Die Bühne ist fast finster. August Diehl, der bald darauf den schwindsüchtigen Edmund Tyrone spielen wird, spricht langsam, das Zeitmaß der folgenden vier Stunden vorgebend, Eugene O’Neills Regieanweisungen zum Szenenbild von Eines langen Tages Reise in die Nacht. Aber wenn es etwas heller wird, sieht man nicht das Wohnzimmer eines Sommerhauses am Meer mit Büchern von Balzac, Kropotkin und Kipling, sondern eine Ödnis mit Felsbrocken und dem Skelett eines Wals.
Martin Zehetgrubers Seelenlandschaft, die nur noch verschämt andeutet, dass das Stück in einer Hafenstadt spielt, bleibt die erste und die letzte Abweichung von O’Neills Vorgaben. Danach hält sich Andrea Breth mit selten gewordener Treue an den Text. Mit bewundernswertem Starrsinn beharrt sie auf einem Theaterverständnis, das von seinen Gegnern als antiquiert denunziert wird. Andrea Breth will es nicht besser wissen als der Autor. Sie ist zu bescheiden und zugleich zu klug, um sich an seine Stelle zu setzen. Sie kennt ihre Fähigkeiten, aber auch ihre Grenzen. Mehr noch: Als wollte sie, die einst zu den Galionsfiguren des deutschen Regietheaters gehörte, den Selbstdarstellern der nächsten Generationen die lange Nase zeigen, verzichtet sie diesmal, anders als im Don Carlos oder in der Emilia Galotti, auf jeden Ansatz einer Interpretation.
Handfester Realismus
Die minutiöse Arbeit mit den Schauspielern, die Präzision jeder Geste, jeder Betonung, jedes Gangs, bedeutet schon die Erfüllung. Auch den autobiografischen Charakter des Stücks unterschlägt Andrea Breth in ihrer Inszenierung. Sie liefert Theater, keine Studie über Eugene O’Neill.
In den vergangenen Jahren stand Eugene O’Neills Drama von 1956 zunehmend auf den Spielplänen – etwa in Mülheim, Hamburg, München oder Stuttgart. Dieses neu erwachte Interesse an einem fast vergessenen Autor dürfte mehrere Gründe haben. Da ist zum einen der Überdruss mancher Besucher an der Auflösung traditioneller narrativer Formen im postmodernen Theater. Er könnte der Rückkehr zu einem handfesten psychologischen Realismus Auftrieb verliehen haben. Eugene O’Neill, Tennessee Williams, Arthur Miller, auch Edward Albee, die Erben Ibsens, haben Konjunktur und ihrerseits Nachfolger, um nicht zu sagen: Nachahmer, etwa Tracy Letts oder die Bühnenadaptionen von Thomas Vinterbergs Filmen.
Speziell bei Eines langen Tages Reise in die Nacht, aber auch etwa in O’Neills Fast ein Poet, in der Glasmenagerie, im Tod eines Handlungsreisenden kommt hinzu, dass das Sujet des Realitätsverlusts (man denke an Die Wildente oder an Nachtasyl) durch seine Nähe zur viel diskutierten Thematik der Altersdemenz eine neue Aktualität gewonnen hat.
Und schließlich: O’Neills Stück bietet eine starke Rolle für eine Frau über 50 an. Solche Rollen sind Mangelware und daher begehrt. So gesehen grenzt es an Gemeinheit, dass Armin Petras sie in Stuttgart ohne Not mit Peter Kurth besetzt hat.
Am Burgtheater ist Corinna Kirchhoff die morphinsüchtge Mary Tyrone, und Sven-Eric Bechtolf verkörpert ihren Mann. Sie treten in die Spuren solcher Giganten wie Katharine Hepburn und Laurence Olivier, und überhaupt hat man den Eindruck, dass sich Andrea Breth mit dieser Arbeit näher am englischsprachigen als am gegenwärtigen deutschen Theater befindet.
Bechtolf, der mit Bart aussieht wie der ältere Orson Welles, spielt vitaler als sonst, versinnlicht die Ambiguität des Charakters und setzt das Instrument der Stimme, die immer wieder in ein raues, tieferes Register abbricht, virtuos ein. Corinna Kirchhoff muss nicht Verrat üben an dem Typus, auf den sie abonniert zu sein scheint, wenn sie das zunehmende Abdriften ihrer Figur in den Wahnsinn, „in die Nacht“, subtil darstellt. Um ihrer Sucht nachzugeben, zieht sich Mary Tyrone „nach oben“ zurück. Oben: Das ist der Ort der Geheimnisse, wie in der Wildente, wie in John Gabriel Borkman, auch wenn es auf Zehetgrubers Bühne kein „oben“ gibt. Wenn ihr Mann und die Söhne – August Diehl und Alexander Fehling, schauspielerisch absolut auf dem Niveau von Kirchhoff und Bechtolf – die Sucht der Mutter andeuten, tut sie, als wüsste sie nicht, wovon diese sprechen.
Es ist diese Verunmöglichung der Kommunikation, was Eines langen Tages Reise in die Nacht so hoffnungslos erscheinen lässt. Das Paradox: Das Theater, das auf Kommunikation beruht, spricht vom Verschwinden der Kommunikation. Am Ende verselbstständigt sich Marys Stimme, sie löst sich von der Figur und kommt körperlos aus dem Raum. Die Drehbühne bringt das Walskelett in den Vordergrund.
Françoise Clavel hat das Ensemble in weiße und helle Grau- und Beigetöne gekleidet, die mit dem schwarzen Hintergrund kontrastieren. Diese Kostüme erinnern daran, dass der Zeitpunkt der Handlung – 1912 – von Tschechow weit weniger entfernt ist als von unserer Gegenwart. Und doch: Es bedarf bei Andrea Breth keiner zusätzlichen Texte, keiner Smartphones und keiner Videos, um des langen Tages Reise in die Nacht als gegenwärtig zu erfahren, um an ihr zu verzweifeln.
Info
Eines langen Tages Reise in die Nacht Regie: Andrea Breth Burgtheater, Wien
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