Wer leidet unter Paranoia?

Niemand ist mehr, wie er einmal war Rutschky, Sontag, Chomsky, die Gewalt der Schurkenstaaten und die Penetranz eines falschen Satzes

In einer seiner Kolumnen im Samstagsfeuilleton der Frankfurter Rundschau, fünf Wochen vor den Terroranschlägen von New York und Washington, sinnierte Michael Rutschky über sein Ich nach. Seinerzeit, so verrät er den Lesern, habe er verstehen können, was die RAF-Leute taten (obwohl er es, wie er pflichtschuldig beteuert, "strikt missbilligte"); damals, unter Präsident Reagan, habe er "die USA ja doch ein bisschen für den Großen Satan" gehalten (man beachte die subtile Selbstironie in der Formulierung!); einst habe er sich über den Sieg der Roten Khmer in Kambodscha gefreut. Heute dagegen versteht Rutschky die RAF nicht mehr, er bedauert es bloß noch, dass George W. so gar nicht sein Präsident sei, und über Pol Pot ist er nur noch "fassungslos". Er ist nicht mehr, so versichert der Amateurphilosoph, der er damals war. Er sei im Laufe der Zeit "unmerklich ein anderer geworden". Und weil noch nie jemand in Betracht gezogen hat, dass seine Wandlungen darauf zurückzuführen sein könnten, dass er dümmer geworden ist (oder auch nur opportunistischer), bekennt Rutschky bescheiden: "Ich bin einfach klüger geworden." Will sagen: Wer seine Bekehrung nicht mitvollzogen hat, ist nicht lernfähig oder schlicht blöde. Als Beleg für seine eigene Lernfähigkeit führt Rutschky an, dass er inzwischen in den USA gewesen sei und nun wisse, "dass dort nicht alle wie Ronald Reagan (oder George W.) sind". Wenn er freilich solch einen hanebüchenen Unsinn jemals geglaubt hat, konnte er in der Tat nur noch klüger werden. Andererseits muss nicht unbedingt ein Idiot sein, wer die USA, damals wie heute, für eine reaktionäre, wirtschaftlich und kulturell unangenehm dominierende Großmacht hielt und hält, obwohl sie kein "Großer Satan" und nicht jeder Amerikaner ein Ronald Reagan ist.

Was Michael Rutschky nicht reflektiert, ist die wundersame Tatsache, dass sich die Veränderung seines Ichs zeitgleich mit der Veränderung so vieler anderer Ichs aus seiner Generation vollzogen hat. Die US-Euphorie ist heute zumindest ebenso verbindlich Konsens, wie es die Verharmlosung der Roten Khmer - jedenfalls innerhalb der Bezugsgruppe des "ausgekuppelten Studenten" Rutschky - "damals" war. Der Verdacht drängt sich auf, dass Michael Rutschky weder damals noch heute ein Ich besaß, sondern stets nur die Fähigkeit, sich jenen im umgebenden Milieu vorherrschenden Ansichten chamäleonhaft anzubiedern, die Geborgenheit und Konfliktfreiheit garantieren. Und so erweist sich die angebliche "Diskontinuität des Ichs" als eine Kontinuität des Anpassertums.

Die Pointe zu Rutschkys Demutsgeste vor dem Zeitgeist und dem Obrigkeitsstaat lieferte ironischerweise die Frankfurter Rundschau selbst anderthalb Wochen später nach. Niemand anderer nämlich als Klaus Pflieger, Bundesanwalt in den Jahren der RAF und neuerdings Generalstaatsanwalt von Württemberg, kann, wie die FR am 15. August 2001 berichtet, heute "nachvollziehen, dass die jungen Leute, die sich der RAF anschlossen und in den Untergrund gingen, zu sterben und zu töten bereit, an diesem Staat verzweifelten, jedenfalls wenn sie sich auf einzelne Themen beschränkten, wo sie etwas ganz anderes wollten, und zwar an sich Gutes". Im Gegensatz zu Rutschky findet Pflieger, mit Blick auf den Vietnamkrieg, "im Nachhinein": "Die hatten so Unrecht nicht." Und er fügt hinzu: "Durch die Bank hatten die Leute der RAF ein soziales Anliegen." Wenn nun Rutschky, dessen wandelbares Ich zur entgegengesetzten Erkenntnis gekommen war, klüger geworden ist - muss man dann definitiv annehmen, dass Klaus Pflieger just im Zustand der Verblödung zum Generalstaatsanwalt gemacht wurde?

Einer der dümmsten Sätze innerhalb der an Dummheit nicht gerade armen Rhetorik, die seit dem 11. September die Medien beherrscht, ist die Behauptung, nichts sei mehr so, wie es einmal war. Und weil dieser Satz so idiotisch ist, wird er ständig nachgeplappert. Fast alles ist in Wahrheit wie zuvor. Die Menschen lieben und hassen einander wie zuvor, täglich verhungern 60.000 Kinder wie zuvor, die Reichen werden, wie zuvor, auf Kosten der Armen ständig reicher. Nur Michael Rutschkys Ich ist nicht mehr, was es einmal war. Aber auch dieser bemerkenswerte Wandel hat sich, wie dokumentiert, bereits vor dem 11. September vollzogen

Warum wird ein so offensichtlich falscher Satz so penetrant wiederholt? Warum liegt den amerikanischen Politikern, ihren Medien und ihren europäischen Nachbetern so viel daran, den 11. September als Epochenbruch zu markieren?

Der Terroranschlag auf die USA, wo wird uns - auch von deutschen sozialdemokratischen und grünen Politikern - gesagt, rechtfertigt den Krieg auch auf afghanische Frauen und Kinder oder auf Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, müsse dargestellt werden als Wirkung, die eine Ursache hat. Und als Ursache haben die "atrocities", die "Gräueltaten" vom 11. September zu gelten. Was aber, wenn diese Ursache selbst Wirkung von Ursachen ist? Genau dieser Gedanke darf nicht gedacht werden. Wer ihn ausspricht, und sei er ansonsten noch so angesehen und des Radikalismus unverdächtig, wird öffentlich von einem Schily ebenso brüsk zurechtgewiesen wie von einem Cohn-Bendit. Welche Ursachen aber "rechtfertigen" (Gegen-)Gewalt? Wieviel unschuldige Menschen müssen getötet werden, um einen Krieg zu rechtfertigen? Und welche Reaktion hätte, um ein Beispiel zu nennen, jene Gewalttat gerechtfertigt, an der der CIA, wie Madeleine Albright eingestanden hat, an einem anderen 11. September mitgewirkt hat: die Ermordung Salvador Allendes, in deren Folge, unter dem Schutz der USA, mehrere Tausende Menschen ermordet wurden, die nicht weniger unschuldig waren als die Toten vom World Trade Center?


Es heißt nicht, den Massenmord von New York und Washington zu verharmlosen oder gar zu entschuldigen, wenn man versucht, Zusammenhänge zu erkennen. Genau das tat Susan Sontag wenige Tage danach in einem viel gescholtenen Artikel. Am 11. Oktober hat sie diesen in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung relativiert, zum Teil zurückgenommen. Unter anderem schreibt sie darin: "Der Anschlag ist real. Es ist ein Anschlag auf die Moderne (die einzige Kultur, in der die Emanzipation der Frau möglich ist) und, jawohl, auf den Kapitalismus. Und wir haben gesehen, dass die moderne Welt, unsere Welt, extrem verwundbar ist. Eine militärische Antwort - kein Krieg, sondern eine komplexe und präzise definierte antiterroristische Operation - ist notwendig und gerechtfertigt." Unklar bleibt, ob Susan Sontag eine militärische Antwort just deshalb für notwendig und gerechtfertigt hält, weil sich der Anschlag, außer gegen die Moderne, gegen den Kapitalismus richtete.

Der österreichische Journalist Hans Rauscher, gemeinhin bekannt für seine ausgewogenen und unabhängigen Kommentare, zitiert diese Sätze von Susan Sontag. Und er stellt ihnen eine Äußerung von Noam Chomsky gegenüber: "Hinter fast jedem Verbrechen, ob es ein Raubüberfall ist oder ein kolossales Gräuel wie der 11. September, steckt etwas. Oft hat das, was dahinter steckt, legitime Elemente, und wenn man ernsthaft ist, wie bei denen, die ich erwähnte, gibt es ein legitimes Element."

Rauscher kommentiert die Sätze von Susan Sontag so: "Die Linksintellektuelle Sontag widerlegt damit den amerikanischen Sprachtheoretiker und Linksintellektuellen Noam Chomsky." Die Wahrheit aber ist: Susan Sontag widerlegt nichts und niemand. Man mag ihre Meinung sympathischer finden als die von Noam Chomsky, man mag sich ihr anschließen, aber sie hat keinerlei Beweiskraft und kann daher einer entgegengesetzten Meinung widersprechen, nicht aber sie widerlegen. Im übrigen lohnt es sich, nachzulesen, wie Chomskys Argumentation nach der zitierten Stelle weitergeht. Er sagt da unter anderem: "Es geht nicht um eine Rechtfertigung. Wenn Großbritannien fragt, was hinter den IRA-Bombardements liegt und sagt: ›Also, tun wir etwas wegen Nordirland‹, bedeutet das nicht, dass man sie rechtfertigt. Es bedeutet, dass man vernünftig ist und versucht, das Maß der Gewalt zu verringern."

Aber das Chomsky-Bashing hat nicht erst nach dem 11. September eingesetzt. Im Deutschland der sich wandelnden Ichs gab es einen Mitarbeiter der mehr oder weniger linken taz namens Jörg Lau. Sigrid Löffler holte ihn zur liberalen ZEIT, wo er zusammen mit anderen Besen seinen Zauberlehrling überlebte. Und weil Lau sich die bislang vorenthaltene Beachtung verschaffen wollte, böllerte er schon im Sommer gegen diese Galionsfigur der amerikanischen Linken los, der er, mit Verlaub, nicht das Wasser reichen kann, wie eine plastische Redensart lautet, was ihn zu um so dreisterer Maulhurerei verleitet.

Noam Chomsky, so deklariert Lau, sei ein "wahrer Manichäer", entschlossen, "unbequeme Fakten nicht zur Kenntnis zu nehmen, wenn sie der Beweisführung schaden oder gar seine Weltsicht gefährden". Diese Beschimpfung erinnert an den kindlichen Brauch, die Benennung als "Esel" oder als "Idiot" mit einem triumphierenden "selber einer" zu beantworten. Jörg Lau wirft Chomsky vor, was er selbst betreibt: eben die Ignorierung von Fakten. Und weil es in Chomskys Schriften Erkenntnisse gibt, die den ZEIT-Geist eines Jörg Lau gefährden, bezichtigt er ihn kurzerhand einer "zunehmend verschwörungstheoretischen politischen Publizistik" und attestiert ihm einen "paranoiden Stil". Das Argumentationsmuster ist bekannt: Verfolgung wird gerechtfertigt, indem man den Verfolgten Verfolgungswahn unterstellt.

Was steht nun in dem jüngsten Buch des Wahnsinnigen, der als Sprachtheoretiker wie als Kritiker der US-Politik so produktiv und unangepasst ist, dass Jörg Lau meint, die beiden Tätigkeiten in einen Zusammenhang bringen und zugleich gegen einander ausspielen zu müssen? Der englische Titel der deutschen Ausgabe, der - welch unvorhersehbare Koinzidenz - dem späteren "War against Terror" des CNN so sehr ähnelt, ist eine deutsche Erfindung. Im Original heißt das Buch schlicht und nicht ohne Ironie "Schurkenstaaten", und was damit gemeint ist, wird durch den Untertitel Die Herrschaft von Gewalt in internationalen Angelegenheiten präzise auf den Punkt gebracht. Es deckt sich thematisch weitgehend mit einem anderen Buch, das Chomsky vor einem Jahr in New York veröffentlicht hat: A New Generation Draws the Line: Kosovo, East Timor and the Standards of the West. Chomsky nennt - und belegt! - mehrere Beispiele für die Durchsetzung und Verteidigung US-amerikanischer Interessen mit offener oder verdeckter Gewalt - gegenüber Kuba, gegenüber Vietnam, gegenüber Ost-Timor, gegen Nikaragua. Er stellt fest: "Es gilt das Prinzip, dass eine internationale Organisation den Interessen der US-amerikanischen Politik dienen muss, wenn sie auf längere Sicht überleben will." Dabei sieht er keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen der Politik der republikanischen und der demokratischen Präsidenten. Was ist daran paranoid?

Chomsky sagt: "Millionen Menschen sterben weltweit an heilbaren Krankheiten, weil die den WTO-Regeln eingeschriebenen protektionistischen Elemente privaten Megakonzernen das Recht auf monopolisierte Preisbildung zugestehen." Wie war das erst unlängst mit dem Anti-AIDS-Präparat in Südafrika? Fakten oder Ideologie?

Die Gleichsetzung von Saddams Irak und den USA als "Verbrecherstaaten" bedeutet natürlich eine Provokation. Kriterium dafür ist die Anwendung von Gewalt am Sicherheitsrat der Vereinten Nationen vorbei. Wer ist denn nun der Manichäer? Derjenige, der im Konflikt der USA mit dem Irak die "Guten" und die "Bösen" zu kennen meint, oder derjenige, der die Gegner nach dem gleichen Maßstab misst?

Es sind solche tabuisierte Gleichsetzungen, das genaue Gegenteil von Manichäismus, die die Verwalter der bei uns veröffentlichten Meinung am heftigsten verletzen. Chomsky nennt als Beispiele für privatisierte Tyrannei in einem Atem Bolschewismus, Faschismus und Privatkonzerne. Wohlgemerkt: er schlägt nicht (wie ein Manichäer) Bolschewismus oder Faschismus den "Guten" zu. Aber er konstatiert, dass zwei dieser Systeme zusammengebrochen seien (was so global anfechtbar ist), dass aber - und daran ist nicht zu zweifeln - das dritte unter dem Bann der Alternativlosigkeit lebt und gedeiht: als "System eines von Staat und Konzernen betriebenen Merkantilismus, das sich hinter Zauberformeln wie ›Globalisierung‹ oder ›Freihandel‹ versteckt". Und wer da im Feuilleton meint, Chomsky erliege einer Verschwörungstheorie, der sollte mal im Wirtschaftsteil blättern. Dort standen die Fakten, die Chomsky offenbar genauer beachtet als Susan Sontag, vor dem 11. September, dort stehen sie auch danach. Chomskys Buch aber ist tatsächlich nicht, was es zuvor war. Es ist noch weitaus aktueller und brisanter. Jedenfalls für jeden, der sich durch die infame Verdächtigung der Terrorismusverharmlosung einschüchtern lässt, wenn er über Zusammenhänge nachdenkt.

Noam Chomsky: War against People. Menschenrechte und Schurkenstaaten. Aus dem Amerikanischen von Michael Haupt. Europa Verlag, Hamburg/Wien 2001, 160 S., 24,50 DM

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