Bachs Kreuzweg - Die Matthäus-Passion

Passionsmusik Wie so oft in seinem Leben war Johann Sebastian Bach auch mit seinen Passionen ein Nachzügler. Anmerkungen zu Musik und Mythos

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Johann Sebastian Bach
Johann Sebastian Bach

Foto: Hulton Archive/Getty Images

Hans Blumenberg stellte in seiner Studie zur Matthäuspassion vor 30 Jahren mit durchaus provozierender Radikalität die Frage, ob das Publikum einer säkularisierten Epoche Bachs Werk überhaupt noch verstehen kann. Eine Erzählung, die sowohl in ihrem ursprünglichen biblischen Kontext als auch in der sozialen Codierung der feudalen Barockkultur dem Prinzip von patriarchalem Autoritarismus verpflichtet ist. Das Narrativ eines „beleidigten Gottes“, der durch ein Opfer und eine Geste der Unterwerfung günstig gestimmt werden muss, erscheint uns, heute fast noch mehr als vor 30 Jahren, auf dem Gipfel des Liberalismus und in einer Zeit, in der selbst der Vatikan in einer autoritären Krise steckt, ferner denn je.

Blumenberg jedoch pocht auf die Gültigkeit des mythischen Urgrunds. Dabei geht es ihm weniger um die sozialhierarchische Strukturen von Herrscher und Untertan bzw. Fürsorger und Schutzbefohlenen, die durch Legitimationsrituale befestigt werden müssen, etwas, das für Johann Sebastian Bach durchaus noch eine Rolle spielte. Vielmehr richtet er seinen Blick zuallererst auf die mythisch ontologische Grundspannung, die sich in der gleichzeitigen Identität und Nichtidentität von Gottvater und Gottessohn manifestiert. Ob Gottes Schöpfung gelungen oder misslungen ist, ob die Vertreibung aus dem Garten Eden Fluch oder Segen war, ob wir in der besten oder schlechtesten aller Welten leben: in der Unentschiedenheit des Daseins liegt der Urgrund des Seins, und im Akt der Entscheidung alles, was den Menschen ausmacht.

Selbst Physik und Astronomie sind nach Jahrhunderten, in denen die verblüffende universelle mathematische Ordnung der Naturgesetze offenbart wurde, inzwischen an der Schwelle jener Erkenntnis angekommen, dass der Kosmos nicht vollkommen geordnet sein kann, da totale Ordnung und Unendlichkeit nur im Nichts ist. Dass es einen Rest an Unbestimmtheit und Irregularität geben muss, damit überhaupt etwas ist. Dass Endlichkeit und Tod nicht die Grenze sondern die Voraussetzung des Lebens sind.

Ebenso verblüffend, wie sich zeigte, dass die Höllentrichter der Negativität, die Dante in seinem Inferno imaginierte, tatsächlich im Universum existieren, ebenso wie eine mysteriöse unsichtbare und unmessbare Kraft, die Sonne und Planeten davor bewahrt in eben diese schwarzen Löcher zu stürzen. Es ist als ob Mythen und Religionen Emanationen eines tiefen überindividuellen kosmischen Unterbewusstseins sind, die sich nach einer lange Reise unter den Zeichen von Rationalismus und Szientismus plötzlich wieder am Horizont abzeichnen.

Die Erzählung von der Opferung des eigenen Kindes gab es vor Jesus Christus nicht nur im Alten Testament in der Geschichte von Abraham und Isaak sondern auch in anderen mythischen Traditionen wie der von Agamemnon und seiner Tochter Iphigenie. Doch war die Drohung der Opferung immer nur eine Prüfung, die dann im letzten Augenblick noch abgewendet wurde. Der radikale Schritt zur tatsächlichen Opferung, den Jesus Christus vollzog, markiert den mythischen Paradigmenwechsel von Antike zu Neuzeit.

Im Mythos der Passion von Jesus Christus, der kulturhistorisch auch mit paganen Mythen von Frühlingsfeier und Frühlingsopfer verwoben ist, offenbart sich das Versprechen eines Neuanfangs. Im beleidigten Gott steckt auch die Selbstempörung über ein falsches Leben, in dessen Stricken und Banden man sich festgefahren hat, und von dem man sich befreien und reinigen möchte.

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Wie so oft in seinem Leben war Bach auch mit seinen Passionen ein Nachzügler. So wie kein namhafter Komponist mehr Suiten im traditionellen französischen Zuschnitt schrieb als Bach seine exemplarischen Suiten für verschiedene Soloinstrumente komponierte, so war auch die Form, die Bach in den 1720er Jahren für seine epochalen Passionen wählte, rückwärtsgewandt.

Passionsmusiken hatten eine lange Tradition und schon im 17. Jahrhundert hatte man damit begonnen über den Evangelien Text hinaus zusätzliche illustrierende Texte hinzuzufügen. Eine Schlüsselrolle für die neuesten Entwicklungen spielte zu Beginn des 18. Jahrhunderts Reinhard Keiser, der Elemente der aktuellen Opernästhetik in seine Passionsmusiken einbrachte. Vor allem seine Passion nach einem neuen Text von Barthold Heinrich Brockes (basierend auf der Passion nach Matthäus), die die schaurigen Aspekte der Passionsgeschichte drastisch ausmalte, schlug sofort ein. Diese Version, 1712 zum ersten Mal aufgeführt, machte schnell die Runde und in den folgenden Jahren vertonte eine Reihe von Komponisten diesen Text, darunter Telemann und Händel.

Man wundert sich heute oft, dass Bachs Passionen, die er ab 1724 in Leipzig regelmäßig aufführte, damals so wenig Aufsehen erregten. Doch waren sie, zumindest in ihrer grundlegenden ästhetischen Konzeption, nichts neues mehr sondern folgten der von Keiser und Brockes etablierten Ästhetik. Die illustrierenden Texte der Johannes-Passion sind kompiliert aus verschiedenen Quellen im Gusto der Brockes Passion, und auch Picander orientierte sich unverkennbar an Brockes als er neue Texte für die Matthäus-Passion (und später auch für die Markus-Passion) schrieb.

Doch hatte Bachs Nachzüglertum auch seine Vorzüge. Bach, der ein leidenschaftliches und enzyklopädisches Interesse an allen Formen seines Metiers hatte, kannte zahlreiche Vorbilder, sei aus eigenen oder fremden Aufführungen, sei es aus Abschriften. Hört man sich durch diese Vorgänger kann man durchaus zahlreiche musikalische und poetische Topoi wiederfinden, an denen sich Bach orientiert hat.

Zudem hatte er sich in Leipzig mit großem Eifer in die Komposition von Kantaten gestürzt, von denen er in der ersten Jahren fast wöchentlich eine schrieb und deren Potentiale er systematisch auslotete. Wie so oft ging es Bach nicht darum das Rad neu zu erfinden, sondern in einer Form, die sich ästhetisch bewährt und etabliert hatte, das ihm bestmögliche zu leisten. Bachs Genie lag im Vermögen die traditionellen Muster und Topoi exemplarisch zu verdichten und zu einer Synthese zu bringen.

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Die entscheidende Eigentümlichkeit von Bachs Passionen besteht denn auch darin, dass er seine Passionen der Ästhetik der eigenen Kantatenproduktion anverwandelt, während Passionen anderer Komponisten sich zu dieser Zeit ästhetisch eher weiter der Oper annäherten. Ähnlich wie in Bachs Oratorien so ist auch in den Passionen die DNA von Bachs Kantatenästhetik allgegenwärtig.

Man kann die Passionen daher auch im Kontext der Konzeption von Bachs Kantatenwerk betrachten. Die Johannes-Passion kam im Zusammenhang des ersten Jahrgangs von Bachs Kantaten 1724 zur Aufführung. Und es gab immer wieder Vermutungen, dass die Matthäus-Passion ursprünglich bereits für das Jahr 1725 geplant war, innerhalb der Zyklus des zweiten, sogenannten Choral-Kantaten Jahrgangs. Die Prominenz Choral-gebundener Sätze in der Matthäus-Passion spricht durchaus dafür.

Doch wurde sie wohl nicht rechtzeitig fertig und so führte Bach 1725 stattdessen erneut die Johannes-Passion auf, allerdings mit einem neuen Choral-gebundenen Eingangs- und Schlusschor, um dadurch die Kontinuität zum Choral-kantaten Zyklus zu wahren. Die Uraufführung der Matthäus-Passion fand dann wahrscheinlich 1727 statt. Lange ging man vom Karfreitag 1729 aus, doch scheint dies bereits die zweite Aufführung gewesen zu sein.

Auch zwischen der verschollenen Markus-Passion, die 1731 aufgeführt wurde und die man aus Parodien zumindest zum Teil rekonstruieren konnte, und dem dritten Kantatenjahrgang gibt es, im Bestreben verstärkt ästhetische Elemente der Instrumentalmusik mit einzubeziehen, nachvollziehbare Konvergenzen (NB: statt viele Millionen in Konzertsäle zu stecken, sollte man sich mal ernsthaft auf die Suche danach machen).

Der Nekrolog spricht von 5 Passionen und 5 Kantaten Jahrgängen, was jedoch oft bezweifelt wurde. Das Konvolut an handschriftlichen Noten aus einem viertel Jahrhundert von Bachs Tätigkeit als Thomas-Kantor in Leipzig war umfangreich und unübersichtlich. Es enthielt auch zahlreiche fremde Kompositionen, denn Bach hat immer wieder auch Passionen und Kantaten anderer Komponisten aufgeführt. Es war für die Nachlassverwalter, allen voran Carl Phillip Emanuel Bach, auf die Schnelle schwer feststellbar, was original ist und was nicht. Die Zahl 5 ist in Bezug auf das Notenmaterial der Passionen durchaus nachvollziehbar, denn neben Bachs eigenen drei Passionen gibt es noch eine weitere Markus- und eine Lukas-Passion in Bachs Handschrift mit anonymer Urheberschaft. Man ist sich schon lange einig, dass diese nicht von Bach sind. Erstere wurde lange Reinhard Keiser zugeschrieben, was jedoch inzwischen bezweifelt wird.

Dass Bach tatsächlich ursprünglich vier Kantaten-Jahrgänge und vier Passionen entsprechend den vier Evangelisten plante, ist durchaus denkbar und entspräche Bachs Neigung zu großen konzeptionellen Entwürfen. Doch muss ihm schon 1725 klar geworden sein, dass sich das Tempo, das er in den ersten beiden Jahren vorgelegt hatte, nicht halten ließ, und er seine Planung längerfristig anlegen musste. Wie es scheint, verlor das Projekt dann jedoch an Priorität. Schon der dritte Kantaten-Jahrgang blieb ein Torso und aus der sporadischen weiteren Kantatenproduktion lässt sich kaum noch eine neue ästhetische Konzeption zu einem vierten Jahrgang ablesen.

Allerdings erstellte Bach 1736 eine Reinschrift der Matthäus-Passion, und begann eine solche 1739 auch für die Johannes-Passion (die er allerdings wieder abbrach, aus Gründen die hier zu weit führen würden), wohl im Wunsch der Nachwelt eine definitive Fassung zu erhalten, was anzeigt, dass ihn das Thema der Passionen weiter beschäftigte. Er starb 1750 durchaus überraschend und niemand weiß, welchen Projekten er sich noch zugewandt hätte, wäre er etwa wie Händel noch 10 Jahre älter geworden.

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Die entscheidende Innovation, die Brockes in seinem Text einführte, ist die der allegorischen Figur der Tochter Zion. Reinhard Keiser war in erster Linie Opernkomponist und die Passionen wurden während der Passionszeit, in der keine Opern gespielt werden durften, von seinem Opernensemble aufgeführt. Die Sopranpartie der Tochter Zion, die auch die meisten Arien hat, wurde von der Sängerin gesungen, die gerade in den Opern als prima donna die weiblichen Hauptrollen spielte.

Vor diesem Hintergrund wird der emotionale Kontext noch deutlicher, mit dem die Figur der Tochter Zion, die als Braut den Retter der utopischen Stadt Zion wie einen Bräutigam erwartet, aufgeladen wurde. Die religiöse Sehnsucht nach einer Heilsfigur wird, durchaus sinniger Weise, mit den mächtigsten anthropologischen Triebkräften, mit narzisstischem und sexuellem Eros, kurzgeschlossen.

Bach ist sich dieses Kontextes vollkommen bewusst. Nicht nur der Eingangschor nimmt die allegorische Figur der Tochter Zion programmatisch auf, auch die Sopran-Arien der Passion stehen dezidiert im Zeichen sublimierter Erotisierung. Bach erweiterte den Kontext noch, indem er 1731 mit „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ BWV 140 eine weitere Choral-Kantate schrieb, in der die Tochter Zion erneut auftritt, im adventliche Gefühl der Erwartung. Und im Herzklopfen der punktierten Es-Dur Akkorde und den freudig bewegten Figuren, mit denen die Kantate anhebt, kann man durchaus die Kontinuität zum Eingangschor der Matthäus-Passion heraushören, wenn daraus ein banges Pochen und ein jammerndes Klagen in e-moll wird.

Brockes führt noch eine zweite allegorische Figur ein, die Gläubige Seele. Diese Figur ist weniger individuell und verschiedenen Stimmlagen und Sängern zugeordnet. Unverkennbar werden durch diese Figur hindurch eher soziale und gesellschaftliche Perspektiven zum Ausdruck gebracht. Im separat gedruckten Libretto von Picander ist der zweite Chor, der im Eingangschor die Fragen „Wen?“, „Wie?“ und „Wohin?“ stellt und erst gegen Ende in das Klagen des ersten Chores einstimmt, eben jenen „gläubigen Seelen“ zugeordnet. Hier kommen sozial-hierarchische Elemente ins Spiel, einem legitimen Wunsch nach Führung und Orientierung.

Picander und Bach kombinieren diese beiden, bei Brockes vorgezeichneten allegorischen Figuren, mit einer dritten, der von Jesus Christus als Lamm Gottes. Blumenberg hält diese dichterisch naheliegende Kombination (praktischer Weise reimen sich „Lamm“ und „Bräutigam“) für einen Missgriff. Für ihn gehen die erotische Allegorie vom Bräutigam und die Lamm Allegorie von Reinheit und Unschuld nicht zusammen. Doch sind Allegorien immer kontextuell und Bach realisiert die Spannung der beiden allegorischen Schichten durchaus, indem er den Choral „O Lamm Gottes unschuldig“ nicht nur vom Chorkörper trennt und einem separaten Knabensopran zuordnet. Ungewöhnlicher Weise steht dieser Choral auch in einer anderen Tonart (in G-Dur) als der Satz, in dem er vorkommt, und gerade diese innere musikalische Spannung von einem Moll-Lamento, das von einer externen Drift undeutlich wie eine Ahnung in eine harmonisch andere Sphäre gezogen wird, ist von großer psychologischer Sinnigkeit.

Wie den Sopran-Arien, so gibt Bach auch den Arien der anderen drei Stimmlagen eine durchaus spezifische soziale und emotionale Akzentuierung. Die Alt-Arien werden oft mit Maria Magdalena in Verbindung gebracht, was einiges für sich hat. Die erste Alt-Arie steht in Zusammenhang mit jener Frau, die Jesus „köstliches Wasser“ übers Haupt gießt. Neben dem symbolischen Kontext eines Krönungsrituals der Salbung (der dann die Krönung mit der Dornenkrone folgt), hat die Szene noch eine andere Komponente.

Sie findet statt im Hause „Simonis des Aussätzigen“ und hat Ähnlichkeit mit jener Episode, die Lukas von der Sünderin berichtet, die Jesus mit ihren Tränen die Füße wäscht, die wiederum oft mit Maria Magdalena als „Sünderin“ und „Prostituierte“ identifiziert wird. Der gemeinsame Nenner ist der von der Gruppe jener Erniedrigten und Beleidigten am unteren Rand der Gesellschaft, die durch Not entmenschlicht worden sind und denen sich Jesus Christus zuwendet. Denn die innere Durchbruchs-Logik der Passion ist eine allumfassende. So wie durch den Tod ein neues Leben erlangt wird, so wird durch die Not der Erniedrigung der Ort zum Tor der Selbstfindung erreicht.

Die Alt-Arien sind denn auch durchzogen von der Pein der Scham und der Selbstentwertung, den Tränen des Mitleids in der Identifikation mit dem erniedrigtem und beleidigten Jesus Christus, doch auch von der stillen Hoffnung auf die Überwindung und Reinigung auf Golgotha. Petrus, der Jesus verleugnet, reiht sich ein unter die Schambehafteten und das folgende „Erbarme dich“ ist die verzweifelte Klage eines Menschen am Nullpunkt des Lebens.

Verfolgen Sopran und Alt das Geschehen in intimer Tuchfühlung, nehmen die männlichen Stimmfächer das Passionsgeschehen mit mehr Distanz ins Visier. Der Tenor mit seinen beiden Arien repräsentiert, auch durch die Stimmfach- Identität mit dem berichtenden Evangelisten, die Mitte der Gesellschaft. Er ist zwar willig und idealistisch, doch auch zaudernd und eher abwartend wie sich die Dinge entwickeln. Insbesondere die „Geduld“-Arie ist ein Ritual der Selbstvergewisserung und Selbststabilisierung.

Dem Bass, auch hier in der Stimmfach-Entsprechung zu den Protagonisten Jesus und Pilatus, fällt die Rolle der charismatischen Figur zu, die anderen Orientierung gibt. An den Bass Arien lässt sich am klarsten die Dramaturgie der Transformation ablesen. Dort wird auch am deutlichsten, was es mit der Anlage der Doppelchörigkeit auf sich hat, die sich in der Matthäus-Passion nicht nur auf den Chor, sondern auf den kompletten Apparat bezieht. Der zweite „chorus“ war örtlich getrennt in Distanz zum ersten „chorus“ untergebracht.

Neben den traditionellen dialogischen und Echo-Effekten von Doppelchörigkeit schwebte Bach dabei auch eine symbolische Weltenteilung vor. Der zweite „chorus“ steht für die Nacht- und Schattenwelt. Alle Arien, die mit Schuld, Verrat und Zweifel zu tun haben, sind diesem Bereich zugeordnet. So auch die beiden ersten Bass-Arien. Gerade in der ersten Arie „Gerne will ich mich bequemen, Kreuz und Becher anzunehmen“ besteht ein merkwürdiger Widerspruch zwischen dem Text und der Musik, die voll von harmonischer „falscher“ Querständigkeit ist, die den psychologischen Effekt eines sich-nicht-wohl-in-seiner-Haut-fühlens hat. Auch die zweite Arie, nach Judas Verrat, „Gebt mir meinen Jesum wieder“ hat in ihrer verzweifelten Vergeblichkeit etwas unangenehm Uneigentliches. Erst „Komm, süßes Kreuz“ bringt die Wende, in der Annahme des eigenen Schicksals und das abschließende „Mache dich, mein Herze, rein“ hat etwas tief Herzbewegendes in der Bejahung und einem In-eins-sein mit einem neuen Leben.

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Hans Heinrich Eggebrecht hat in einem Aufsatz einmal durchaus zu Recht angemerkt, dass die Stilisierung Bachs als Thomaskantor eine Außenansicht ist, die wohl nicht Bachs Eigenwahrnehmung entsprach. Bach sah lange Zeit eigentlich in der Instrumentalmusik seine Bestimmung und seine Zeit als Kapellmeister in Köthen war wohl die Zeit, in der er sich persönlich und beruflich am ehesten in seinem Element gefühlt hat. Als sich nach einem Generationenwechsel der Fürsten in Köthen die Situation dort änderte und sich keine vergleichbare neue Stelle auftat, bewarb er sich eher aus materiellem Zwang – er hatte inzwischen eine große Familie zu ernähren – um die Kantorenstelle in Leipzig.

Tatsächlich war es dann auch kein idealer Match, wobei man es sich ein wenig zu einfach macht, die Leipziger Kirchenverwaltung dafür zu schelten, dass sie ein Jahrtausend Genie verkannt hat. Man war mit Bachs Vorgänger Johann Kuhnau sehr glücklich gewesen, der auf seine bescheidene Weise durchaus originell war, doch sich viel besser in das maßvolle bürgerliche Leipziger Milieu einfügte als Bach. Wenn man in der Stellenbeschreibung liest, dass die Kirchenmusik nicht zu lang ausfallen soll, kann man sich leicht vorstellen, wie es gewirkt haben muss, als Bach mit der Matthäus-Passion eines der monumentalsten Werke der Kirchenmusik überhaupt präsentierte.

Paradoxer Weise schien Bach sich in der feudalen Umgebung von Weimar und Köthen wohler gefühlt zu haben als im bürgerlichen Leipzig, als selbstbewusster Untertan neben selbstbewussten Untertanen. Erst im 19. Jahrhunderts, eben mit der Wiederaufführung der Matthäus-Passion 1829, stieg er zum Heros der Bildungsbürgertums auf. Die ersten Leipziger Jahre waren daher gewiss auch mit künstlerischen Frustrationen für Bach verbunden, da das Echo auf seine künstlerischen Anstrengungen nicht so ausfiel, wie er es sich wohl erhofft hatte; was sicher einer der Gründe war, dass die Kantatenproduktion dann erlahmte.

Die Komposition der Matthäus-Passion fiel mit dieser Krise zusammen und es ist vielleicht tatsächlich auch Bachs eigener innerer Transformationsprozess, sich mit der zwiespältigen Existenz als Thomaskantor, die er in seinem ursprünglichen Lebensentwurf vielleicht zunächst als Scheitern empfand, nicht nur zu versöhnen, sondern zu einer neuen Existenz unter neuer ästhetischer Perspektive umzuformen. Auch bei Dante und Goethe gibt es diese merkwürdige Koinzidenz von persönlicher Lebenskrise und ästhetischem Durchbruch.

Eine interessante Fußnote ist, dass Bach offenbar für die Trauermusik für seinen ehemaligen Köthener Fürsten Leopold von Anhalt-Köthen, der im November 1728 gestorben war, Musik aus der Matthäus-Passion wieder verwendete. Auch einiges aus der Musik der späteren Markus-Passion wurde ähnlich einer doppelten Funktion zugeführt, in diesem Fall in der Trauermusik für die Kurfürstin von Sachsen Christiane Eberhardine.

Wie eingangs schon festgestellt, spielte dieses hierarchische Spannungsfeld zu Gott wie zu seinem Fürsten für Bach wohl eine wichtige Rolle für die individuelle und existenzielle Selbstverortung. Sein exzeptionelles Werk als Opferdienst für einen dies- oder jenseitigen Herrscher zu betrachten (auch das Werk für den Preußischen König nannte er „Musikalisches Opfer“), gab seinem Dasein Sinn und Halt. Dass er seinerseits ein Herrscher und Beherrscher im Reich der Töne war, ist die komplementäre Seite desselben Phänomens, einer Entscheidung zur Sinngebung.

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Kontext ist das Mittel der Sinngebung und Bach begriff die Matthäus-Passion als organischen Teil eines Kosmos, der nicht nur innerhalb des Werkes sondern auch nach außen, im Spannungsfeld zu den Kantaten und den anderen Passionen, Zusammenhang zu vermitteln imstande ist. Gerade Bachs Neigung, an gewissen formalen Grundelementen eisern festzuhalten, bildet die Voraussetzung für die möglichen Kontextualisierungen. Und so lässt sich insbesondere an der Differenz zur Johannes-Passion einiges ablesen.

Die Johannes-Passion ist als die erste Passion gewissermaßen der formale Standard, den Bach für sich selbst etabliert. Der orientiert sich nicht nur klar am Vorbild von Brockes, sondern knüpft auch an die eigenen Kantaten an mit der Folge von Eingangschor, Rezitativen und Arien sowie Schlusschoral. Daneben gibt es noch zwei weitere Formen mit Chor Beteiligung, den dialogischen Chor „Eilt“ mit den „Wohin“ Einwürfen sowie den Choralgebundenen Chor „Mein teurer Heiland“.

In der Matthäus-Passion entfaltet Bach diese Elemente in mehrere Dimensionen. Der Eingangschor kombiniert alle drei Chortypen, den dramatischen Eingangschor („Kommt ihr Töchter“ chorus I), den dialogischen Chor („Wen“/„Wohin“ chorus II) und den Choralgebundenen Chor („O Lamm Gottes“ in ripieno). Gleichzeitig erweitert er diese Chortypen, indem er daraus Achsen bildet, die wie Querstreben durch das ganze Werke reichen. So taucht der dialogische Chor (immer chorus II zugeordnet) nicht nur in der Golgatha Szene (wie in der Johannes-Passion) nochmal auf, sondern dazwischen auch in „So ist mein Jesus“ nach Jesu Gefangennahme und in „Ach, nun ist mein Jesus hin“ am Beginn des zweiten Teils.

Genauso gibt es jenseits des Eingangschores noch zwei weitere Choralgebundene Chöre (das Accompagnato „O Schmerz“ und „O Mensch bewein Dein Sünde groß“ am Schluss des ersten Teils). Interessant ist, dass der zweite Teil keine weiteren Choralgebundenen Nummern mehr enthält (abgesehen natürlich von den einfachen Chorälen, die eine eigene Achse durch das ganze Werk bilden). Analog zu der dramaturgischen Aufteilung der beiden Orchesterapparate in eine Seite von Licht und Zuversicht sowie Nacht und Zweifel, scheint Bach auch in der Dramaturgie der beiden formalen Teile den zweiten Teil bewusst in ein dunkles schattenhaftes Licht setzten zu wollen. Der zweite Teil beginnt denn auch programmatisch mit der angsterfüllten Alt-Arie „Ach, nun ist mein Jesus hin?“.

Die andere große Neuerung zur Johannes-Passion ist die Einführung des Recitativo accompagnato, das Rezitativ mit Orchesterbegleitung. Bach nutzt es nicht nur wie so viele andere Komponisten hier und da als dramatische Akzentierung, sondern macht in der Matthäus-Passion ein eigenes System daraus. Dass die Jesus Worte von Streichern begleitet werden ist an sich nicht neu, andere Komponisten haben das schon vor ihm gemacht. Doch die Art und Weise, wie er diese Idee entfaltet, indem er eben auch allen Arien, die sich auf Jesus beziehen, mit einem Accompagnato einleitet, und so die Jesus Worte und die entsprechenden Arien in Beziehung setzt, ist typisch für Bachs sinniges Durch- und Weiterdenken. Die verschiedenen Komponenten der Matthäus-Passion werden am Ende zu einer Synthese gebracht indem Bach auch vor dem Schlusschor ein Accompagnato einfügt, in dem die vier Ariensolisten nacheinander auftreten und mit dem „gute Nacht“ Grüßen des chorus II in Dialog treten.

Der berühmte Schlusschoral „Wir setzen uns mit Tränen nieder“ hat gewisse Ähnlichkeit mit dem „Ruht wohl“ der Johannes-Passion, steht auch in derselben Tonart c-moll, die die dunkelste Farbe der Klangpalette war (das Contra C der Orgel war die tiefste zu erreichende Note). Doch während sich das c-moll in der Johannes-Passion in den tonartlichen Zusammenhang von g-moll des Eingangschores und Es-Dur des Schlusschorals einfügt, wird in der Matthäus-Passion die schon angedeutete Dramaturgie (von den Kreuztonarten des ersten Teils, der in e-moll beginnt und in E-Dur endet, bis zum dunklen c-moll am Ende) eines Abstiegs in den Höllentrichter der Dunkelheit vollzogen.

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Es ist durchaus bemerkenswert, dass Bachs Oster-Oratorium oder Oster-Kantaten nicht annähernd die Popularität und Ausstrahlung erlangt haben wie die Passionen. Es lag weder in Bachs individueller Natur noch im kulturellen Klima der feudalistischen Barockkultur einen radikalen Schnitt zu machen. Gleichwohl zeichnete sich fern am Horizont mit der französischen Revolution ein Ereignis ab, das viele Elemente einer kulturellen und mythischen Transformation verwirklichte. Dass umgekehrt Beethovens Passionsoratorium „Christus am Ölberg“ völlig unbekannt ist, doch viele Finali von Beethovens Sinfonien bis zu „Freude schöner Götterfunken“, die den Durchbruch und Aufbruch feiern, emblematisch geworden sind, ist ein interessantes Zeugnis dafür, wie mythologische Prägungen historisch immer wieder wirksam werden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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