Gleich der erste Absatz des Romans, der im bisherigen Verlag des Paulskirchenredners Martin Walser erschienen ist, signalisiert deutlich, allzu deutlich, worum es geht. "Einmal muß Schluß sein. Genug der Leichenberge, fort mit Krieg und Verbrechen. Der Finger streicht, bestimmt schon zwanzigmal, über den roten Knopf der Fernbedienung, streift daran vorbei, drückt eine andere Taste, und die Bilder schlagen um, flackern über den Schirm, hier die Augen eines Mörders, da wiegen Körper sich zu Hip-Hop, dort eine, die sagt, ich habe dich betrogen, das sei heute unser Thema, und im Hintergrund jubelt das Publikum. Fernsehen ohne Nachsicht. Er schaute, obgleich oder weil er nichts sah."
Wer wollte daran zweifeln, dass Doron Rabinovici auch in seinem neuen Roman darauf besteht, zu sehen, statt nur zu schauen, und ganz gewiss anzuschreiben gegen jeden Versuch, einen Schlussstrich zu ziehen. Die Gegenwart des Romans ist der Sommer 1995, er geizt nicht mit zeitlich verschachtelten Rückwendungen und sein Held ist der junge Wiener Neurologe Stefan Sandtner. Stefan besucht einen verwirrten alten Arzt und ehemaligen SS-Mann, den Rabinovici das Folgende sagen lässt:
"Ich habe nur meine Pflicht erfüllt. Gewiß, es war fürchterlich, aber wenn ich es nicht getan hätte, irgendwer ... Und dann, was wär mit mir geschehen? Es war grauenhaft. Ich sage Ihnen, was ich durchgemacht habe, ist unbeschreiblich. Ich will nicht mehr davon reden, und ich kann und möchte nichts mehr von dem Ganzen hören, von unserer sogenannten Schuld und von den Leichenbergen. Genug davon. Wie lange noch?"
Hier zeigt sich ein Problem der Literatur, die gegen das Vergessen anschreiben will. Wir kennen jedes Wort dieses Monologs. Das liegt daran, dass tatsächlich so gesprochen wird, dies aber, in krudem Realismus, seit Qualtingers Herrn Karl in der Literatur hundertfach wiederholt wurde. Und so fallen Wahrheit und Klischee zusammen. Solche Äußerungen verstimmen nicht, weil sie etwa unglaubwürdig wären, sondern weil sie keine Information enthalten. Wir wissen, dass zahlreiche Österreicher so denken und reden. Aus einem Roman wollen wir mehr, wollen wir Neues erfahren oder dem Bekannten auf neue Weise begegnen.
Stefan steht zu Beginn zwischen zwei Repräsentanten der alten Generation, zwischen dem Juden Paul Guttmann und dem ehemaligen SS-Mann Herbert Kerber. Wie soll er sich verhalten? Wie soll er handeln? Worin liegt die Verantwortung seiner Generation? Was geht sie die Vergangenheit an? Davon handelt Rabinovicis Ohnehin, der Roman eines Autors, der zwar der Generation seiner Hauptfigur angehört, dem aber als Juden, und das ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, dessen Entscheidung sozusagen per Geburt abgenommen ist. Vielleicht sähe sein Roman, wäre er der Sohn eines SS-Mannes, anders aus. Übrigens auch, wenn er Türke oder Senegalese wäre. Rabinovici versucht, die zentrale Rassismusthematik auszuweiten, indem er seinen jüdischen Figuren ausländische Freunde zur Seite stellt. Aber sie bleiben vergleichsweise blass. Mit ihnen, das ist nicht zu übersehen, kennt sich der Autor nicht so gut aus, ist er nicht in gleichem Maße emotional verbunden. Im übrigen ist es nicht Stefan, der genau in der Mitte des Romans den ehemaligen SS-Mann verhört, sondern dessen Tochter Bärbl, die Kindheitsfreundin Stefans.
Eingefügt sind zahlreiche anekdotische Geschichten, die sich zu einem großen Teil um jüdische Erfahrungen und Irritationen ranken. An manchen Stellen quellen die Anekdoten zu eigenständigen Erzählungen auf mit einer Tendenz zur Geschwätzigkeit. Man erkennt: Rabinovici will, über den zentralen Handlungsstrang hinaus, das Bild einer ganzen Generation entwerfen, ähnlich wie sein Freund Robert Schindel in Gebürtig und, Jahrzehnte zuvor und um einiges literarischer, Arthur Schnitzler im Weg ins Freie. Das Bauprinzip ist "Und dann auch noch dies, und dies, und das ...", die Form ein erfahrungsgesättigter, aber redundanter Realismus wie in deutschen Milieufilmen der achtziger und neunziger Jahre. Den Naschmarkt überhöht Rabinovici, wiederum unter Nutzung von Vorgaben aus der Realität, zum symbolischen Ort der multikulturellen Begegnung, an dem er seine Figuren regelmäßig zusammenführt.
Der Autor ist ein guter Beobachter, seine Beschreibungen machen sich gern an banalen Details fest. Die Sprache ist unprätentiös, in der Wiedergabe längerer Gruppengespräche, wie sie an Wiener Kaffeehaustischen allabendlich stattfinden, fast protokollarisch. Ob man "einzigartig" steigern kann - darüber lässt sich mit dem Autor und seinem Lektor streiten. Ein Exkurs über Jiddisch und das Jiddeln mündet zwar in eine hübsche Pointe, ist aber leider nur halb richtig. Falsch ist auch der städtebauliche Vergleich zwischen Wien und Paris. Die französische Hauptstadt hat wie Wien Ringstraßen, die die großen Achsen durchschneiden und Arbeiterbezirke von bürgerlichen Arrondissements trennen. Derlei wäre belanglos, wenn es nicht mit solch besserwisserischem Gestus ausgeführt würde.
Manchmal kommt dem Erzähler Rabinovici der Historiker und politische Aktivist in die Quere. Man kann ja auch in einem Roman über den Antisemitismus Karl Luegers belehren. Aber wenn das ohne weiteren Zusammenhang lediglich anlässlich seines Denkmals geschieht, das vor dem Café Prückel steht, dann wirkt es wie ein Fremdkörper. Oder ein Satz wie dieser: "Die Podiumsdiskussionen waren von noblen nichtjüdischen Menschen vorbereitet worden, die, nicht selten von Schuldgefühlen heimgesucht, beschlossen hatten, ihre Gesinnung gegen den Judenhaß zu bekunden." Er gibt die Perspektive des auktorialen Erzählers wieder. Und deshalb ist das Attribut "nobel" aufdringlich, bevormundend und paternalistisch. Es traut dem Leser nicht zu, dass er die beschriebene Aktion von sich aus als nobel qualifiziert, oder verdoppelt bloß, was der eh selbst erkennt.
Rabinovici ist kein Fabulierer. Wie Robert Schindels Gebürtig ist Ohnehin auch ein Schlüsselroman. Jeder Österreicher weiß, wer mit dem Redakteur und ehemaligen Trotzkisten Wilhelm Wolckensdorf gemeint ist, der "das Neue im Großen" sieht, dem alles Neue groß scheint und der sich unter anderem damit blamierte, dass er das Osloer Nahostabkommen für unumkehrbar hielt. Als fürchtete er, dass ihm seine polyphone Konstruktion auseinander bricht, er die Handlungsstränge am Ende nicht zusammen führen könne, wird Rabinovici auf den letzten 25 Seiten gleich mehrfach melodramatisch. Damit gelangt er zu einem Abschluss, aber auch in gefährliche Nähe zur Kolportage.
In den USA gibt es ja nicht nur Eliteuniversitäten, sondern auch massenhaft akademisches Mittelmaß, das sich aber, weil es die Karriere nach dem Prinzip "publish or perish" verlangt, immerfort zu Wort meldet. So finden regelmäßig Konferenzen über Juden in der österreichischen Literatur statt. Der intellektuellen Bescheidenheit der dort gehaltenen Referate, die sich in schlichten Nacherzählungen, biographischen Daten und Exzerpten aus europäischen Rezensionen äußert, entspricht eine Unbescheidenheit der Selbstdarstellung, die man zuverlässig an den Fußnoten ablesen kann, in denen die Referenten ständig auf ihre eigenen Publikationen verweisen. Manche schaffen es, ihren gesamten wissenschaftlichen Ausstoß hier unterzubringen. Anstelle neopositivistischer Faktenhuberei wünschte man sich wenigstens Ansätze zur Analyse, etwa der Frage, wieso gerade in Wien, anders als in deutschen Städten, sich seit einiger Zeit die Belletristik von Juden über Juden häuft, während deutschsprachige Romane, Dramen oder Lyrik von Gastarbeiterkindern, wiederum im Vergleich mit Deutschland, unterrepräsentiert sind. Spricht das für ein besonderes Selbstbewußtsein der Wiener Juden, oder eher für ihre - selbst gewählte? - Ghettoisierung? In Ohnehin verkehren die Juden unkompliziert mit nicht-jüdischen Wienern und Immigranten. Die zentrale Figur ist, wie im Weg ins Freie, kein Jude. Und doch ist der ganze Roman unverkennbar aus einer jüdischen Perspektive angelegt. Vielleicht wurde Karl Lueger nur erwähnt, um auf die Frage des Warum eine Antwort zu geben.
Eine Analyse wert wäre auch eine kleine eingeschobene Anekdote über den Juden Lew Feininger. Von einem Pflegling, dem er den Kot vom Leibe wäscht, wird der Zivildienstleistende als "dreckiger Jud" beschimpft. Er fragt zurück: "Wer ist hier dreckig?" Zwischen dem Antisemiten und dem Juden entwickelt sich so etwas wie ein Vertrauensverhältnis, und als der Alte stirbt, stellt Lew fest, dass er ihn "irgendwie doch vermißt". Diese Szene soll Lew dem Leser ohne Zweifel sympathisch machen. Aber hat Rabinovici hier nicht, wie Spielberg in Schindlers Liste, die Normen seiner Gegner internalisiert? Der Preis für die Sympathie ist Devotheit, Unterordnung. Diese These lässt sich leicht damit belegen, dass eine Vertauschung der Rollen nicht denkbar ist. Oder kann man sich eine Geschichte vorstellen, in der ein Jude einen Nazi einen "dreckigen Nazi" nennt und von diesem vermisst wird, als er ihm nicht mehr die Scheiße vom Hintern wischen darf?
Ein Hinweis noch für die munteren Schwätzer im Rundfunk, die sich grundsätzlich weigern, bei osteuropäischen Namen Aussprache und Betonung nachzuschlagen: Rabinovici ist die rumänische Schreibung eines russisch-jüdischen Namens, der Rabinowitsch, ohne i am Ende, ausgesprochen wird.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.