Anmerkungen zu "Doktor Faustus"

Thomas Mann Was hat uns der Roman 70 Jahre nach dem 2. Weltkrieg noch zu sagen. Einige Gedanken nach einer erneuten Lektüre.

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Thomas Mann bedient sich des Faust-Mythos und schafft eine einen "Schlüsselroman zur Krise der bürgerlichen Musikkultur"
Thomas Mann bedient sich des Faust-Mythos und schafft eine einen "Schlüsselroman zur Krise der bürgerlichen Musikkultur"

Foto: Central Press/Getty Images

Kein Buch habe ich öfter gelesen als Thomas Manns Doktor Faustus. So oft, dass ich mir selber nicht mehr sicher bin, wie oft. Und das nicht eigentlich, weil der Roman mir so großes Vergnügen bereiten würde. Ich würde sofort zugestehen, was nahezu einhellige Ansicht ist, nämlich dass Buddenbrooks, Zauberberg und selbst die Joseph Romane attraktiver sind, über mehr erzählerischen Eros und atmosphärische Dichte verfügen.

Was mich immer wieder zu "Doktor Faustus" treibt, ist ein Bedürfnis nach Überprüfung und Vergewisserung. Denn "Doktor Faustus" ist nicht nur ein Zeitpanorama der Jahre zwischen den beiden Weltkriegen, und nicht nur ein autobiographisches Bekenntniswerk seines Autors, es ist auch der Schlüsselroman zur Krise der bürgerlichen Musikkultur, einer Krise, von der man auch noch heute, siebzig Jahre später, nicht so recht weiß, ob sie final war oder nicht.

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"Doktor Faustus" ist die Apotheose bürgerlicher Kultur. Der Schlussstein- und Rundungscharakter, den der Roman in mehrfacher Hinsicht trägt, ist auf einer Metaebene selbst Symbol für die zentrale Idee bürgerlicher Kultur, nämlich der von Ordnung und Stimmigkeit.

Nicht nur führt Thomas Mann im "Doktor Faustus" Familien- und Zeitgeschichte zu Ende. Erzählten die Buddenbrooks die Geschichte bis zum Tod seines Vaters, wird in "Doktor Faustus" die Geschichte danach weitererzählt. War der Zauberberg eine Zeitdiagnose der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, so ist der "Doktor Faustus" eine solche der Zeit vor dem zweiten.

Hinzu kommen werkmythologische Aspekte, die mit den beiden Zentralgestirnen von Thomas Manns ästhetischer Weltanschauung zusammenhängen, nämlich Goethe und Wagner. Thomas Mann hatte sich spätestens seit der Josephs-Tetralogie und Lotte in Weimar, die er dem Ring und den Meistersingern nachgebildet wissen wollte, an Wagners Werkgestirn ausgerichtet und sah konsequenter Weise in "Doktor Faustus" seinen Parsifal, als Werk "letzter Konsequenz". Ebenso kann man in Lotte in Weimar und "Doktor Faustus" die Ableistung einer kunst-astrologische Huldigung an die beiden zentralen Goethe Werke Werther und Faust sehen.

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Über die selbstmythologisierende Aspekte hinaus gibt es jedoch auch konkrete Anknüpfungspunkte zu Goethes Faust, die nachzuvollziehen durchaus von Bedeutung ist. Der wichtigste hat mit der Figur des Serenus Zeitblom zu tun. Dieser hatte von Beginn an viel Kritik einzustecken, ging manchen mit seiner professoralen Umständlichkeit auf die Nerven oder wurde für die dramaturgische Schwerfälligkeit des Romans verantwortlich gemacht.

An der Kritik ist etwas dran, doch wird sie eigentlich hinfällig, sobald man sich klar macht, dass die Figur des Zeitblom in Wahrheit mehr als bloße Hilfskonstruktion ist, die Thomas Mann, wie er selbst es mitteilte, vor allem aus Selbstschutz vor den erregenden Thematik eingeführt hat. Denn er adaptiert damit ein zentrales Konstruktionsprinzip von Goethes Vorbild, der in Faust und Mephistopheles den zentralen Antagonismus der eigenen Persönlichkeit in zwei Figuren externalisiert.

Das tut nun auch Thomas Mann, indem er den schon in Tonio Kröger und Gustav Aschenbach thematisierten zentralen autobiographischen Antagonismus von Künstler und Bürger nun in den Figuren Leverkühn und Zeitblom exemplarisch ausdifferenziert. Was Thomas Mann zudem von Goethe übernimmt, sind die Mittel der Allegorie. Zwar geht er in seiner bürgerlichen Mäßigung darin nicht so weit wie Goethe, der sich vor allem im Zweiten Teil des Faust einer fast absolutistisch radikalen Idiosynkrasie überlässt, doch immerhin weiter als je zuvor in seinem Werk.

Das bringt einige Herausforderungen an den Leser mit sich. Denn dieser muss lernen zwischen verschiedenen erzählerischen Schichten zu abstrahieren, muss Orientierung gewinnen im Spiegelkabinett der Allegorien. Das betrifft zuerst und vor allem die Hauptfigur Adrian Leverkühn, die eine Montage ist, die autobiographisch psychologische, biographisch allegorische, und historisch symbolische Elemente komplex ineinander verschachtelt.

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Als Charakter ist Leverkühn eine narzisstisch idealisierte Selbstprojektion seines Autors, genauso wie Goethes Faust. Wie sich Goethe als unwiderstehlicher Mann der Tat, des Allwissens, des Erlebens und Auskostens idealisiert, so imaginiert sich Thomas Mann in jenem hochmütig einsamen Künstler, nach dessen Aufmerksamkeit und Nähe so viele Bewunderer streben.

Von Leverkühns kaltem Hochmut hatte Thomas Mann einiges. Schon bei Tonio Kröger und Gustav Aschenbach wird das Motiv der objektiven Künstlerkälte, die sich nicht auf die gemütlich warme Banalität des Leben einlassen darf, thematisiert, und tatsächlich sprechen auch Menschen, die längere Zeit in seiner Nähe verbracht haben, Klaus und Golo Mann, doch auch jemand wie Hilde Kahn von jener anderen, kühl distanzierten Seite des nach außen konziliant höflich auftretenden Vaters .

Der Teufelspakt des Liebesverbots zielt ins innerste von Thomas Manns charakterlicher Physiognomie. Die Selbstmythologisierung, dass der Verzicht auf ein Ausleben des homosexuellen Begehrens in kreative Energie sublimiert wird, ist ein zentraler Gedanke seines Schaffensethos. Thomas Mann lebte ganz wie Leverkühn unter der Maxime, das Leben gänzlich dem Werk aufzuopfern.

Von hier aus beginnen auch die allegorischen Bezüge zu wuchern. Die christliche Opfermythologie von Beethovens Christus am Ölberg über Nietzsches Ecce Homo wird auf die Figur Leverkühn übertragen, der denn am Ende auch ein "Christusantlitz" trägt und von Mutter Schweigestill als Pieta gehalten wird wie Faust von der Mater Dolorosa.

In diesem Opfermythos liegt bereits eines der gedanklichen Hauptmotive des Romans, nämlich der Fluch und der Segen, der damit verknüpft ist. Das ergreifende und faszinierende an der totalen Immersion in eine Idee, die Liebe und Bewunderung für den furchtlosen Heroismus des Opfer- und Risikobereiten. Und der Fluch und das Verderben, die daraus erwachsen können, wenn aus heroischer Unbedingtheit totalitäre Verblendung wird.

Was Thomas Mann mit ernstem Blick diagnostiziert, ist, dass es von "Seid umschlugen Millionen" aus Beethovens 9. Sinfonie zu Hitlers "Wollt ihr den totalen Krieg?" nur wenige Schritte sind. Dass es diese fatale Kontinuität von Heroismus und Totalitarismus in der deutschen Kulturgeschichte von Beethoven, Hegel und Fichte über Wagner, Schopenhauer und Nietzsche bis zu Schönberg und Heidegger gibt, die mit der Hitlerkatastrophe in einem mentalitätsgeschichtlichem Zusammenhang steht.

Die Machtergreifung Hitlers mag viele komplizierte historische, politische, soziale und ökonomische Ursachen gehabt haben, doch der spezielle Charakter von Hitlers Totalitarismus, der nicht nur kriegerisch und machtpolitisch war (wie der Napoleons), sondern kulturreligiös und von einem Bedürfnis nach ästhetischer Stimmigkeit und reinlicher Ordnungsliebe gefärbt, ist eben doch spezifisch und von jenem deutschen Kulturhintergrund nicht zu trennen.

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War die Antagonie der beiden Hauptfiguren Leverkühn und Zeitblom eine an Goethes Faust orientierte künstlerische Entscheidung, war wiederum die Entscheidung Zeitblom die Kontrolle des Erzählers zu überlassen eine moralische - die letztendlich auch künstlerisch konsequent war, da sie der Lebens-Entscheidung ihres Autors entsprach.

Thomas Mann hatte sich schon seit den "Betrachtungen eines Unpolitischen", in denen er sich noch ein letztes Mal totalitären Räuschen hingegeben hatte, dazu entschlossen den Weg der bürgerlichen Verantwortung zu gehen. Serenus Zeitblom ist der ernsthafte Thomas Mann, der es als seine moralische Bürgerpflicht ansah, in Vorträgen und Ansprachen seinen Teil zur Bekämpfung des Nationalsozialismus beizutragen.

Zwar karikiert Thomas Mann in Zeitblom auch seine eigene Pedanterie und Betulichkeit - vor allem in den Tagebüchern begegnet man dieser Seite immer wieder, Thomas Manns Behagen an Ordnung, seiner Pedanterie in allen Ritualen des Alltags, seiner Freude an kleinsten Annehmlichkeiten wie einem neuen Füllfederhalter - doch sollte man sich hüten Zeitblom zu unterschätzen.

Seine Umständlichkeit und Biederkeit hat auch eine taktische Komponente. Denn auf einer intuitiven Ebene ist die Erzählstrategie Zeitbloms genau gegen das gerichtet, gegen das sich der Roman auch ideologisch stellt. Zeitbloms Durchlöcherung der Dramaturgie, seine manchmal fast schusselige Betulichkeit ist subversiv und antagonistisch gegen jenes Gefühls-Crescendo, jenes orgasmische Pathos Nietzsches und Wagners in Stellung gebracht, das sich auch in Hitlers Rhetorik manifestiert. Zeitbloms Biederkeit imprägniert das Buch dagegen, dass die Bewunderung und Ergriffenheit für den Helden Leverkühn in Richtung jener Art von Personenkult driftet, dessen gefährliche Seiten er selbst in der Auseinandersetzung um seinen Wagner Essay gekostet hatte.

Mit der moralischen Konzeption des Buches hat es auch zu tun, dass der homoerotische Aspekt nahezu gänzlich ins allegorische eingekapselt ist. Dass er sich dabei Shakespeares bediente, hat zudem einen kulturhistorische Komponente, identifizierten sich gerade jene Kreise um Stefan George und später um W.H. Auden, in denen Homosexualität bereits relativ offen ausgelebt wurde und die Thomas Mann aus der Distanz beobachtete, gerne über Shakespearesche Stoffe und Konstellationen.

Insbesondere die Sonette und frühen Komödien wie "Love's Labor's Lost" und "The two gentlemen of Verona" und namentlich das merkwürdig sado-masochistisch gefärbte Motiv der indirekten Adressierung, spielen für Thomas Mann eine zentrale Rolle. Man weiß ja aus Briefen und Tagebüchern, dass Thomas Mann in der Beziehung von Leverkühn zu Rudi Schwerdtfeger seine unglückliche Liebe zu Paul Ehrenberg verarbeitete. Für unbedarfte Leser bleibt das fast unsichtbar, nur wer die in den Shakespeare Anspielungen verborgenen psychologischen und emotionalen Konstellationen und Essenzen subsummiert und mit den auf Ines Rodde übertragenen biographischen Motiven zusammenfügt, bekommt einen Begriff davon, was da vor sich geht. Bezeichnender Weise taucht Shakespeare dann nochmal in den Ariel Liedern der Echo Episode auf.

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Dass "Doktor Faustus" ist ein Nietzsche Roman ist, ist hinlänglich bekannt. Selbst wenn Thomas Mann es nicht selbst immer wieder mitgeteilt hätte, wäre es anhand bestimmter biographische Merkmale, allem voran natürlich der syphilitische Erkrankung und progressiven Paralyse Leverkühns, ziemlich offensichtlich.

Doch wendet Thomas Mann hier jene Montagetechnik an, von der er im Zusammenhang des Romans immer wieder spricht. Denn Adrian Leverkühn ist eben kein Charakterportrait Nietzsches. Über seinen Intellektuellenhochmut hinaus hat er wenig mit Nietzsche gemein. Hat nur ein klein wenig von dessen brillant boshafter Kaustik oder von dessen gequälter Hysterie.

In der Figur Nietzsche symbolisiert sich vielmehr jene schon angedeutete deutsche Kulturentwicklung, als aus der Weltumarmung und Weltdeutung Beethovens und Hegels, der Weltauskostung und Weltverwerfung Wagners und Schopenhauers unter teuflischer Einflüsterung ein monströser Neuschöpfungsplan geboren wird. Jene "Verstiegenheit", von der Thomas Mann in seinem Nietzsche Essay spricht, jenes sich Absondern und Abwenden von Humanität, Moral und Kultur, jener Aufstieg zum Gipfel, um Zwiesprache mit der inneren Gottheit zu halten.

Im Kern ist der Teufel das Symbol des Zweifels und der Infragestellung, und die Teufelsverschreibung jene Steigerung der Infragestellung, die Siegel aufbricht, die eine Jahrhunderte lange überindividuelle Verabredung, ob durch Kultus, Religion oder rationalistischen Humanismus, verschlossen hielt. Und eben das tat Nietzsche, ob nun sehenden Auges oder durch syphilitische Enthemmung dazu inspiriert, ist am Ende einerlei.

Der Nietzsche Kult in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, der nicht nur zahlreiche Dichter und Musiker erfasste sondern zum Populärphänomen wurde zeitigte eben jene Mode der moralischen Enthemmung und Feier der reinigenden Brutalität, der den Boden schuf für Hitler und seine Anhänger.

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In jenem mythologischen Nietscheanischen Bild des Gipfelaufstiegs vermischen sich merkwürdig Naturmystik und Einsamkeitspathos der Romantik mit alten mythologischen Schichten, die von der Hybris der Gottwerdung erzählen, wie etwa dem babylonischem Turmbau.

Jene jüdische Sphäre ist auch der link zum anderen symbolischen Protagonisten, der durch die Leverkühn Figur durchschimmert: Arnold Schönberg, der als Moses den Sinai besteigt, um Gottes neues Gesetzt zu empfangen oder als Auserwählter die Jakobsleiter gen Himmel besteigt.

Adrian Leverkühn ist Schönberg auf jener ambivalent symbolischen Ebene wie er Nietzsche ist. Nicht als Person und Charakter sondern als Künstler- und Prophetentypus. Schönberg ist in gewisser Weise ein Vollender Nietzscheanischer Ideen. Hatte er mit dem Schritt zur Atonalität (Schönberg selber nannte es Nontonalität) die kulturellen Wurzeln zur Tradition gekappt, so wie es Nietzsche in seiner "Genealogie der Moral" tat, wo Moral bzw. Tonalität als manipulatives Kulturprodukt in Frage gestellt wird, hat er wie Zarathustra mit 12 Ton Methode als Prophet eine neues, gereinigtes, vergeistigtes Gesetz verkündet.

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Die ganze Auseinandersetzung, die sich zwischen Schönberg und Thomas Mann nach dem Erscheinen des Romans um die Urheberschaft der 12 Ton Methode entspann, mag auf den ersten Blick grotesk erscheinen, illustriert jedoch sehr gut die antagonistischen Kulturvorstellungen, die hier aufeinander trafen.

Viele schüttelten den Kopf über Schönbergs verzweifeltes Bemühen, seine Urheberschaft klarzustellen, die er sogar mit einer Klage durchsetzten wollte. Das schien absurd, nicht nur weil die 12 Ton Methode schon mehr als 20 Jahre alt war und bereits in zahlreichen Kompositionen nicht nur aus Schönbergs Hand angewendet worden war, es war überhaupt abwegig an der Beschreibung einer musikalischen Kompositionsmethode literarischen Anspruch zu erheben.

Doch Thomas Mann lenkte bald ein und versprach jene Nachbemerkung, die heute in allen Ausgaben steht, mit der er jedoch noch mehr Öl ins Feuer goss, wenn auch nur mit einem einzigen Wort. Denn er schrieb, die 12 Ton Methode sei das geistige Eigentum "eines" zeitgenössischen Komponisten und Theoretikers Arnold Schönberg. Schönberg erregte sich maßlos darüber, denn Thomas Mann hatte gegen das erste Gebot Moses verstoßen: Du sollst keine Götter neben mir haben.

Um die innere Dynamik in diesem Konflikt zu begreifen, muss man sich jenes Sendungsbewusstsein Schönbergs bewusst machen, der sich eben nicht nur als einen bedeutenden Komponisten betrachtete sondern tatsächlich als den Propheten eines neuen Zeitalters.

Schönberg war ein vollkommen integrer Mann und erbitterter Gegner der Nazis, doch bestehen in der Mischung von Sendungsbewusst sein und einer totalitären Ästhetik bedenkliche Parallelen zum Nationalsozialismus. Als Schönberg (noch vor Erscheinen des Doktor Faustus) Thomas Mann seine Schrift "Ein Vier-Punkte Programm für ein Judentum" schickte, merkte dieser ein wenig erschrocken an, dass manches darin doch etwas ins faschistische falle.

In der Tat reibt man sich bei so manchen Äußerungen Schönbergs die Augen. Dass er glaubte, dass die 12 Ton Technik die Vorherrschaft der deutschen Musik für die nächsten 100 Jahre sichere, mag man noch als schöpferische Euphorie durchgehen lassen. Doch wenn er vollkommen ernsthaft anmerkt, dass die Arische Rasse nicht auserwählt sein könne, weil bereits die Juden das von Gott auserwählte Volk seien, wenn er schreibt, dass nicht alle Menschen gleich wert seien sondern von einer Elite Auserwählter träumt und fordert, dass man sich zur Durchsetzung einer großen Idee zur Not auch gewaltsam Menschen entledigen müsse, zuckt man schon zusammen.

Manche Kritiker haben später angemerkt, Thomas Mann habe mit der Parallelisierung von Leverkühn und Deutschland die Nazis aufgewertet, die dadurch ein wenig "genialisch schimmern" (Herbert Marcuse) würden. Doch hat man es sich mit der "Banalität des Bösen" immer ein wenig zu einfach gemacht. Die Nazi Bewegung war keineswegs eine Veranstaltung Halb-Debiler, sondern übte gerade auch auf die geistigen Eliten Anziehungskraft aus. Die Faszination, die von Schönberg radikaler Ästhetik eines reinigenden Feuers ausgeht, hat eben doch mehr Ähnlichkeit mit der totalitären Politästhetik der Nazis, als man sich das eingestehen will. Schließlich war auch der durchaus genialische Anton von Webern ein überzeugter Nazi.

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Man kann es ein wenig dreist finden oder für eine Strategie der Abwiegelung halten, dass Thomas Mann leugnete, Leverkühn habe irgendetwas mit Schönberg zu tun, oder jener Teufel, der die Gestalt eines Musiktheoretikers und Komponisten mit Hornbrille annimmt und aus der "Philosophie der Neuen Musik" referiert, habe irgendeine Ähnlichkeit mit Adorno.

Doch gibt es eben auch künstlerische Gründe für die Leugnung, genauso wie er später auch versuchte die Gleichsetzung des Schicksals Leverkühns mit dem Deutschlands zu relativieren. Denn was Leverkühn einmal über das Komponieren sagt, sie sei die "Mehrdeutigkeit als System", gilt eben auch für das Prinzip der Allegorisierung. Sobald man Anspielungen festlegt und festzurrt, verstellt man die Möglichkeit der Rekallibrierung und der Ambivalenz.

Das muss man auch im Hinterkopf behalten, wenn man die Kompositionen Adrian Leverkühns betrachtet. Vor allem musikalisch Eingeweihte hatten damit schon immer ein Problem, weil es als Werk nicht konsistent ist, sondern Merkmale mehrerer zeitgenössischer Komponisten trägt, die eigentlich in einer Persönlichkeit nicht zu vereinigen sind.

Doch geht Thomas Mann hierbei im Grunde genauso montierend und allegorisierend vor wie bei den biographischen Montagen. Das heißt die Kompositionen haben vielerlei Zweck, sind in manchen Fällen auf die Handlung bezogene psychologische Kommentare, in anderen musikhistorische oder geistesgeschichtliche Ortsbestimmungen, oder in symbolische Konstellationen eingebunden.

Thomas Mann wusste selbst sehr gut, dass er zu wenig fachspezifische Expertise und noch weniger eingeweihte Kenntnis der neueren Musik hatte, um sich selber zu orientieren, und überließ sich ganz bewusst gänzlich den teuflischen Einflüsterungen Adornos. Es ging ihm auch gar nicht darum, das Werk eines großen Künstlers darzustellen, vielmehr genügte es ihm völlig jenseits der erzählerischen Funktionalisierung den Stand aktuellen Komponierens anzudeuten.

Und auch hier ist es wie bei den biographischen Montagen wichtig, alles in der Schwebe zu halten. Einerseits muss man die Kompositionen, Texte und Bezüge, auf die angespielt wird, erkennen, um die Kontexte zu verstehen und einzuordnen, doch gleichzeitig wäre es falsch weil irreführend, die Kompositionen mit existierenden Werken völlig zu identifizieren.

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Übrigens hat die Komponistenbiographie Leverkühns, nicht als die eines individuellen Künstlers sondern als Abbild einer historischen Entwicklung, durchaus Stimmigkeit. Ihr Urheber Adorno, der substantielleren Anteil daran hat als in der "Entstehung des Doktor Faustus" rauskommt - vor allem die eifersüchtig um das Erbe wachenden Katja und Erika sorgten dafür, dass Adorno nicht zu viel credit bekommt - wusste durchaus, was er tat.

Dass am Beginn der musikalischen Sozialisierung Adrians ausgerechnet Beethovens Spätwerk stand, war vielleicht pädagogisch ungesund jedoch gedanklich konsequent. Denn das war in der Tat der musikhistorische Moment als zum ersten Mal die Kohärenz von musikalischer Tradition durchbrochen wurde und es zum Versuch einer subjektiv neuschöpferischen Selbstsetzung kam.

Dann das romantische Lied Schubert und Schumanns (zwei Syphilitikern), dessen Gefühlsrausch und Einsamkeitspathos durch Brahms und Mahler hindurch ein zentrales Ingredienz des musikalischen deutschen Seelenhaushalts blieb.

Das Phänomen des fin de siècle, mit seiner Kultur von Raffinement, Internationalismus und Mondänität, von Brutismus und Überfeinerung, die nicht nur auf Richard Strauss ausstrahlte sondern auch auf Schönberg. "Verklärte Nacht" und "Pierrot lunaire" liegen modisch vollkommen auf dieser Jugendstil Linie.

An diesem historischen Moment, dem ersten Weltkrieg, zeichnet sich dann bereits jene Tendenz zum Radikalen ab, die vor allem in Deutschland blühte, wo die fin de siècle Avanciertheiten, die ein Flirten mit der Abgrund waren, mit deutscher Gründlichkeit ins Grundsätzliche zuspitzt werden. Wird bei Strawinsky in "Sacre du Printemps" oder bei Ravel in "La Valse" der Zusammenbruch der Kultur artifiziell antizipiert, wird bei Leverkühn in der "Apocalypsis cum figuris" der Weltuntergang selbst inszeniert.

Zwischen der Apocalypsis und Doktor Fausti Wehklag sind denn auch die Schönberg Parallelen am deutlichsten - nicht nur scheinen in diesen oratorischen Werken "Moses und Aron" und die "Jakobsleiter" durch (beide Werke Fragmente und erst nach Schönbergs Tod aufgeführt), auch die Bedeutung der Kammermusik in dieser Phase, in der Schönberg die Mittel seiner neuen Technik in überschaubarem Versuchsrahmen erproben konnte, ist ein gemeinsames Merkmal.

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Neben der Schönberg Auseinandersetzung gab nach Erscheinen des Romans noch einen anderen Vorfall, der Thomas Mann Ungemach bereitete. Zwar gab es auf beiden Seiten des Atlantiks neben positivem Echo auch eine Reihe schlechter Kritiken, doch keine hat ihn so getroffen wie die des Harvard Professors Harry Levin.

In der "Entstehung des Doktor Faustus" berichtet Thomas Mann von der Lektüre von Levins Joyce Buch, die ihn nachhaltig beschäftigte, da er durch sie einen Begriff von Joyce Werk und dessen Modernität bekommen hat. Umso betroffener war Thomas Mann, als Levin den "Doktor Faustus" als altmodisch und überholt kritisierte.

Denn Thomas Mann hat sich ohne Zweifel durch die Beschreibung des "Ullyses" inspirieren lassen. Die stark konstruierte Anlage des Romans, die Übereinanderschichtung von autobiographischen und mytischen Elementen, das Spiel mit Allegorien, Symbolen und Sprachstilen, die Sättigung mit einem gewaltigen Bildungshintergrund, darin bestehen in der Tat große Gemeinsamkeiten.

Thomas Mann war maßlos enttäuscht, dass Levin das alles nicht sah. Dabei hätte ihm klar sein müssen, wer Schuld ist: Zeitblom. Nicht nur als Romanfigur sondern als Prinzip. Der Unterschied ist, dass James Joyce seine riskanten literarischen Experimente ohne jenen parodistischen doppelten Sicherheitsboden vollführt. Von Joyce geht etwas von jenem prophetische Charisma des Risikobereiten aus wie auch von Nietzsche und Schönberg.

Tatsächlich zielt im Grunde alle Kritik an Thomas Mann auf jenes Zeitblom Prinzip, das bildungsbürgerliche, das relativierend parodistische, mäßigende, altväterliche. Auch die "Entstehung des Doktor Faustus" ist ein Zeitblom Produkt. Nicht nur in seinem bürgerlichen Gerechtigkeitsgefühl, denen, den er bei der Arbeit am Roman viel verdankte, gebührenden Dank zukommen zu lassen, Thomas konnte sich auch nicht verkneifen, in Zeitblomscher Ängstlichkeit dem Leser einige Erklärungen und Hilfestellungen zum Verständnis an die Hand zu geben.

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Es ist merkwürdig, dass ausgerechnet Joachim Kaiser jene Parallele vom Deutschen Schicksal und der Deutschen Musik im "Doktor Faustus" nicht wahr haben wollte. Denn im Band "Erlebte Literatur", in dem sein großer Essay zum "Doktor Faustus" steht, schreibt er selbst im Vorwort von seiner persönlichen Erfahrung, dass ihn die deutsche und internationale Nachkriegsliteratur enorm interessierte während er für die Musik nach 1945 nie ein gesteigertes Interesse aufbringen konnte.

Dabei scheint Thomas Mann auf hellseherische Weise Recht behalten zu haben. Die sogenannte Klassische Musik, die seit Bach, Mozart und Beethoven eine stark deutsch geprägte Kulturtradition war, und sich mit Wagner, Mahler und Schönberg zu einer Kunstreligion gesteigert hat, scheint zum Teufel gegangen zu sein. Blickt man auf die letzten 70 Jahre zurück, so wurde sehr viel komponiert, zum Teil auf verblüffendem artistischen Niveau oder mit gewaltigem Anspruch, gerade Mathematiker-Köpfe wie Boulez oder Ligeti oder prometheische Naturen wie Stockhausen oder Nono konnten nochmal ein wenig Glut unterm Kessel entfachen.

Doch mit einem historischen Blick muss man feststellen, dass es sich dabei um eine Zustand der Paralyse handelt. Es ist eben jener Zustand der Stagnation, der der Hybris der Menschheit beim Turmbau von Babel den Weg zum Himmel versperrte. Jene Sprachverwirrung ist das Phänomen der sich in tausend Subjektivismen auflösenden musikalischen Sprachen, die sich aus Hochmut nicht mehr auf etwas gemeinsames einigen können. Dabei ist Kultur in ihrem urtümlichsten Gestus nicht anderes als sich auf etwas zu verständigen.

Thomas Mann beschrieb die Arbeit an diesem seinem Schicksalsbuch als erregend und erschütternd, aber auch als unendlich traurig. Er spürte sehr wohl, dass ein bestimmter Teil der Deutschen Kultur, der in der Musik über einige Jahrhunderte spezifischen Ausdruck gefunden hatte, dem Untergang geweiht war.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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