Väter und Söhne

Linker Haken Tilman Jens zum Beispiel: Weder Wohltaten noch Verbrechen sind vererbbar. Wer sich öffentlich mit seinen Eltern auseinandersetzt, offenbart eine verhängnisvolle Bindung

In einem Aufsatz in der österreichischen Tageszeitung Die Presse reflektiert mein Studienkollege Martin Pollack über seinen Vater und seinen Sohn. Es ist nicht das erste Mal, dass sich Martin Pollack mit einem Problem herumschlägt, das zahlreiche empfindsame Menschen seiner Generation umtreibt: dass sein Vater im Nationalsozialismus zu den Tätern gehörte, dass er an Verbrechen beteiligt war. Die Leser von Martin Pollacks Buch Der Tote im Bunker kennen die Geschichte.

Nun ist das fraglos eine Situation, um die man, wenn man das Glück hatte, nicht in sie hineingeboren zu werden, niemanden beneiden möchte. Aber es versteht sich für einen rational denkenden Menschen von selbst, dass niemand für seine Eltern verantwortlich gemacht werden kann. Nicht die Taten der Väter und Mütter sind das wirkliche Problem, sondern der heftige Wunsch der Nachgeborenen, sie lieben zu können.

Martin Pollack hat seinen Vater, der 1947, als er selbst noch keine drei Jahre alt war, ermordet wurde, kaum gekannt. Er schreibt, dass ihm dieser Vater fremd geblieben sei. Er glaubt auch nicht an den Blutmythos, den gerade die verabscheuten Nationalsozialisten mit Nachdruck gepflegt haben. Warum also meint Pollack, dass er sich zu dem Vater „bekennen muss, ob es mir gefällt oder nicht“?

Da kapituliert der aufgeklärte linke Martin Pollack wie so viele andere, wie selbst ein Niklas Frank vor einer in ihrem Kern reaktionären Familienkonzeption. Man mag sich noch Eltern verpflichtet fühlen, die einen liebevoll aufgezogen, die einem eine materiell und sozial abgesicherte Kindheit ermöglicht haben. Aber was bedeuten die fünf fröhlichen Minuten des Zeugungsakts, dass man sich und – wie Martin Pollack – auch noch die nächste Generation damit belasten muss? Wer sich glücklich preisen kann, Eltern zu haben, mit denen er sich so gut versteht wie mit selbst gewählten Freunden, mag dem Zufall dankbar sein. Aber viele Probleme würden sich in Luft auflösen, wenn man endlich die Familienideologie verabschiedete, wenn man kein schlechtes Gewissen zu haben brauchte, wo man sich eingesteht, dass Mütter und Väter genauso widerlich, dumm, hässlich, verbrecherisch sein können wie jeder beliebige andere Mensch auf der Welt.

Es ist schön und ehrenvoll, wenn Martin Pollack sich entschlossen hat, „die Opfer der Anonymität zu entreißen und zu versuchen, ihnen ihre Namen, ihre Geschichte zurückzugeben, damit sie nicht bloß Zahlen in einer Statistik bleiben, Unbekannte ohne Gesicht“, aber was hat das mit seinem Vater zu tun? Wieso sollte er das dessen Opfern schuldig sein? Woher kommt Martin Pollacks fixe Idee, er habe die Schuld eines Mannes zu begleichen, der zufällig sein Vater war? Das ist ebenso unsinnig wie die verbreitete Ansicht, es sei verdienstvoll, die Tochter oder der Sohn einer Mutter oder eines Vaters zu sein, die ihrerseits Verdienste erworben haben. Weder Wohltaten noch Verbrechen sind vererbbar. Jeder Mensch kann nur für sich selbst verantwortlich sein.

Allzu flott hat man die These von der Kollektivschuld verabschiedet, um die Scham und das Schuldgefühl einigen wenigen Sensiblen zu überlassen, während sich die tatsächlich Schuldigen ins Fäustchen lachen. Wenn nun auch noch die Söhne und Enkel von Verbrechern für deren Schuld einstehen zu müssen glauben, sind jene fein raus, deren Mütter und Väter nur zugeschaut haben, als ihre Nachbarn ins KZ abtransportiert wurden, und die heute noch in anonymen Leserbriefen bedauern, dass ein paar davon überlebt haben.

Am Ende seines Aufsatzes fragt Martin Pollack, ob er seinen 30-jährigen (!) Sohn über dessen Großvater im Dunkeln lassen darf. Dass nichts verschwiegen und zugedeckt werden dürfe, und sei es noch so unangenehm und peinlich, mag richtig sein oder falsch. (Nicht zuletzt für die Opfer ist das Vergessen manchmal ein Segen und das Schweigen tatsächlich eher Gold als das Reden.) Wenn Pollacks Plädoyer für das Reden aber richtig ist, so gilt es für die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Der Zufall der Verwandtschaft spielt dabei keine Rolle. Wer sich, wie Martin Pollack oder Tilman Jens und viele andere (öffentlich) mit seinem Vater herumschlägt, sollte sein Familienbild überprüfen. Nicht, weil es sich etwa gehörte, vor Dritten gegenüber der Familie loyal zu sein, nicht, weil der Einblick in intime Privatengelegenheiten die Allgemeinheit zu Voyeuren macht, sondern im Gegenteil: weil sich noch in der Anklage der Väter eine verhängnisvolle Bindung offenbart, deren Wurzeln in demselben Boden gedeihen wie die Ideologie, die die Söhne bei ihren Vätern verdammen.

In der Freitag(s)-Kolumne "Linker Haken" beklagt Thomas Rothschild Woche für Woche, dass alles immer schlimmer wird. Manchmal hat er aber auch andere Sorgen. Letzte Woche: Williamson? Mir doch wurscht

Thomas Rothschild wurde 1942 als Sohn österreichischer Eltern in Schottland geboren und kehrte 1947 in die Heimat seiner Eltern zurück. Der Literaturwissenschaftler arbeitet als Dozent an der Universität Stuttgart

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