Verachtete Proletarier

Festspiele Salzburg Während alle gebannt auf Brandauer starren, bekennt sich Jossi Wieler mit der Inszenierung von Stefan Zweigs Erzählung "Angst" zum epischen Theater

Die Festspiele stehen in diesem Jahr unter dem Stichwort „Mythen“. Schön und gut. Das ist, mit Blick auf Theater und Oper, ungefähr so originell, wie wenn man eine Versammlung von Börsianern auf das Motto „Geld“ einschwört oder wenn ein Ärztekongress mit dem Schlagwort „Gesundheit“ lockt. Jedenfalls nimmt Peter Stein das Motto mit dem Sophokles-Sequel Ödipus auf Kolonos ernst. Alle starren gebannt auf Klaus Maria Brandauer in der Titelrolle und übersehen die vorbildliche Chorführung, mit der Stein an seine Orestie anknüpft. Darin und in der Musikalität liegt die Stärke der Inszenierung.

Jossi Wieler hat sich für die Koproduktion der Salzburger Festspiele mit den Münchner Kammerspielen der Adaption eines Erzähltextes gewidmet, der bereits alle Zutaten eines Dramas enthält: eine spannende Handlung, dialogische Situationen, ein überschaubares Figurenarsenal, Pro- und Antagonisten, einen Konflikt. Koen Tachelet, der belgische Bearbeiter von Stefan Zweigs Angst, hat die Erzählerstimme beibehalten und auf die Träger der Handlung, vorwiegend aber an die zentrale Figur, an Irene Wagner verteilt. Sie sprechen direkt aus dem Bühnendialog heraus diesen Erzähltext und die inneren Monologe, teils in der dritten, teils in der ersten Person.

Dieses späte Bekenntnis zum epischen Theater ist eine gute Lösung, denn es geht bei Zweig sowohl um eine äußerliche Aktion wie um psychische Verwirrungen. Innen- und Außensicht ergänzen einander. Es geht um Schuld, um Lüge, um Macht und um ein grausames Experiment.

Kokett statt verängstigt

Irene, die Gattin des Rechtsanwalts Fritz Wagner, hat ihren Mann betrogen. Eine Erpresserin, die frühere Geliebte von Irenes Liebhaber, lauert ihr auf und verlangt immer höhere Beträge. Irene gibt den Forderungen widerwillig nach aus Angst, ihr Mann würde sonst von ihrer Schuld erfahren. Am Ende, als Irene schon einen Selbstmord plant, gesteht Fritz Wagner, dass er eine arbeitslose Schauspielerin engagiert habe, die Rolle der Erpresserin zu verkörpern, um Irene zu „treiben“, zur Rückkehr zur Familie und zu einem Geständnis zu bewegen.

Die holländische Schauspielerin Elsie de Brauw spielt die Irene mit leichtem Akzent als eher kokette, denn als verängstigte Frau, der Katja Bürkle als spröde, burschikose Pseudoerpresserin gegenüber steht. Irene nennt sie an einer Stelle verächtlich „Proletarierin“. Bei Stefan Zweig kommt dieses Wort in der Rede des Erzählers vor, die allerdings die Perspektive Irenes wiedergibt. Jossi Wieler verzichtet darauf, diesen Faden aufzunehmen, ihn mehr als nur anzudeuten. Denn Angst ist auch eine Novelle über die verlogene Moral einer sozial lokalisierbaren Klasse, des Großbürgertums. Dass die vermeintliche Erpresserin für Irene nicht eine Verbrecherin, sondern eine Proletarierin – mit eindeutig negativer Konnotation – ist, muss in der Epoche und am Ort des Austromarxismus als signifikant verstanden werden.

Deutlicher arbeitet der Regisseur die Thematik der patriarchalischen Herrschaftsausübung heraus. Fritz Wagner hilft seiner Frau in den Pelzmantel. Er hält ihn aber so niedrig, dass sie sich klein machen muss, um in die Ärmel zu kommen. Ein treffendes Bild. Dem steifen, selbstgerechten Anwalt, dargestellt vom formidablen André Jung, gibt Wieler keine Chance. Sympathien kann er nicht gewinnen, noch nicht einmal Verständnis für eine Argumentation, die durchaus ihre – verquere – Rationalität hat.

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