäblich getötet wurde. Auch Maschinen und Wölfe sind vergriffen. Auch hier sei auf die Antiquariate und Büchereien verwiesen. Mehr als ein paar Cent muss man nicht bezahlen. Das Lesevergnügen, das hier versprochen wird, ist unbezahlbar.
to be continued
Thomas Rothschild wurde 1942 in Glasgow geboren, wuchs in Österreich auf und lehrte bis 2007 an der Universität Stuttgart Literaturwissenschaft. Er ist seit vielen Jahren Autor des Freitag.
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