Die Festivallandschaft ist unüberschaubar geworden. Filmfestivals, einst exklusive Ereignisse mit internationalem Aufmerksamkeitswert, gehören zum Alltag. Das hat seine guten Gründe: Ihre Funktion hat sich unter der globalen Dominanz von Hollywood fundamental geändert. Aber es macht jedem einzelnen Festival zunehmend schwerer, sich gegenüber der Konkurrenz zu profilieren. Selbst im kleinen Österreich gibt es neben der repräsentativen "Viennale" und der "Diagonale", die dem einheimischen Film gewidmet ist, mehrere Spezialfestivals, etwas zum Architektur-, zum Berg- oder zum kritischen Heimatfilm.
Kein unproblematisches Umfeld also für die Viennale, die im vergangenen Jahrzehnt von einem marginalen Event zu einem der attraktivsten Festivals Europas wurde. Mit Hans Hurch als Nachfolger von Reinhard Pyrker, Werner Herzog, Wolfgang Ainberger und Alexander Horwath konnte die Viennale den profiliertesten österreichischen Kritiker seiner Generation als Direktor gewinnen. Der als Journalist entschiedene Verfechter des "schwierigen" Kunstfilms, der als Mitarbeiter von Straub und Huillet auch praktische Erfahrungen sammelte, leitete das Festival nun zum dritten Mal, sein Vertrag wurde bis zum Jahr 2002 verlängert.
Hurch sieht keinen Sinn darin, mit anderen Festivals zu konkurrieren, die bestimmte Felder seit langem mehr oder weniger gut besetzen. Der "logische Ort" der Viennale ergibt sich nicht zuletzt aus dem Datum gegen Ende des Jahres. Für die Konzeption der großen Marktfestivals fühlte sich Hurch nicht geeignet, schon weil er, wie seine Vorgänger, ein Gegner des Wettbewerbs ist. Es gibt, sagt er, im Leben und in der Kultur genug Wettbewerb, man muss ihn nicht noch anheizen.
Die erste und wichtigste Funktion der Viennale ist für Hurch die eines Wiener Stadtfestivals, das Information, einen Überblick und akzentuierte Nebenschienen bietet. In Cannes, erklärt er, geht kaum jemand aus Cannes in die Kinos. Venedig hatte in diesem Jahr um die 30.000 zahlende Zuschauer, die Viennale hatte 1998 doppelt soviel. Dass er eine subjektive Auswahl aus der Jahresproduktion einlädt, nimmt er für sich in Anspruch und lässt er auch für andere Festivals gelten. Die zweite, internationale Funktion der Viennale besteht darin, dass man sich hier am Ende des Jahres noch einmal einen Rückblick gönnen, versäumte Filme nachsichten und besonders bemerkenswerte Filme ein zweites Mal "in Ruhe" ansehen kann. Von internationaler Bedeutung sind auch die großen Retrospektiven - diesmal galt sie dem indischen "Klassiker" Satyajit Ray -, auf die die A-Festivals nach und nach verzichtet haben.
Die Explosion der Festivals hing nicht zuletzt damit zusammen, dass immer mehr Filme keinen Verleih mehr fanden und daher nicht in die Kinos kamen. Nach wie vor sind solche Filme auf Festivals weitgehend angewiesen. Hurch meint aber, dass selbst für Filme, die einen Verleih haben, Festivals wichtig sein können, weil sie eine sonst nicht gewährte Beachtung garantieren. Als Beispiel nennt er Volker Koepps Dokumentarfilm Herr Zwilling und Frau Zuckermann, der gerade für den Europäischen Filmpreis nominiert wurde. Außerdem gibt es neuerdings eine Tendenz von Verleihen, selbst amerikanische Filme zwar zu kaufen, aber nicht in die Kinos zu bringen. Das gilt etwa für David Mamets The Winslow Boy und Steven Sonderberghs The Limey, die bei der Viennale gezeigt wurden.
Es hängt sicher mit Hurchs beruflicher Biographie zusammen, wenn er es für selbstverständlich hält, dass ein subventioniertes Festival auch und gerade unbekannte Regisseure, deren Filme es einlädt, anständig bezahlt und sie in gebührender Form dem Publikum vorstellt. Dass das leider nicht überall selbstverständlich ist, weiß, wer mit dieser Szene zu tun hat. Wie es in der Plattenproduktion den Typus Richard Branson gibt, dem es egal ist, ob er mit Musik oder mit Fluglinien Geld verdient, und den Typus Manfred Eichler, dem Musik eine unersetzliche Herzenssache ist, so gibt es in der Filmfestivallandschaft pure Manager, die mit dem gleichen Elan einen Lebensmittelgroßmarkt führen könnten, und Cinéasten, die den Film wirklich lieben. Werner Ruzicka gehört dazu, Ulrich und Erika Gregor, Michael Kötz, Jean Perret und eben auch Hans Hurch.
Angesprochen auf die Spannweite des Viennaleprogramms, die Hurch von seinen Vorgängern übernommen hat, beruft er sich auf Straub, der zu sagen pflegt: "Den Fächer kann man nicht weit genug aufmachen. Alles drückt dagegen." Trotzdem will er vermeiden, dass sein Festival zu einem Gemischtwarenladen ohne Struktur wird. Deshalb hat er zum Beispiel eine Reihe von (vor allem Dokumentar-)Filmern eingeladen, die mit Erinnerung zu tun haben.
Hurch unterscheidet zwischen seiner Subjektivität und der objektiven Aufgabe, die er als Festivalleiter hat. "Es gibt im Jahr vielleicht zehn gute Filme", sagt er, "aber es gibt hundert interessante Filme." Für sie sind Festivals zuständig. Um konkret zu werden: The Blair Witch Project rechnet Hurch dem "objektiven" Teil seiner Aufgaben zu, Jun Ichikawas Osaka monogatari oder Nobuhiro Suwas M/other hingegen dem "subjektiven" Teil. Damit ist auch ein Punkt angesprochen, der Hurch von seinem unmittelbaren Vorgänger Horwath unterscheidet: bei diesem war die Viennale (wie übrigens auch das überschätzte Festival von Locarno) stark amerika- und frankreichlastig. Ewig, stellt Hurch fest, gab es keine Retrospektive eines Regisseurs, der nicht aus Europa oder den USA stammte. Der große Zuspruch des Publikums für Satyajit Ray, dessen Namen man weit besser kennt als sein Werk, belohnt Hurchs Risikofreude.
Die Viennale war der Ort, zwischen Teilnahme am Wettbewerb von Venedig und dem österreichischen Kinostart, den ersten abendfüllenden Spielfilm von Barbara Albert vorzustellen, die bereits mit Kurzfilmen und einem Dokumentarfilm aufgefallen war. Nord rand fängt in mehreren miteinander verflochtenen Handlungssträngen sensibel und milieugenau Gegenwart und Atmosphäre der Wiener Vorstadt ein. Mit diesem Debüt hat der österreichische Spielfilm wieder eine große Begabung zu registrieren, wenn man von einigen wenigen vermeidbaren klischeehaften Einstellungen absieht. Ein Beispiel: Zwei junge Frauen, die eben eine Abtreibungsklinik verlassen haben, stehen am Rand einer tristen Straße. Es beginnt zu schneien. Die Kadrierung vermittelt suggestiv die Erleichterung und zugleich die Einsamkeit der Frauen. Dazwischen zeigt die Kamera nun völlig überflüssig von oben das aus hundert Filmen vertraute Bild der einen Frau, wie sie sich mit ausgebreiteten Armen, die Schneeflocken auffangend, im Kreise dreht. Dennoch: die Wiener spendeten dem jungen Team den verdienten begeisterten Applaus. Wo, wenn nicht bei der Viennale, hätte dieser Film seinen Gegenstand und sein Publikum so hautnah zusammengebracht?
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