Das 21. Jahrhundert wird ein nachrevolutionäres Jahrhundert sein. Darin stimmen die Ideologen der Postmoderne mit den Verteidigern eines in den Horizont der liberalen Demokratie eingehegten "Projekts der Moderne" überein. Beide verabschieden die "Große Erzählung" (J.-F. Lyotard) des Marxismus vom revolutionären Proletariat als dem Subjekt universeller Emanzipation. Historischer Fortschritt soll nur noch als partielle Reform möglich sein, wer mehr will, verlässt den Konsens der Demokraten in Richtung Totalitarismus.
Marx selbst hätte sich auf die parlamentarische Prozedur allerdings auch gar nicht vereidigen lassen. Ihm ist die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft eine Geschichte von Klassenkämpfen, in denen es zuletzt allein um Sieg, Niederlage oder "gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen" geht. Der Kommunismus ist darin weder eine erst zu verwirklichende Utopie noch ein bloß handlungsleitendes Ideal, sondern "die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung." Die wiederum liegt in der im kapitalistischen Weltmarkt erreichten Globalisierung einer dem Kapital vollständig ausgelieferten "Masse von bloßen Arbeitern". Im Begriff des Proletariats fasst er deren elende soziale Lage und zugleich einzigartige Chance, Subjekt kommunistischer Bewegung werden zu können.
Leider haben die Hauptlinien des Marxismus daraus tatsächlich eine Große Erzählung unaufhaltsamen Fortschritts gewoben. Dem lag entweder ein dem Hegelschen Weltgeist nachgebildeter "Gesichtspunkt der Totalität als Subjekt" (G. Lukács) oder die gesetzmäßig geregelte Produktivkraftentwicklung zugrunde - Mischformen eingeschlossen. Der Identifizierung des revolutionären Subjekts im weißen männlichen Industriearbeiter folgte die Hierarchisierung der sozialen Kämpfe nach Haupt- und Nebenwiderspruch, in der die Vielstimmigkeit der Revolten der "Bildung des Proletariats zur Klasse" untergeordnet wurde.
Fortschrittslogik oder Politik der Differenz?
Um Arbeiterklasse aber ist es, darin ist den Postmodernen zuzustimmen, schon seit längerem schlecht bestellt. Klar wurde das nicht erst mit der Niederlage der realsozialistischen Partei- und Staatsapparate Ende des 20. Jahrhunderts, sondern schon in der furchtbaren Gewalt, die sie nicht nur, aber auch gegen ProletarierInnen wie KommunistInnen ausgeübt haben. Darauf antworteten zuletzt die Revolten des Mai 68, indem sie der Fortschrittslogik proletarischer Identitätspolitik Politiken der Differenz entgegensetzten, die sich im Feminismus, der Ökologie und im kulturrevolutionären "Patchwork der Minderheiten" (J.-F. Lyotard) artikulierten.
Aber auch diese Minderheiten zersetzten sich in den Umwälzungen, die die postmoderne Ideologie als "Übergang zur globalisierten Informationsgesellschaft" bezeichnet. Die globalisierte Gesellschaft unterwirft zwar, wie von Marx vorausgesagt, alle gesellschaftliche Tätigkeit kapitalistischer Verwertung, doch geht die universelle Proletarisierung mit der Atomisierung und Pluralisierung gerade des Proletariats einher. Dessen "Bildung" zum Kollektivsubjekt wird praktisch immer unwahrscheinlicher und theoretisch zum leeren Konstrukt.
Doch verfällt, wer sich damit zufrieden gibt, bloß einer anderen Großen Erzählung: der von dem, was "Marxismus" gewesen sei. Sie verdeckt, dass alle produktiven Brüche revolutionärer Theorie und Praxis mit einer Kritik der marxistischen Orthodoxie beginnen. Zu denen, die derart mit Marx über Marx hinausgehen, gehören heute die Philosophen Antonio Negri und Alain Badiou.
Negri übersetzt Marx´ Axiom des Klassenantagonismus in sein Axiom der Antagonismen von Souveränität und Multitude. Während die Multituden - wörtlich mit "Menge" zu übersetzen - unaufhörlich aus den politökonomischen Formen der Souveränität ausbrechen, suchen die Souveränitätsmächte deren "Exodus" unter ihre Disziplin und Kontrolle zurückzuzwingen. Das gelingt ihnen, wenn sie aus den "Singularitäten" einer Menge "Subjekte der Souveränität" einer Klasse, eines Volkes oder einer Nation machen. Wird solche "Korruption" in sozialer Revolte aufgebrochen, treten - wie im Mai 68 geschehen - neue Multituden hervor. Deren Kämpfe sind immer auch Klassenkämpfe, doch zugleich mehr und anderes als "klassistische" Identitätspolitik. Theoretisch wie praktisch finden sich Entstehung und Korruption von Multituden heute in der zugleich informatisierten und globalisierten kapitalistischen Produktion, die primär auf der Verwertung "immaterieller", weil Zeichen, Affekte und Dienstleistungen produzierender Arbeitskraft beruht.
Mit einem im Deutschen unübersetzbaren Wortspiel bezeichnet Alain Badiou die im gegebenen "Zustand" einer gesellschaftlichen Situation (état d´une situation) wirkende Souveränitätsmacht als "Staat" (Etat d´une situation). Was Marx im Begriff der "Masse bloßer Arbeiter" zugleich entdeckt und verfehlt, sind Badiou zufolge die in der Situation zwar präsenten, von der staatlichen Identifikation aber nicht re-präsentierten sozialen Kräfte. Deren Ausschluss macht die verborgene Unwahrheit jedes "Etat d´une situation" aus, die im Ereignis eines revolutionären Bruchs - in der Pariser Commune, im Roten Oktober oder den Revolten der Epoche von 1965 bis 1985 - offenbar wird. Doch kann das Ereignis weder auf ein vorgängiges Subjekt noch auf eine durchgängig bestimmte Verkettung von Umständen und Handlungen zurückgeführt werden. Statt dessen konstituiert sich sein Subjekt nachträglich erst in der Praxis, die die herrschenden Verhältnisse im Licht des Ereignisses zu verändern sucht.
Der nächste Zweck der KommunistInnen
Negris und Badious Differenzierungen im Begriff des Proletariats führen zur Neubestimmung der Rolle seiner kommunistischen "Militanten". Denen kann es heute nicht mehr um die identifikatorische "Bildung des Proletariats zur Klasse" gehen und darum nicht mehr um deren Repräsentation im Bezug zur Staatsmacht, sondern nur noch um die Lösung aller Bindungen, in denen Mengen den sozialen Formen der Klasse, des Volkes und der Nation unterworfen werden. Damit aber bleiben die KommunistInnen Negris und Badious denen von Marx und Engels in einer wesentlichen Hinsicht treu: auch sie wollen die Globalisierung des Kapitalismus nicht bremsen - das bleibt Utopisten und Moralisten vorbehalten -, sondern entdecken in ihr die "jetzt bestehende Voraussetzung" des Kommunismus. Der hängt wie bei Marx nur insoweit an der entfesselten Produktivkraftentwicklung, als deren subjektivierende beziehungsweise de-subjektivierende Effekte zum Ausgangspunkt revolutionärer Praxis werden können. Die zerstörerische Gewalt der kapitalistischen Verwertung des Sozialen belegt, dass Negri und Badiou damit eine lebensgefährliche Wette eingehen. Doch folgen sie gerade darin der zentralen Einsicht Marx´, nach der ProletarierInnen nur in "wirklicher Bewegung" eine Welt zu gewinnen haben.
Thomas Seibert ist Philosoph, Redakteur des Halbjahresmagazins Fantômas und Mitarbeiter von medico international. Im April erscheint von ihm ein längerer Beitrag zur Philosophie Toni Negris in Immaterielle Arbeit und imperiale Souveränität (hg. von Th. Atzert, J. Müller, Verlag Westfälisches Dampfboot).
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