Die sogenannte Hohe Kunst wird in diesen Sommern von dieser Stadt und ihren Einwohnern für nichts anderes als ihre gemeinen Geschäftszwecke mißbraucht, die Festspiele werden aufgezogen, um den Morast dieser Stadt für Monate zuzudecken.« So kennzeichnet Thomas Bernhard nur wenig übertrieben im ersten Teil seiner Autobiographie die Stadt, in der er aufgewachsen ist. Und die hat sich auch nach Karajans Tod nicht grundsätzlich gewandelt.
Die vielen Kompromisse haben den Großteil von Gérard Mortiers einstigen Ankündigungen zu Rhetorik erstarren lassen. An der demokratiefeindlichen Struktur, am elitären Erscheinungsbild der Salzburger Festspiele, an ihrem Mißbrauch für »gemeine Geschäftszwecke« hat Mortier kaum etwas verändert. Die Operndramaturgie ging unter Mortier nicht über das hinaus, was Opernhäuser - zum Beispiel in Stuttgart - das Jahr über anbieten, das Schauspielprogramm wurde zunehmend zu einer Serie von Voraufführungen von deutschen und schweizerischen Inszenierungen - was bedeutet, daß der österreichische Steuerzahler das Theater der reicheren Nachbarländer subventioniert. Weniger als ein Drittel der Zuschauer stammt allerdings aus Österreich. Nicht verwunderlich, wo jeder Festspielbesucher im Schnitt 1.100 DM für Eintrittskarten und täglich (!) 360 DM für Unterkunft, Verpflegung und Einkäufe ausgibt. Die Rechtfertigungsformel lautet »Umwegrentabilität«, von der in erster Linie die Gastronomie, die Trachten- und die Souvenirläden profitieren.
Mit Berios Cornaca del Luogo hat Mortier nach seiner zaghaften Annäherung über Berg und Legeti nun kurz vor seinem Abgang die Höhen des gegenwärtigen Musiktheaters erklommen. Doch so beeindruckend und stimmig die Uraufführung war - ein Risiko sollte der 74jährige Berio nicht mehr bedeuten.
Mortiers Einfallsreichtum für dieses Jahr, das bekanntlich mit Goethe verwandt ist, gipfelte in einer Häufung von Bearbeitungen des Faust-Stoffes. Immer wieder aber: der Hang zum Monumentalismus und zum Modischen - Stichwort: Multimedia - auf der einen Seite, Etikettenschwindel auf der anderen. Die schon anderswo gezeigte Performance F@ust Version 3.0 von La Fura dels Baus wird noch als Gastspiel deklariert, Mnemonic vom Londoner Theatre de Complicite hingegen als Uraufführung angekündigt, obwohl das Ensemble seit Juni damit durch England tourte. Und das Programmheft zu La Damnation de Faust von Berlioz, mit der die spanischen Aktionisten von La Fura dels Baus - ein typischer Mortier-Einfall - als Opernregisseure debütieren durften, hat, äußerliches Signal, unhandliches Wandkalenderformat.
Die durchaus nötigen Einwände gegen Mortier werden einem freilich erschwert, wo ein geballter Konservatismus von vorgestern populistisch gegen ihn anbrüllt und nicht etwa die berüchtigte Kronenzeitung, sondern die seriösen Salzburger Nachrichten dem Intendanten empfehlen, »Unmenschlichkeit und Bestialität in angemessenem und künstlerischem Rahmen dort anzuklagen, wo es auch noch dazu in der Gegenwart notwendig wäre«, nämlich »im Belgien der Kindermörder und Kinderschänder und ihrer Gönner in höchsten Ämtern«. Wenn das nicht an den Tonfall des Nationalsozialismus erinnert - was dann? Jene aber, die diesen Ausfall für Ironie halten, müßten erklären, ob dann auch die in der selben Glosse ausgesprochene Warnung vor einer »Verharmlosung dessen, was hinter Nazis, Faschismus und Präfaschismus wirklich steckt«, ironisch zu verstehen ist.
Mit Frank Baumbauer hat Mortier bereits seinen dritten Schauspielleiter. Daß der sich allerdings durch eine deutlich identifizierbare Handschrift unterscheide, läßt sich nicht behaupten. Ob Stein, Nagel oder Baumbauer - stets wird auf die in den Feuilletons und bei den Festivals zwischen Wien und Edinburgh hoch im Kurs stehenden Namen zurückgegriffen. Die Experimentierfreude kann mit den Superlativen des zur Verfügung stehenden Etats nicht Schritt halten. So gibt es kostspielige Events, aber kaum Entdeckungen in Salzburg.
Aus Hamburg hat sich Baumbauer Franz Wittenbrink samt Schauspielern mitgebracht für einen kulinarischen Liederabend. Als Koproduktion mit dem deutschen Schauspielhaus gab es Schlachten. Und der dort nicht ganz unbekannte Christoph Marthaler durfte Ödön von Horváths Zur schönen Aussicht inszenieren: Die junge Frau, der eine Herrenrunde ein übles Spiel bereitet hat, und die heruntergekommene alternde Freifrau, die sich Zuwendung erkaufen muß, stehen sich auf dem Hotelflur, getrennt durch ein Geländer, das einen Schacht umfaßt, gegenüber, eben noch Konkurrentinnen, und nun plötzlich im Elend vereint: der Abgrund von Horváths Stück aus dem Jahre 1927, das der Autor nicht als »Volksstück«, sondern als »Schlüssel-Komödie« bezeichnet hat, tut sich auf. Ein magischer Moment. Leider gibt es davon zu wenig an diesem Abend.
Für einen unverwienerten, unverbayerten Horváth hat Hans Hollmann bereits vor drei Jahrzehnten Maßstäbe gesetzt. Seine stilisierten Verfremdungen dienten der Verdeutlichung der Schrecken, die in der Gemütlichkeit des ewigen Spießers nisten: Marthaler aber inszeniert nicht Horváth, sondern Marthaler. Seine Manierismen verselbständigen sich und finden nur in wenigen Augenblicken zu der einfach gestrickten, aber alle Horváthschen Motive enthaltenen »Komödie«.
Nur selten lösen Großprojekte künstlerisch ein, was die Superlative des Aufwands und des Formats verheißen. Bei den aus Gent importierten Schlachten, einer Bearbeitung von Shakespeares Königsdramen in sechs Teilen, deren Aufführung, mit Pausen, zwölf Stunden dauert, ging die Rechnung - mit Abstrichen - auf. Ein Vergleich mit Ariane Mnouchkines nur zur Hälfte gediehenem Shakespeare-Zyklus bietet sich an. Auch Regisseur Luk Perceval läßt über weite Strecken frontal auf den drei meist leeren variablen gestaffelten Bühnenflächen agieren. Radikal verzichtet er auf visuelle Opulenz, setzt statt dessen auf gestisch-mimische Charakterisierung der zentralen Figuren. Dabei fällt der Sprachregie eine bedeutende Rolle zu. Die Übersetzung der Textbearbeitung von Tom Lanoye durch Rainer Kersten und Klaus Reichert erweist sich als absolut konkurrenzfähig mit den Shakespeareübertragungen von Schaller oder Fried. Bei aller Modernität bewahrt sie, jedenfalls in den ersten vier Teilen, Poesie, Kraft und Melodie des Shakespearschen Originals. Dabei liegt die Modernität weniger in den Schlachten, die der Titel ankündigt, als vielmehr in der Psychologie des Opportunismus, des Verrats, der Intrige, des Machtwillens. An eine Realität, die (zum Beispiel) Serben Albanern und Albaner Serben antun, kommen ohnedies Eimer voll Theaterblut nicht heran.
Dann aber, ab Eduard IV. hatten die Bearbeiter kein Vertrauen mehr in Shakespeares Sprache. Das Zauberwort heißt »Dekonstruktion«. Edward IV. und Richard III. sprechen ein Mischmasch aus Shakespeare-Englisch, Kersten-und-Reichert-Deutsch, ein wenig Niederländisch und sehr viel modderfokking Bronx-Jargon. Was zunächst als schöne Idee überrascht, was als Kunstsprache einen (wem?) vertrauten Shakespeare in die Ferne und zugleich - wenn nicht sprachlich, so dem Sinn nach - wieder näherrückt, wird bald unfreiwillig komisch (»I fear, my dear, you see the case verkehrt«) und verflacht schließlich auch die Charaktere. Von Ri chards Ambivalenz, von seiner Faszination bleibt wenig übrig, ehe er, nicht etwa in der Schlacht, sondern vor einem Brathähnchen, an sich und der Welt erruptiv verzweifelt. Die Absicht ist erkennbar, doch die Wirkung bleibt zurück hinter den Abenteuern der ersten Stunden.
Befragt, was jemanden bewegen sollte, die Salzburger Festspiele zu besuchen, anstatt sich mit dem Repertoire einer Großstadtbühne zu begnügen, meinte ein Mitarbeiter: »Daß man vormittags im Fuschlsee baden und abends eine Oper in erstklassiger Qualität sehen und hören kann.« Wer freilich tagsüber baden und abends Kultur genießen möchte, muß nicht unbedingt nach Salzburg fahren. Wenige Kilometer entfernt liegt das Salzkammergut, wo man bekanntlich gut lustig sein kann. Und da häufen sich im Sommer Festivals mit zum Teil beachtlichen Kulturangeboten, nicht selten mit Künstlern, die auch in Salzburg auftreten, bei denen jedoch gesehen zu werden wenig Ruhm einbringt, weshalb man auch bloß zivile Eintrittspreise bezahlen muß. Ein doppelter Vorteil, denn zu den beschämendsten Aspekten der Salzburger Festspiele gehört der allabendliche Korso, bei dem Salzburger Bürger, die sich nie eine Karte zu den Opern werden leisten können, statt dieser über die Straße hinweg die Schönen oder weniger Schönen, jedenfalls aber Reichen besichtigen, die 1998 im Smoking (empört darüber, daß die Orchestermusiker in Hemdsärmeln spielen) eine Oper, Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, bejubelten, die einen Kapitalismus satirisch attackiert, den sie für gottgewollt halten.
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