Vielleicht ist es die Altersmilde. Irgendwie macht es kein Vergnügen, in den spöttischen Ton einzustimmen, welcher der Berichterstattung von den Salzburger Festspielen mit der gleichen Hartnäckigkeit anhaftet wie jener vom Ingeborg-Bachmann-Preis. Seit vielen Jahren weiß man, was einen erwartet, und fährt doch immer wieder hin. Wozu also jene Herablassung, die wohlfeil ist, wenn sie nicht auch Selbstkritik enthält?
Der Irrtum bestand in der Überschätzung Karajans. Nicht er, die Struktur der Festspiele war und blieb die Ursache aller Übel, und wer sich auf Salzburg einlässt, muss diese Übel in Kauf nehmen. Und einiges lässt sich durchaus loben. Etwa Peter Ruzickas vornehme Unaufgeregtheit, die sich angenehm abhebt von der habituellen Selbstdarstellung seines Vorgängers. Es ist überdies wohl nicht fair, wenn man einerseits Risikobereitschaft einfordert und dann andererseits jedes Scheitern mit Hohn überhäuft.
Gewiss, die Qualität von Konzeptionen beweist sich auf der Bühne, nicht im Programmheft. Wenn es einem Regisseur nicht gelingt, seine Überlegungen szenisch zu vermitteln, so hat er versagt. Wenn diese Überlegungen, wie im Fall von Stefan Herheims Entführung aus dem Serail, zudem ihren Mangel an Triftigkeit hinter überbordenden Paradoxen zu verbergen suchen, geht auch der Rest dessen flöten, was zu einer anregenden Neudeutung hätte führen können. Aber wozu die maßlose Erregung, wo man die Langeweile einer Stadttheaterästhetik bei Hoffmanns Erzählungen als Dekor für "große Stimmen" hinnimmt und sich des Märchens L´Upupa erfreut, das in den vertraut strahlenden Bildern Dieter Dorns und Jürgen Roses keine Erinnerung an den einstigen Provokateur Hans Werner Henze mehr abruft.
Dann aber diese Clemenza di Tito, die einen bedauern lässt, dass Martin Kus?ej, ab 2005 Schauspielchef, seine Zusammenarbeit mit Nikolaus Harnoncourt nicht fortsetzen will. Fast ohne Mätzchen füllt Kus?ej die auf vier Stockwerken bespielte Panoramabühne der Felsenreitschule, den Sinn dieser Mozart-Oper über den Triumph der Gnade ebenso visualisierend wie die musikalische Struktur.
Schon vor der Anreise erreichten uns zwei Nachrichten aus dem Festspiel-Salzburg: Weil Alberto Vilar, dessen Bild seit Jahren alle Programmhefte ziert und dem ebenso lang devot dafür gedankt wurde, dass er von seinen vielen durch fleißige Arbeit erworbenen Millionen ein paar für die Salzburger Festspiele spenden wollte, sparen muss und im Verzug ist mit der Überweisung der Raten, soll die Produktion der für 2006 bei der Komponistin Olga Neuwirth und der Librettistin Elfriede Jelinek in Auftrag gegebenen Oper gestrichen werden. Und: die Skulptur eines nackten Mannes mit erigiertem Penis gleich vor dem Festspielhaus wurde nach heftigen Protesten aus der Bevölkerung verhüllt.
Nicht die Sparmaßnahmen, die charakteristischerweise bei gegenwärtiger Produktion statt bei musealer Routine vorgenommen werden sollen, nicht die erneute Widerlegung der Lüge, dass Kunst sich ohne Abstriche von privaten Sponsoren abhängig machen könne, erregt die Salzburger Öffentlichkeit, sondern eine öffentlich zur Schau gestellte Erregung. Wir leben, hört man, in einer aufgeklärten Zeit. In Salzburg ticken die Uhren anders.
Nun hat Ibsen also auch die Salzburger Festspiele erreicht. Dabei ergibt sich das Paradox, dass man den Norweger einerseits für hinreichend aktuell hält, um ihn landauf landab aufzuführen, ihn aber andererseits als so veraltet einschätzt, dass man seine Stücke massiv bearbeitet, um sie dem 19. Jahrhundert zu entreißen und heutigen Gegebenheiten anzupassen.
Dass ein Johann Kresnik den Peer Gynt nicht vom Blatt inszenieren würde, war vorauszusehen. Bei ihm ist der legendäre Bühnenheld weder der schwärmerische Träumer, als den ihn uns Ulrich Mühe in Wien präsentiert hat, noch der Kraftlackel, den Ulrich Tukur in München spielte. Er ist vielmehr ein geiler Bock in Siebenmeilenstiefeln, der gleich zu Beginn mit seiner Mutter rammelt, als wäre er Ödipus. Man sah eindrucksvolle Bilder, viel Gymnastik und eher schlichte Choreographien, aber keinen inneren Konnex zwischen den Stationen des auf zwei Stunden zusammengestrichenen "Dramatischen Gedichts".
Zum Ausgangspunkt ihrer Konzeption machen Kresnik und sein "Librettist" Christoph Klimke einen Satz aus Heiner Müllers Auftrag: "Die Revolution hat keine Heimat mehr und vielleicht war, was wir für das Morgenrot der Freiheit hielten, nur die Maske einer schrecklicheren Sklaverei." Aber vor der Oktoberrevolution ist nicht nach der Oktoberrevolution, Ibsens Perspektive ist, bei aller anarchistischer Staatsskepsis, eine andere als die Heiner Müllers, und vor allem: Peer Gynt macht nicht so sehr die Welt zum Thema wie deren Einwirkung auf einen einzelnen, scharf konturierten Charakter. Was der im berühmten Zwiebelmonolog erfasst, geht notwendig verloren, wenn man Ibsen Heiner Müller überstülpt.
Schon zuvor wurde das Young Directors Project mit der Frau vom Meer, einer Koproduktion mit dem Deutschen Theater Berlin, eröffnet. Die Geschichte von der Außenseiterin, die sich der bürgerlichen Ordnung erst fügen kann, als ihr das Recht auf eine freie und eigenverantwortliche Entscheidung gewährt wird, hat ihre Gültigkeit bewahrt. Wer sich daran stößt, dass Ellida, die Frau vom Meer, am Ende bei ihrem Gatten bleibt, verkennt, dass es hier nicht um den Ausbruch aus der Ehe geht, sondern um Möglichkeiten und Grenzen der Selbstverwirklichung, und sei es um den Preis des Triebverzichts.
Lähmend wirkt im Gegensatz zur Fabel die penetrante Symbolik von Ibsens Drama, die überdeutliche Verdoppelung und Verdreifachung der Botschaft. In Salzburg hat man sich für die Bearbeitung entschieden, die Susan Sontag dem Stück 110 Jahre nach seiner Entstehung angedeihen ließ. Sie hat sich von Brecht und Thornton Wilder inspirieren lassen und Ibsen episiert. Die Regisseurin Monika Gintersdorfer fügte Sontags Brecht die Groteske des russischen Theaterpioniers Meyerhold hinzu, und zwar mit einer Konsequenz, die, je länger sie währt, umso mehr überzeugt. Wie ein Schock hebt sich dann jene Szene davon ab, in der die scheinbare Komik mit Ellidas Satz "Ich bin nicht mehr krank, Hartwig, jetzt nicht mehr" in Ernst umschlägt. Vollends zum Erlebnis wird die Inszenierung inmitten einer angedeuteten Aluminiumküche durch die bravouröse Schauspielkunst, insbesondere von Anika Mauer als Ellida und Hans Kremer als Doktor Wangel.
Die Jahreszahl 1968 ist längst zu einer assoziationsträchtigen Chiffre geworden. Im Jahr davor schrieb ein Italiener ein Theaterstück, das die aktuelle politische Befindlichkeit in Deutschland zu seinem Thema machte. Ein Italiener über Deutschland, ausgerechnet? Das Thema des zwanzigsten Jahrhunderts war ein deutsches und internationales Thema zugleich: Der Kampf einer nachgewachsenen Generation, die aufbegehrt und unterliegt, gegen die Väter, die sich, erpresst und erpresserisch, mit einander und mit ihren eigenen Verbrechen versöhnen, prägte die öffentlichen Debatten von 1968 und das Theaterstück, das ihnen zuvorkam. Sein Autor heißt Pier Paolo Pasolini und sein Titel lautet Porcile, auf Deutsch: Der Schweinestall.
Antonio Latella und das Nuovo Teatro Nuovo aus Neapel zeigten Porcile auf einer niedrigen quadratischen Bühne vor einem sympathisch jungen und aufgeschlossenen Publikum, das sich an Langeweile eher stößt als an nackten, sogar andeutungsweise kopulierenden Darstellern - ohne das geht es wohl nicht mehr, aber selten war es dramaturgisch so triftig wie hier. Auf der ansonsten leeren Fläche steht lediglich eine Art Plexiglashundehütte, in der zu Beginn Ida und Julian hocken, in die sie sich immer wieder vor den Alten verkriechen. Diese tragen, von der einzigen Frau, Mutter Bertha, abgesehen, groteske Kautschukmasken, die Mimik als Ausdrucksmittel verhindern. Latellas Ensemble arbeitet mit den Mitteln der sprachlichen Artikulation und der Gestik. Der Vater etwa, ein Industrieller, der den sprechenden Namen Klotz trägt, schleicht in einem rosa Anzug und mit einem krummen Stöckchen durch das Stück und windet sich wie eine Figur der commedia dell´arte, der man ihren Charakter sogleich ansieht; sein spitzohriger Freundfeind Herdhitze, der unter dem Namen Hirt einst an Schädeln von Auschwitz-Häftlingen Experimente durchgeführt hat, streckt hingegen sein Kreuz im weißen Anzug gealtert und selbstbewusst zugleich durch. Stilisierung statt psychologischem Realismus - darin treffen sich Pasolini und sein Regisseur und eine der großen Traditionen des Theaters.
In der vorletzten "Episode" des Stücks begegnet der hilflose Julian Spinoza. Bei Latella tritt der als Figur ebenso wenig auf wie Bassa Selim in der Salzburger Entführung. Der Regisseur lässt Spinozas Text vom gesamten Ensemble sprechen: eine angemessene Erinnerung an den antiken Chor, der dem buchstäblich nackt im Zentrum stehenden "Helden" hier ins Gewissen redet.
Als vor fast exakt 35 Jahren die sowjetischen Panzer in Prag einfuhren, spielte man am damals beliebtesten Theater der tschechischen Hauptstadt Nikolaj Gogols Revisor. Die letzten zwei Sätze des Stücks, die die Ankunft des echten Revisors verkünden, wurden auf Russisch gesprochen. So aktuell kann Theater sein.
In Salzburg wurde lettisch gesprochen. Die Ankündigung des echten Revisors und mit ihr einer der berühmtesten Schlüsse der dramatischen Weltliteratur blieb aus. Dass der Revisor des Jaunis Rigas Teatris in der Regie von Alvis Hermanis jedoch in der Sowjetunion spielt, verrät das hyperrealistische Bühnenbild: eine triste Kantine mit dazu gehörender Küche und wenig anregenden Toiletten, in der sich aufgedunsene Figuren wie von Botero oder Manfred Deix bewegen. Von ihnen unterscheidet sich der falsche Revisor Chlestakov nicht nur durch den Mangel an Fett, er ist auch ein gesellschaftlicher Außenseiter, vielleicht ein Obdachloser oder ein Junkie. Er stolpert eher in die Hochstapelei als dass er sie bewusst plante.
Wenn der Übersetzer und Regisseur Hermanis freilich meint, Gogols phantasmagorische und absurde Visionen seien erst mehr als hundert Jahre später, nämlich in der Sowjetunion, Wirklichkeit geworden, so muss daran erinnert werden, dass diese angeblichen Visionen eine ziemlich genaue Repräsentation der russischen Wirklichkeit zu Gogols Lebzeiten waren und über Jahrhunderte hinweg Kontinuitäten existieren, die seine Aktualität in deprimierender Weise bestätigen.
Auf der Bühne tummeln sich im ersten und im letzten Akt drei Hühner. Sie sind echt und dokumentieren das mit allen denkbaren Lebenszeichen. Am Schluss erscheint in der Tür hinter der betreten schmausenden Hochzeitsgesellschaft, der der Bräutigam abhanden gekommen ist, ein überlebensgroßes Huhn. Der Revisor? Oder nur der Bote, der dessen Ankunft meldet? Oder vielleicht Bassa Selim in Verkleidung? Nach ihm wird in Salzburg am heftigsten gefahndet.
Die klaren Machtverhältnisse, wie sie in den alten Theaterstücken gezeigt werden, seien, so vernehmen wir, heute nicht mehr existent. Es sei heute kein Thema mehr, soziale Unterschiede auf einer Bühne zu zeigen und ein bestimmtes Verhalten nur mit sozialen Unterschieden zu erklären.
Diese erstaunliche Erkenntnis verkündet nicht etwa der Industriellenverband oder eine Parteizentrale, sondern der Regisseur Michael Thalheimer, der in einer Koproduktion mit dem Thalia Theater Hamburg Georg Büchners Woyzeck für die Salzburger Festspiele inszeniert hat. Nun gab es immer schon Versuche, dem als Fragment überlieferten Stück von 1836/37 etwa durch existentialphilosophische oder psychoanalytische Interpretationen seinen offensichtlichen sozialkritischen Gehalt auszutreiben. Aber so dreist, so voller Lust an der sich verselbständigenden Provokation hat sich noch keiner dem Zeitgeist angedient wie Michael Thalheimer.
Mit seiner Inszenierung ist die "moralische Anstalt" wenn nicht beim Publikum, so jedenfalls bei den Sponsoren der Salzburger Festspiele angekommen. Sie liefert die szenische Begleitmusik zur Rede von den Sozialschmarotzern und zur Kriminalisierung der Schwachen in der Gesellschaft.
Ja, gewiss doch, wir haben nicht vergessen, dass Woyzeck ein Mörder ist. Aber der Verfasser des Hessischen Landboten hat als einer der Ersten in der deutschen Literatur begriffen, dass Verbrechen ihre Ursachen jenseits von Erbanlagen und Charakter haben, dass die geschundene Kreatur, obgleich Täter, auch Opfer sein kann, und zwar das Opfer von gesellschaftlichen Kräften, die Büchner in seinem Stück in den Figuren des Hauptmanns und des Doktors unmissverständlich personifiziert. Woyzeck ist die dramatische Umsetzung der Milieutheorie, und wer das unterschlägt, wer, wie Michael Thalheimer, "Woyzeck als Opfer heute nicht mehr für relevant" hält, spielt jenen in die Hände, die ohnedies der Meinung sind, dass in dieser Gesellschaft jeder bekommt, was er verdient.
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