Soll man auf das Publikum hören?

Salzburg Jürgen Flimm inszeniert Rossinis schwierigen Opernstoff "Moïse et Pharaon" in Salzburg mit großer Ernsthaftigkeit

Riccardo Muti hält Moïse et Pharaon für Rossinis beste Oper. Das bei uns selten aufgeführte Werk fügt der alttestamentarischen Vorgeschichte vom Auszug der Juden aus Ägypten mit Hilfe verhängter Plagen das Dilemma von Anaï hinzu, die sich gegen ihre Liebe zum Sohn des Pharaos für die Treue zu ihrem Glauben und zu ihrem Volk entscheidet. Wie Theodora weigert sich Anaï, „Götzenbilder“ anzubeten. Was für Theodora die Römer und für Judith die Assyrer, sind für Anaï die Ägypter. Da eröffnen sich im Salzburger Programm thematische Zusammenhänge. Musikalisch lohnt eine Aufführung von Moïse et Pharaon allemal, wie die Festspiele bewiesen haben. Zu den dramaturgischen Schwächen des Librettos gehört, dass der Konflikt im 4. Akt immer noch der gleiche ist wie im 1. Akt.

Jürgen Flimm hat den schwierigen Stoff mit unerwarteter Ernsthaftigkeit inszeniert, statisch, mit verkleinertem Bühnenausschnitt für die private Geschichte, ohne äußerliche Aktualisierung. Dass man bei diesem Sujet das 20. Jahrhundert mitdenkt, ist unvermeidbar. Dass man bei zusammengetriebenen Juden mit Koffern eher die erzwungene Deportation ins KZ als die erhoffte Entlassung ins gelobte Land assoziiert, ist ein irritierender Nebeneffekt.

Gestern Beifall für Daniel Kehlmanns Regietheaterbeschimpfung, heute Buhs für Flimm, obwohl da weder Spaghetti, noch Videowände vorkommen. Soll man auf das Publikum hören?

Böten die Salzburger Festspiele nur Musik an, müssten sie sich mit den zunehmend attraktiven Festivals in Luzern und Verbier vergleichen lassen. Deshalb betont Flimm gerne, dass nur Salzburg zugleich Oper, Theater und Konzerte im Programm hat. Das bewirkt freilich, dass die weniger spektakulären Konzerte in der Berichterstattung hinter den Bühnenkünsten rangieren. Zu Unrecht. Denn während man sich beim Schauspielzuständigen Thomas Oberender angesichts des mageren Outputs fragen mag, was der eigentlich tut, besticht der Konzertchef Markus Hinterhäuser durch bedeutende Solisten und Ensembles, durch interpretatorische Überraschungen – etwa bei Beethovens Symphonien unter dem Dirigat von Paavo Järvi – und durch die Herstellung von Zusammenhängen, diesmal etwa, nach Sciarrino und Scelsi, mit Varèse oder mit Franz Liszt.

Das Theater stirbt nicht an zuviel oder zuwenig eigenwilliger Regie, sondern an sich selbst, am mangelnden Vertrauen zu seinem ureigenen Material: dem Drama. Im Hauptprogramm der Salzburger Festspiele wurde die Dramatisierung von Dostojewskis Verbrechen und Strafe wiederaufgenommen, im Young Directors Project zeigt man Bühnenfassungen von Alice im Wunderland und eines Romans von Ilija Trojanow, aber kein einziges Drama.

„Alles beginnt in deinem Kopf“, heißt es kurz vor dem Schluss von Alice. Eben. Wenn man es doch dort auch enden ließe. Stattdessen: wieder eine genau genommen läppische Adaption eines Meisterwerks der Erzählliteratur. Die in Salzburg gezeigte Variante des ungarischen Regisseurs Viktor Bodó ist eine Bearbeitung der Bearbeitung von Roland Schimmelpfennig und wurde im November 2007 am Schauspielhaus Graz uraufgeführt. Von einer aktuellen „Entdeckung“ kann also ebenso wenig gesprochen werden wie bei der Einladung von Jürgen Gosch nach drei Jahrzehnten vorbildlichen Theaterschaffens, die wahrhaftig keiner Pionierarbeit bedurfte. Aber in Salzburg nimmt man den Mund gern voll.


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