150 Jahre Tristan und Isolde

Richard Wagner Vor 150 Jahren wurde Wagners "Tristan und Isolde" uraufgeführt. Anmerkungen zu Werk, Wirkung, Interpreten und die Bayreuther Neuinszenierung

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Tristan und Isolde schlug wie ein Meteorit in die abendländische Kultur ein. Es war ein Ereignis wie es in jedem Kulturzyklus nur wenige Male vorkommt. Etwas, was man in archaischen Kulturen als schicksalhafte Sternenkonstellation symbolisiert hätte. Eine glückliche Koinzidenz der spezifischen Persönlichkeit und Begabung Wagners mit gewissen kulturellen, geistesgeschichtlichen, musikalischen und technischen Entwicklungen und konkreten Umständen.

Dass Tristan und Isolde als Nebenwerk, als Pause vom Hauptwerk des Ring und mit pragmatisch kommerziellen Gedanken in Angriff genommen wurde, ist durchaus nicht nur kuriose Fußnote sondern in einem höheren Sinn charakteristisch. Werke wie Tristan und Isolde werden nicht geplant sondern passieren.

Dieses passieren kann man durchaus an der Komposition nachvollziehen. Man merkt wie der Stoff allmählich von Wagner Besitz ergriff, wie es allmählich zu jener mysteriösen völligen Identifikation kommt, das Stück beginnt sich gewissermaßen selber zu schreiben.

Vergleichsweise ist der erste Akt musikalisch noch schlicht gehalten, krankt auch hier und da noch ein wenig an jener etwas gewaltsamen Formelhaftigkeit, die bis dahin immer die Schlagseite von Wagners Leitmotivtechnik gewesen ist. Im zweiten Akt jedoch gewinnt er allmählich jene magische Kontrolle über seine Mittel, wird aus zähem Fleiß zauberische Überlegenheit. Man spürt wie Wagner Luft unter den Flügeln fühlt und alles möglich scheint.

Die exzessive Überlänge, die zweiter und dritter Akt in Proportion zur Handlung haben, entspringt auch jenem Rausch am freien Flug, von dem Wagner nicht mehr lassen will. Im Grunde ist alles an dieser Oper ein Zuviel, Exzess, Überforderung. Doch verleiht das Thema des Liebeswahns Wagner die totale Lizenz. Ja mehr noch, Wagner wird gerade im Exzessiven der psychologischen Morphologie dieses Ausnahmezustands überhaupt erst gerecht.

*****

Vergleicht man Tristan und Isolde mit seinem mythischen Schwesterwerk Romeo und Julia so erscheinen gewisse Parallelen zunächst naheliegend: Auch Tristan und Isolde gehören verfeindeten Clans an und die Beziehung steht überkreuz mit den gesellschaftlichen und politischen Konstellationen. Doch betrachtet man Tristan und Isolde vom Ende her, werden einem die Hamletschen Komponenten immer deutlicher. Der narzisstische Drang Hamlets alles mit sich in den Tod zu reißen, bestimmt eben auch das Ende von Tristan und Isolde. (nebenbei bemerkt: auch beim Selbstmord des German Wings Piloten muss man wohl in dieser Richtung nach Motiven suchen).

Die deutsche Romantik war nicht umsonst in die Hamlet Figur verliebt, identifizierte sich mit der Gestalt auf fast mythische Weise. Die Figur wurde zum Symbol jener schwarzen Todessehnsucht der Romantik, die in Tristan und Isolde ihren ultimativen Ausdruck gefunden hat. Überspitzt formuliert wird in Romeo und Julia die Liebe durch den Tod illuminiert während in Tristan und Isolde der Tod durch die Liebe illuminieret wird. Die Substitution des Todestranks durch den Liebestrank exemplifiziert das auf augenfällige Weise.

Schon wenn die Oper beginnt liegt jener morbide nachtschwarze Ton in der Luft. Breits die Vorgeschichte ist von Tod und Verwundung geprägt. Zu Beginn der Oper ist Isolde wild entschlossen sich selbst, und wenn möglich Tristan gleich mit, zu töten. Wagner hat es selbst gesagt: Isolde sei ein Kind, "das nicht leben will, weil es seinen Willen nicht hat". Wie Hamlet hat sie etwas von der Destruktivität eines verwöhnten und gekränkten Kindes.

Als biographischer Hintergrund des Tristan wird meist auf Wagners Affäre mit Mathilde Wesendock verwiesen, doch war die Gallerie von Wagners Frauengeschichten bereits lang und in die Isolde Figur scheinen verschiedene Physiognomien eingegangen zu. Während die Isolde des zweiten Aktes sicher an die schwärmerisch anschmiegsame Mathilde angelehnt ist, erinnert das wilde und ungestüme der Isolde des ersten Aktes eigentlich vielmehr an die Jessie Laussot, die mit Wagner fast durchgebrannt wäre, wenn nicht ihre Mutter es im letzten Augenblick verhindert hätte. Insbesondere das biographische Detail, dass Jessie von ihrer Mutter mit deren ehemaligen Liebhaber, einem Weinhändler aus Bordeaux, zwangsverheiratet wurde, ist in diesem Zusammenhang mit Blick auf die narzisstische Kränkung und deren destruktive Potentiale bezeichnend.

*****

Wagner hat den Schauplatz des ersten Aktes mit Bedacht gewählt. Auf einem Schiff in hoher See, außer von Brangäne nur von Männern umgeben, liegt von vorneherein ein Hauch von Übergriffigkeit in der Luft, die Isolde auch noch provoziert, indem sie Tristan scheinheilig fragt, warum er sich von ihr fernhalte. Und als dieser auf die "Sitte" verweist, reagiert sie spöttisch herausfordernd.

Die Beziehung zwischen Tristan und Isolde ist von Beginn an hochambivalent und von komplexen Motiven durchsetzt. Anders als bei Romeo und Julia ist es eben nicht ein coup de foudre. Als Isolde den todkranken Tristan pflegt und er ihr in die Augen blickt, ist sie nicht sofort verliebt, sondern verspürt vor allem Mitleid. Es ist wohl eher Tristan, der wie der junge Hemingway von der bestrickenden Mischung aus Fürsorge und Attraktivität seiner Krankenschwester affiziert wurde.

Es ist viel mehr eine Identifikation über Leid und Mitleid, die die beiden zunächst aneinander anzieht. Man mag an jenes Todesbündnis von Heinrich von Kleist und Henriette Vogel denken, das nichts mit Liebe zu tun hatte und doch gleichwohl in der gemeinsamen Todessehnsucht und dem Sturz in den ultimativen Kontrollverlust eine erotische Komponente hatte.

Die andere Komponente ist der Hass. Denn Tristan betrügt nicht nur Marke sondern hat auch Isolde betrogen. Dafür, dass sie ihn heilt, schwor er "tausend Eide", ohne dann auch nur das geringste Entgegenkommen zu zeigen. Isolde ist zu Beginn der Oper denn auch aggressiv aufgewühlt und in ihrem Narzissmus schwer gekränkt über den Zwang, den Tristan ihr antut. Dieser Aspekt des femininen Narzissmus, dass der Hass zum Einfallstor des Begehrens wird, spielt übrigens schon in der Barockoper eine zentrale Rolle. Die Weise des jungen Seemanns, die die Oper eröffnet (und die immer so klingt als stände dort ein Kammersänger in Frack auf den Planken), ist möglicherweise gar nicht an sie gerichtet, doch fasst sie jeden Hauch als Provokation auf.

Der entscheidende Zug an Tristan, und natürlich seines Schöpfers, ist jene egomanische Sucht nach Leben und Erleben, die sozial, ideell und moralisch farbenblind ist. Triumph und Katastrophe ist jenem Erleben im Grunde gleich wert. So freit Tristan Isolde für Marke nicht nur weil es machtpolitisch angezeigt wäre - tatsächlich spielt dieser Aspekt, der in der feudalen Kultur von höchster Brisanz ist, in der bürgerlichen Welt Wagners nur noch eine Nebenrolle - sondern weil die Konstellation in jedem Falle Spektakuläres und Explosives verspricht. Und weil er darin indirekt sein Begehren gegenüber Isolde in Form von Unterwerfung ausagieren kann.

Die Explosivität der Konstellation wittert auch Isolde. Und die symbolisierte Vertauschung des Todes- in den Liebestrank ist eben auch so etwas wie eine vom Geiste der Destruktivität eingegebene Erleuchtung. Nämlich, dass sie durch eine verbotene Liebesverbindung mit Tristan eine noch ungleich größere Verheerung anrichten kann als mit der unmittelbaren Tötung.

Die Rollen, die Brangäne und Kurwenal dabei spielen, sind die von Stellvertretern und Induktoren. Kurwenal agiert mit seinem schmetternden Lied vom Helden Tristan das heldisch maskuline aus während Brangäne in ihrer quasi-Arie, die mit ihren lasziven Vorhalten schon etwas skrjabineskes hat, die Insignien weiblicher Verführung ausstellt. Beides steht von da an wie pheromonische Duftmarken im Raum.

Der zweite Teil des ersten Aktes ist stark von Meyerbeer beeinflusst, der ein Meister jener Handlungschoreographien war, in denen sich verschiene Handlungs- und Kommunikationsebenen überlagern. Wagner wusste diese Effekte genial zu nutzen. Mit dem Ho! He! der Matrosen, die sich zur Landung bereit machen, das in immer kürzeren Abständen wiederkehrt, wird nicht nur die nahende Ankunft indirekt kommuniziert sondern auch das Räderwerk des Schicksals in Bewegung gesetzt.

Isolde wird bei "Herrn Tristan", wenn sie Tristan herbeibefiehlt, mit den unerbittlich klopfenden Triolen der Streicher in dieses Räderwerk hineingezogen. Wie erschrocken von der eigenen Courage bricht sie darauf in panische Konvulsionen aus ("Leb wohl, Brangäne!"), die dann durch den Auftritt Tristans abgewürgt werden. An dieser Stelle bricht das Jugendlich von Isolde am deutlichsten durch, die erschrockene Erkenntnis, dass es keinen familiären Halt mehr gibt und man ganz auf sich gestellt ist.

Wenn Tristan und Isolde nun aufeinander treffen ist die Luft buchstäblich in mehrfacher Beziehung mit höchster Explosionsgefahr aufgeladen. Diese Szene ist von punktierten Rhythmen geprägt, ein Echo von offizieller Formalität, das noch von der Overture des Barock herüberklingt, und das wie ein Versuch ist, die Spannung, die sich aufgebaut hat, noch unter Kontrolle zu halten. Es ist am Ende der schiere Zeitdruck durch die nahende Ankunft, der das Fass zum überlaufen bringt und beide in die Katastrophe stürzen lässt.

Wenn sie den Trank dann getrunken haben, fallen sie gewissermaßen aus Raum und Zeit. Die Geschäftigkeit der Matrosen erscheint plötzlich meilenweit entfernt. Langsam und pianissimo durchbrechen sie jene, in ihrem Fall gewaltige Barriere aus Moral, Hass, sozialer und intimer Distanz. Es ist im Grunde vollkommen klar, dass es in einem solchen Fall, wenn man einmal solche Wälle durchbrochen hat, kein zurück mehr geben kann.

Wagner lässt die doppelte Handlungschoreographie bis zum Schluss weiterlaufen. In einem fast cinematographischen Effekt zoomed er mehrfach hin und her zwischen der intimen traumverlorenen Zweisamkeit von Tristan und Isolde (piano und dolce), und der fanfarenbegleiteten, festiv behaglichen Ankunft an Land. Leider kenne ich keine Aufnahme, in der das musikalisch je gelungen wäre. Der Schluss kommt praktisch immer zu schnell, zu gehetzt, mit letzten Kräften gestammelt.

*****

Der zweite Akt dreht den Effekt des Matrosenchores mit durchaus dramaturgischer Konsequenz um, wenn er nun mit den sich allmählich distanzierenden Jagdhörnern indirekt eine Atmosphäre der Intimität schafft.

Der erste Teil des zweiten Aktes ist für viele Musikliebhaber eine Durststrecke, die man durchzustehen hat, bis man mit "Sink hernieder" wieder solideren Boden unter den Füßen hat. Wenn man sich lange mit Wagner beschäftigt hat, werden gerade jene Teile immer interessanter. Und es wird einem bewusst, dass diese Teile eben kein dramaturgischer Schwachpunkt, sondern vitaler Teil von Wagners Gesamtkonzeption ist.

Die Worte, die zwischen Tristan und Isolde in diesem zweiten Aktes gewechselt werden, sind blumig und intuitiv und der konkrete Sinn gesungen eigentlich fast unmöglich zu verstehen. Die Beurteilungen schwanken heftig, manche erblicken darin den Geist von Novalis Dichtung, andere grauenvoll schwülstig wabernde Pseudodichtung. Eigentlich kann man den Text in diesem Fall gar nicht unabhängig betrachten. An vielen Stellen ist er durchaus genial sinnig, doch letztendlich ist er eher der Musik unterlegt als umgekehrt.

Der große Übergang, der sich im Zentrum von Tristan und Isolde vollzieht, ist jener von Tag zu Nacht, von Leben zu Tod, von Macht zu Ohnmacht. Musikalisch wird das durchaus simpel sinnfällig gemacht durch den Übergang vom 4/4 Takt, der den ersten Teil bestimmt und dem 3/4 Takt, der bei "Sink hernieder" einsetzt.

Wie jedoch Wagner diesen Übergang inszeniert und zelebriert, das zielt tief ins Herz der spätbürgerlichen Kultur. Der Zerfall, das Mürbe- und Müdewerden, das Erschlaffen der moralischen idealistischen Überanstrengung, eben das, was auch Nietzsche und Thomas Mann so heftig an Wagner anzog, all das wird von Wagner mit einem teuflischen Raffinement musikalisch ins Szene gesetzt.

Dass jene Teile im 4/4 Takt heute nicht mehr so zünden, mag damit zu tun haben, dass der Marsch, der im 19. Jahrhundert Macht und Männlichkeit exemplarisch verkörperte, kulturell verblasst ist und nicht mehr ihre ursprüngliche emotionale Durchschlagskraft hat. Die populären Schlager zu Wagners Zeit, die in keinem Kurkapellenkonzert fehlten, waren ja nicht Liebestod oder Walkürenritt sondern die Märsche aus Rienzi, Tannhäuser und Lohengrin, die damals in etwa die Wirkung hatten, die heute Queens "We are the champions" hat.

Die Schizophrenie des Vorgangs ist, dass Macht und Glanz zwar als lügnerisch, falsch und eitel gebranntmarkt, doch noch in ihrer Demontage genüsslich vorgeführt werden. Gerade in der Destruktion des Glanz- und Prachtvollen liegt ein hedonistisch morbider Reiz. Dadurch, dass Tristan und Isolde sich gegenseitig vorrechnen, was sie durchgemacht haben und was sie im Begriff sind aufzugeben, laden sie ihren gemeinsamen Untergang erst mit welterschütternder Bedeutung auf. Wie gesagt, egal ob Triumph oder Katastrophe, vor allem spektakulär muss es sein. Was Wagner hier aus seiner Zauberkiste auspackt an raffinierten Übergängen, an Aufbranden, Rauschen, Irisieren und Verschatten ist ungeheuerlich.

Was am großen Liebesduett, das mit "Sink hernieder" beginnt, musikalisch so bemerkenswert ist, ist, dass er die Periodik nicht auflöst sondern so verkettet, dass das, was man zunächst für das Ende einer Periode hält schon der Anfang der nächsten ist. Mit diesem Mittel erzielt er auf mirakulöse Weise jenen psychologischen Effekt eines Klangstroms, der in permanenter Elevation gehalten wird und eine Ahnung von jener Unersättlichkeit des Liebesrausches vermittelt.

*****

Dass hier nichts geringeres als der Ehebruch zelebriert wird, gehört dabei zur Sache dazu, ist dieser doch der wunde Punkt, das emotionale Trauma der bürgerlichen Moral. Dass ein Leben in der bürgerlichen Solidität der Ehe mitunter mit der Preis eines emotional und sinnlich unerfüllten Lebens bezahlt werden muss. Man braucht nur zu "Anna Karenina", "Effi Briest" und "Madame Bovary" zu blicken, um zu realisieren wie obsessiv sich die spätbürgerliche Gesellschaft daran abarbeitete.

Damit hängt auch die andere Geduldsprobe des zweiten Aktes zusammen, nämlich Markes nicht enden wollende Klage über Tristans Verrat. Mancher mag sich fragen, warum Wagner dem Spielverderber Marke so viel Raum gibt. Doch identifizierte sich Wagner eben mit der bürgerlichen Kultur viel weiter und tiefer, als es den Anschein hat, wenn man nur auf Tristan und Isolde blickt.

Wagner wollte die Quadratur des Kreises. Er wollte die bürgerliche Ordnung und gleichzeitig persönlich als Genie die totale Lizenz zum Ausleben aller seiner Instinkte. Tristan und Marke repräsentieren die Pole von Wagners Selbstverständnis wie es Stolzing und Sachs in den Meistersingern tun, wie man überhaupt die Meistersinger als Komplementär- und Kompensations-Stück zum Tristan verstehen muss.

Das schier Unbegreifliche an der Tristan Partitur ist ja, dass Wagner hier ja tatsächlich etwas wie die Quadratur des Kreises gelingt. Es ist einerseits ein ästhetisches Manifest der Auflösung, Enthemmung und Zerstörung und gleichzeitig ein handwerkliches Wunderwerk von penibelster Kalkulation und Ordnung.

Entsprechend spektakulär ist auch Tristans Leiden im dritten Akt, in dem Wagner die Leiden der bürgerlichen unerfüllten Sehnsucht auf sich nimmt. Und es bleibt in der Tat offen, ob Wagner die nachttrunkene Sinnlichkeit des zweiten Aktes oder das Schmerzensdelirium des dritten Aktes großartiger und unübertrefflicher gelungen ist.

Zum Ende kommt es wie in allen Wagner Opern zur ultimativen Selbstglorifizierung. Tristan/Wagner, der alle Lust und alles Leid der Welt gekostet hat, um der Welt davon Kunde zu tun, hat sich in seinem Werk aufgeopfert für die Menschheit. Die bedingungslos liebende Gefährtin sinkt über seinem Leichnam leblos hin und die Welt/Marke, die alles verziehen hat, segnet das Paar (so steht es in der Bühnenanweisung).

Doch blieb das idealisierter Wunschtraum. Als Wagner Mathilde Wesendock aufforderte mit ihm durchzubrennen, schwieg sie betreten. Den großbürgerlichen Wohlstand, den ihr Gatte bot, wollte sie dann doch nicht aufgeben. Und Hans von Bülow war nicht so langmütig wie Marke und hat Wagner nie verziehen, dass er ihm seine Frau Cosima entwendet hatte.

*****

Die Entwicklung der Liebes- und Leidensharmonik des Tristan ist gewiss eine von Wagners größten Errungenschaften. Dass man sich in Bezug auf den Tristan immer auf den sogenannten Tristan-Akkord kapriziert, ist nicht völlig verkehrt, spielt er doch eine zentrale Rolle (wie überhaupt in Wagners Spätwerk). Es ist auch verständlich als ein laienhaftes Bedürfnis seine Bewunderung an ein reliquienhaftes pars pro toto adressieren zu können. Doch ist es aus einer etwas professionelleren Sicht natürlich albern, einen Akkord, der schon ein halbes Jahrtausend in Gebrauch ist und dessen sich im Grunde jeder Stümper bedienen kann, als große Kunstleistung zu feiern.

In Wahrheit ist die Sachelage deutlich komplexer und überhaupt die Fülle der musikalischen Einfälle und Aspekte in Tristan und Isolde immens. Die Verschleifung von Septakkorden, und zwar nicht nur des Tristan Akkordes sondern aller möglichen Schichtungen von drei Terzen, die die harmonische Grundlage jener Lust- und Schmerzensmusik bildet, ist nur einer von vielen und war als Phänomen nicht neu sondern schon immer ein Prinzip chromatischer Schreibweise von Gesualdo, Purcell bis Chopin.

Bemerkenswert daran, wie Wagner damit umgeht, ist nicht nur das Raffinement sondern vor allem die exploitative Schamlosigkeit und Direktheit, mit der er sich dieser Mittel bedient. Der Nimbus, den Tristan und Isolde in der Musikgeschichte hat, als Gründungsmanifest der musikalischen Moderne, hat vor allem mit diesem Aspekt zu tun.

Doch sind die Zusammenhänge anders als sie in der populärwissenschaftlichen Folklore gerne darstellt werden. Was man oft liest, Tristan und Isolde bewege sich am Rande der Tonalität, ist grotesk und etwa wie die Behauptung Astronomie und Astrologie seien fast dasselbe. Tristan und Isolde enthält nicht den Hauch von Atonalität, ganz im Gegenteil ist die Tonalität der Goldschatz, auf dem Wagners Werk thront.

Was Wagner vielmehr tat, ist, den Goldschatz aufzuzehren. Während sich Komponisten vor ihm so viel an künstlerischer Avanciertheit borgten, wie die Gesellschaft absorbieren konnte, und zukünftigen Künstler Generationen noch Spielräume ließ, überreizte Wagner sein Limit völlig hemmungslos (wie er es auch mit realen Geldwerten hielt). Das Bedenkliche an Wagners aggressiver Exploitationspolitik, die eben symptompatisch ist für den Aufstieg des Kapitalismus in der Gründerzeit des späteren 19. Jahrhunderts, war, dass es die konsumptive Gier anstachelte, die zu einem Überbietungswettbewerb führte, der nur im Kollaps enden konnte.

Schönbergs Schritt in die Atonalität war durchaus konsequent. Mit seinen eignen Werken, namentlich Pelleas und Melisande und den Gurre Liedern, die beide ein Versuch sind, den Tristan in Bezug auf harmonische Komplexität und orchestralem Aufwand noch zu übertreffen, stieß er selbst an die Grenzen der Ressourcen. Er musste sich zwangläufig neue Territorien erobern, um zu neuen Mitteln zu gelangen.

Schönbergs Schritt in die Atonalität war ein gigantisches Spekulationsprojekt. Mit der Suggestion, dass die Avanciertheiten von heute immer die Erfolge von morgen sind, wofür die Wagner die beste Werbefigur abgab, vermochte er einer nicht unbeträchtlichen Anzahl von Risikobereiten zur Investition zu verführen.

Doch anders als Wagners Ressourcen, einer über Jahrhunderte organisch gewachsenen Musikkultur, erwies sich Schönbergs spekulatives Reich der Zukunftsmusik als äußerst riskantes Unterfangen, in dem viele Künstler vor allem deswegen noch Aktien halten, weil sie schon zu viel darin investiert haben, um noch aussteigen zu können.

*****

Der Meteor Tristan und Isolde schlug ins Leben Friedrich Nietzsches mit gewaltiger Wucht ein. Schon einige Jahre vor der Uraufführung 1865 hatte er als knapp 20jähriger den Klavierauszug in die Hände bekommen und war daraufhin für immer dem gefährlichen Zauber verfallen.

Dabei war es nicht nur das ästhetische Erlebnis, das seine unauslöschbaren Spuren hinterließ, es war auch das Ungeheure, morbid destruktive und Grenzen überschreitende dieses Werkes, das den jungen Nietzsche, der zu dieser Zeit noch ernsthafte kompositorische Ambitionen hatte, niederschmetterte und sich wie eine Wunde in sein noch jugendlich formbares Bewusstsein bohrte.

In Nietzsche hat sich dieses Werk inkubiert. jene Tristaneske Mixtur aus orgasmischer Ekstase und postkoitaler Depression, aus Lebensgier und Todessehnsucht, aus totalitärem Rausch und fahlem Nihilismus hat als Grundstimmung nicht nur Nietzsches Leben und Wirken bestimmt sondern auch die Apokalypsen des frühen 20. Jahrhunderts.

Wenn Thomas Mann, in jungen Jahren selbst ein Tristan Jünger, nach dem 2. Weltkrieg im Tagebuch feststellt, als ganzes könne er den Tristan nicht mehr ertragen, dann schwingt darin auch ein Unbehagen mit über jene totalitäre Schicksalstrunkenheit, die Deutschland im 20. Jahrhundert zweimal aller Sinne beraubt hatte.

*****

Dass Tristan und Isolde von Beginn an als unspielbar galt, ist, nüchtern betrachtet, die reine Wahrheit. Jede Aufführung und jede Aufnahme macht deutlich, dass die Anforderungen, sowohl vokalen als auch darstellerische gleichermaßen immens sind.

Vor allem die Rolle der Isolde bleibt ein Ding der Unmöglichkeit. Wagner schrieb über die Rolle: “Trotz ihres Gebarens im ersten Akt, will ich in ihr durchaus keine Heroine. Ich brauche Jugendlichkeit in dieser Rolle: der ganze Zauber der ersten ungeheuren Liebe des Mädchens muss das ganze durchwehen.”

Entgegen Wagners Wunsch wurde die Rolle der Isolde die klassische Heroinenrolle für Frauen fortgeschrittenen Alters. Das mag in der Natur der Sache liegen, da die extremen Anforderungen von einer jungen Stimme kaum zu bewältigen sind. Doch blieb die Aufführungsgeschichte der Oper dadurch ein unerfülltes Versprechen. Denn natürlich hat Wagner Recht, wenn Isolde nicht etwas von der jugendlichen Unbedingtheit und Absolutheit eines ersten großen Erlebnisses vermittelt, fehlt ihr etwas essentielles.

Immerhin gab es im Heroinen Kompromiss durchaus bedeutende Sängerinnen. Vokal wohl immer noch am beeindruckendsten Kirstin Flagstad und danach Birgit Nilsson, am schönsten singend Margaret Price, im Leidenspathos beeindruckend Hildegard Behrens, darstellerisch am differenziertesten wohl Waltraut Meier.

Unter den Männern gab es neben dem Stimmphänomen Lauritz Melchior, Partner der Flagstad in vielen Aufnahmen und ähnlich wie diese darstellerisch bei weitem nicht so überzeugend wie als Sänger, eine lange Reihe von vorzüglichen sängerischen Leistungen, meist allerdings mit darstellerischer Pauschalität verbunden.

Der bedeutendste Tristan Darsteller der dokumentierten Aufführungsgeschichte ist jedoch zweifellos der erst kürzlich verstorbene Jon Vickers. Obwohl als Sänger vielleicht nicht über jeden Zweifel erhaben, war er allein kraft seiner, übrigens durchaus problematischen und konfliktbeladenen, Persönlichkeit einer der ganz wenigen wirklich bedeutenden Schauspieler der Operngeschichte.

Für Dirigenten ist Tristan und Isolde ein Sonderfall. Erstaunlich viele bedeutende Dirigenten, wie etwa Herbert von Karajan (obwohl in der EMI Einspielung mit Jon Vickers) oder Leonard Bernstein sind an der Oper auf höchstem Niveau gescheitert. Das Stück entzieht sich auf mysteriöse Weise jedem zu direkten Zugriff, jeder allzu bewussten Gestaltung. Am Ende sind es der intuitive Wilhelm Furtwängler und der nervöse Ekstatiker Carlos Kleiber, die seinem Geheimnis am ehesten auf die Spur kommen.

*****

Auch wenn Christian Thielemann in der neuen Bayreuther Inszenierung der Oper, multimedial präsent in Kino, TV und Internet wie selten, sicher den bedeutendsten Beitrag leistet und gewiss ein Wagner Dirigent von hohem Rang ist, auch seiner gestalterischen Zudringlichkeit, mit zuviel Tüftelei, zuviel bewusster Zelebrierung und einer Neigung zum Forcieren, entzieht sich die Oper.

Doch weit mehr beklagenswert ist der Gesang der beiden Hauptdarsteller, der einen zur Feststellung verleitet, dass inzwischen jeder Melos aus dem Wagnergesang entschwunden ist. Die flackernde Schärfe von Evilyn Herlizius Isolde und der im Grunde nicht unangenehme doch steif unflexible Ton von Stephen Goulds Tristan lassen soetwas wie eine genuin vokale Gestaltung der Rolle überhaupt nicht mehr zu. Selbst das großartigste Dirigat und eine umwerfende Inszenierung könnten die Oper als Oper unter diesen Voraussetzungen nicht mehr retten.

Wie heute üblich, bekommt der gelangweilte Hörer dafür ein pantomimisches Kontrastprogramm geboten. Das wurde von Katharina Wagner und ihren Mitstreitern nach der aktuellen Mode angerichtet. Mit spektakulären Bühnenbildern, Videoprojektionen und einem Regiekonzept.

Es wäre einige eigene Überlegung wert, weshalb das moderne, mit üppigen Subventionen und einer ultraliberalen Narrenfreiheit ausgestatte Regietheater bevorzugt in Szenarien von Unterdrückung und Verwahrlosung schwelgt. Kein Zweifel, dass das dem Zeitgeist entspricht, beobachtet man solche Szenarien doch auch vermehrt in der Populärkultur. So wurde bereits die Anmerkung gemacht, dass das Regiekonzept von Katharina Wagner, die Tristan und Isolde zum Opfer der Unterdrücker Marke und Melot macht, ein wenig an die "Hunger Games" Filme erinnert.

Doch widerspricht dieses gegen den Strich gebürstete Regiekonzept nicht nur Wagners Text und Musik sondern auch Wagners bürgerlicher Vorstellung von gemeinsamer Verantwortung, Wie vielleicht überhaupt jener bürgerlich idealistische Wille, Gegensätze zu versöhnen und auszuhalten, das tiefere Geheimnis für die künstlerische Fruchtbarkeit der bürgerlichen Kultur ist.

Die moderne hedonistische Selbstbezogenheit, deren Lieblingsrolle die Opferrolle ist und die dazu neigt Schuld und Verantwortung zu delegieren, scheint eben auch keine Kraft mehr zur ästhetischen Formung und Integration zu haben. So wirken auch die Bilder in dieser Inszenierung, die labyrinthische Treppenkonstruktion im ersten Akt, die Videoprojektion im zweiten, auf den ersten Blick flashy, auf den zweiten Blick jedoch unpräzise, beliebig und unintegriert. Noch schlimmer wirkt jedoch die schwarz weiß Zeichnung von Unterdrückern und Opfern, die in ihrer Schlichtheit selbst die ihrerseits durchaus schlichten "Hunger Games" noch unterbietet.

Was bleibt ist eine Oper, die als dramatisches und ästhetisches Ereignis nicht stattgefunden hat und ein läppisches Rahmenprogramm, das ästhetisch hilflos aktuelle Befindlichkeiten bedient.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

Avatar

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden