Beethoven und das Streichquartett

250. Geburtstag Wer ein tieferes Verständnis von Beethoven gewinnen will, kommt um die Streichquartette nicht herum. Eine Annäherung zum Jubiläum

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Ludwig van Beethoven dirigiert eines seiner Rasumowsky-Quartette. Der Cellist wahrt die Contenance
Ludwig van Beethoven dirigiert eines seiner Rasumowsky-Quartette. Der Cellist wahrt die Contenance

Bild: Rischgitz/Getty Images

Von den ersten Proben zu Beethovens Streichquartett op. 59/1 wird folgende Episode berichtet: nachdem man mit großer Spannung und Neugierde auf das neue Werk mit dem Durchspielen begonnen hatte, wurde der Cellist Bernhard Romberg im Laufe der Probe immer nervöser. Unruhig wand er sich auf seinem Stuhl, bis schließlich der Ärger aus ihm hervorbrach. Er warf seine Cellostimme auf den Boden und trampelte wütend darauf herum. Wie viele andere glaubte er, Beethoven sei verrückt geworden oder erlaube sich einen makabren Scherz mit den Musikern.

Steht heute eines der drei Rasumowsky-Quartette op. 59 auf dem Programm, wird andächtig gelauscht und enthusiastisch geklatscht. Sie werden als Gipfelwerke der Klassischen Musik verehrt. Auch Marcel Reich-Ranicki dürfte ein Stück daraus als Titelmusik für sein „Literarisches Quartett“ nicht zuletzt deswegen gewählt haben, eben weil es als Ausweis von bildungsbürgerlichem Renommee gilt. Dabei ließe sich trefflich darüber streiten, was denn die angemessenere Reaktion auf diese Musik sei. Ob nicht Rombergs Widerwille eine authentischere und lebendigere Reaktion auf die Musik war als unsere heutige, pauschal vorauseilende Verehrung.

Womit man sich bereits im Zentrum der Streichquartett-Ästhetik befände, deren innerstes Wesen im Konversationellen und Diskursiven liegt. Goethes berühmtes Wort über das Streichquartett (aus einem Brief an Zelter) verweist sehr treffend auf diesen speziellen Charakter: „Man hört vier vernünftige Leute sich untereinander unterhalten, glaubt ihren Diskursen etwas abzugewinnen und die Eigentümlichkeiten der Instrumente kennen zu lernen.“

Wie der Begriff „Kammermusik“ schon sagt, ist ursprünglich die Kammer, das heißt die Privaträume eines Adeligen, später der bürgerliche Salon, der Resonanzraum dieser Art von Musik. Die kleine Gesellschaft, in der debattiert, parliert und philosophiert wird. Beethoven schrieb seine Quartette im vollen Bewusstsein um dieses Publikum von Kennern und Liebhabern. Was sich nicht zuletzt daran ablesen lässt, dass Haydn und Mozart in diesem Genre bis zuletzt die imaginierten Ansprechpartner bleiben, während er sich bei Klavier-Sonate und Sinfonie viel früher, und viel stärker von diesen Vorbildern emanzipiert hat. Bei vielen Sätzen lassen sich ohne weiteres die direkten Vorbilder bei Haydn und Mozart ausmachen, was Beethoven auch gar nicht zu verbergen versucht. Ganz im Gegenteil ist dieses Bezugnehmen und geistreiche Antworten und Weiterspinnen essentieller Bestandteil der Streichquartett-Ästhetik.

Das Konzertpodium, auf dem Quartette heute meist gespielt werden, ebenso wie die Musikkonserve, werden dem nur bedingt gerecht. Der intellektuelle Charakter dieser Musik erschöpft sich nicht im unmittelbaren Genuss sondern verlangt nach Reflektion und Rekapitulation. Dass es der Kammermusik, anders als den Sinfoniekonzerten und Klavierabenden, immer schwerer fällt, ein Publikum zu binden, liegt auch daran, dass sie ihr eigentliches soziologisches Habitat verloren hat.

Zur frühen Streichquartett-Ästhetik gehört auch ein Aspekt, der heute weitgehend aus dem Blickfeld geraten ist. Der aristokratische Salon des 18. Jahrhunderts war auch der Hauptschauplatz erotischer Annäherung. Und tatsächlich es ist durchaus auffällig, dass Beethoven sich vor allem in aristokratische Frauen verliebte. Die Streichquartette op. 18 wurden wahrscheinlich zum ersten Mal im Wiener Salon des Grafen von Deym aufgeführt, zu dessen Gattin Josephine (geborene Brunsvik) Beethoven ein ähnliches Verhältnis hatte wie Goethe zu Charlotte von Stein. Ein Verhältnis, das nicht nur durch eine Spannung von Konventionen und Ritualen geprägt ist, die gleichermaßen Zwang wie Gelegenheit zu Spiel und Flirt implizierte, sondern auch durch eine Melancholie der Nichterfüllung, die mit einem ganz eigenen, intensiv herben und bittersüß resignativen Reiz verbunden war.

Dass der langsame Satz von Beethovens erstem Streichquartett op. 18/1 von Shakespeares Romeo und Julia inspiriert sein soll, wundert einen vor diesem Hintergrund wenig. Zahlreiche Streichquartett Sätze Beethovens haben diese erotische Akzentuierung, bis hin zum langsamen Satz von op. 127, der nicht umsonst das „Sink hernieder Nacht der Liebe“ aus Wagners Tristan und Isolde maßgeblich beeinflusst hat.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts rückte dieser Aspekt der Kammermusik durch den soziologischen Wandel - das Bürgertum fand seine neuen und eigenen erotischen Spielwiesen - immer mehr in den Hintergrund, und der handwerkliche Aspekt mehr in den Vordergrund, was sich auch an der Aufführungstradition ablesen lässt, die das Streichquartett vor allem im bildungsbürgerlichen und akademischen Milieu heimisch machte.

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Man kommt beim Thema Streichquartett nicht umhin, auch ein Wort über dessen Erfinder Joseph Haydn zu verlieren, dem Beethoven mehr verdankt als jedem anderen Komponisten. Das von Haydn entwickelte viersätzige Modell der Sonate, das sich schnell in allen instrumentalen Bereichen als Standard etabliert hat, ist das Fundament der gesamten klassischen Instrumentalmusik über Mozart und Beethoven, Brahms und Bruckner bis Mahler und Schönberg. Je mehr man sich klar macht, wo dieses Modell eigentlich herrührt und warum es so immens fruchtbar war, desto ehrfürchtiger wird man vor dieser Schöpfung.

Das harmlose Bild, das wir von „Papa Haydn“ haben, täuscht leicht darüber hinweg, dass er einen mephistophelischen Zug in seiner Intellektualität und Hintergründigkeit hatte. Haydns Denken, darin Emmanuel Kant verwandt, dem er auch als Charaktertypus ähnelt, hatte eine Doppelgesichtigkeit aus einer sehr konservativen äußeren Anmutung bei gleichzeitiger subversiver Originalität in der Neuausrichtung der grundsätzlichen Ideen und Gedanken.

Das Sonaten-Modell ist im Grunde eine Schnittmenge der instrumentalen Gattungen des Barock, nämlich der italienischen Sinfonia und Concerto und der französischen Ouverture und Suite mit ihren immanenten Formprinzipien. Das bemerkenswerte ist, dass aus dieser Schnittmenge nicht etwa ein konfuses Potpourri entsteht, sondern durch eine gedankliche Neuformatierung etwas, das sogar mehr Kohärenz und intellektuelle Innenspannung hat als das, woher es rührt. Insbesondere das dialektische Prinzip, das der Sonatensatzform zuwächst, erweist sich als enorm fruchtbar und ausbaufähig, und ist im Grunde die intellektuelle Goldader der klassischen Musikkultur.

Der mephistophelische Aspekt der Figur Haydn zeigt sich auch im Verhältnis zu seinen Erben Mozart und Beethoven. Haydn war wie Goethes Mephisto am Ende weniger selbst der Verwirklicher als vielmehr der Einflüsterer und Inspirator. Während Mozart aus Haydns Erbe einen phänomenal geistreichen ästhetischen Funken schlug, adaptierte Beethoven vor allem den Geist der Ermächtigung und Selbstverwirklichung, die ihm die Mittel der neuen ästhetisch Potentiale seines Lehrmeisters in die Hand gaben.

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Bernhard Romberg hatte mit seinem Widerwillen nicht ganz Unrecht: vor allem die beiden ersten Sätze aus dem F-Dur Quartett op. 59/1 sind eine Unverschämtheit. Beethoven hatte gerade mit der Eroica-Sinfonie op. 55, dem Tripel-Konzert op. 56 und dem 4. Klavierkonzert op. 58, der Waldstein-Sonate op. 53 und der Appassionata op. 57 völlig neue Maßstäbe gesetzt, was in der Welt der Sinfonie, des Konzerts und der Sonate möglich und machbar ist. Und es war gewiss ein Jupiter-haftes Selbstgefühl von „ich kann alles“ und „ich kann mir alles erlauben“, das ihn beflügelt hat, als er sich an die Arbeit zu den drei Rasumowsky-Quartetten machte.

Hatte Beethoven in der erste Gruppe der sechs Streichquartette op. 18 einerseits Haydn und Mozart seine Referenz erwiesen, und sich gleichzeitig demonstrativ als deren Erbe inthronisiert, schlägt Beethoven in den Rasumowsky-Quartetten op. 59 einen zentralen Richtungswechsel ein. Sie bilden den vielleicht wichtigsten Emanzipationsschritt in Beethovens Werk. Denn sie inszenieren nichts Geringeres als den epochalen Paradigmenwechsel von aristokratischer zu bürgerlicher Kultur.

Eine wichtige Rolle spielt dabei das Tripel-Konzert op. 56 (wahrscheinlich eines der am meisten missverstandenen und missinterpretierten Werke Beethovens). In keinem anderen Werk gibt Beethoven politisch revolutionären Ideen stärker und konkreter Ausdruck (NB: im selben Jahr 1804, als Beethoven das Tripel-Konzert schrieb, war auch Friedrich Hölderlin in Homburg in revolutionäre Umtriebe verwickelt. Der Hochverratsprozess gegen ihn wurde jedoch, nicht zuletzt wegen der sich immer deutlicher abzeichnenden Erkrankung, fallen gelassen).

Das offenbart sich nicht nur am Marschgestus des ersten Satz sondern mehr noch in der Konstellation von drei „konzertierenden“ (d.h. „gemeinsam streitenden“) Protagonisten, die in der Durchführung des ersten Satzes gemeinsam in die Schlacht ziehen. Vor allem die Triolen-Kaskaden, in denen sich die drei Solisten im Streit abwechseln, haben nicht nur eine fast cinematographische Schlachten-Choreographie, sondern beschwören den modernen revolutionären Geist der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Eben diese Triolen-Kaskaden kommen auch im ersten Satz von op. 59/1 vor. Mehr noch spielt auch das Cello, das im Tripel-Konzert in allen Sätzen als erstes auftritt, auch in diesem Quartett die Rolle des primus inter pares. Der zentrale symbolische Gegensatz dieses Satzes liegt in nuce im Gestus des im Thema enthaltenen Motivs von vier Achteln mit zwei gebundenen und zwei staccato Noten, der in seiner Geziertheit allegorisch für die aristokratische Kultur steht, und jenen revolutionär querständigen Triolen, die in der Durchführung ins Spiel kommen und in der Reprise dem Thema wie ein lästiger Begleiter weiter folgen.

Formal hat dieser Satz den Exegeten von je her Kopfzerbrechen bereitet, eben weil er sich hartnäckig und subversiv weigert, der Form (die Beethoven in den Quartetten op. 18 bereits souverän gemeistert hatte) zu fügen. Schon der Beginn vermeidet demonstrativ den Grundton F, eine klare harmonische Struktur (der erste Hamoniewechsel kommt völlig unvermittelt nach 7 ½ Takten) und eine klare Periodik. Auch die Übergänge von Exposition zu Durchführung und zu Reprise, sonst die entscheidenden dialektischen Schnittstellen der Sonatenform, sind provokativ verwischt.

Die Durchführung ist von jenem aristokratischen Achtel-Motiv geprägt. Doch verweigert ihm Beethoven eine ästhetische produktive Auseinandersetzung. Einmal wird ihm formelhaft schematisch geantwortet, dann ihm schweigend passiv zuhört, dann ihm ein schematisch formaler Kontrapunkt entgegengesetzt. Diese Stellen sind gerade ästhetisch von großer Bedeutung, eben weil sich hier das neue Element von Beethovens Ästhetik zum ersten Mal klar abzeichnet: die Musik gewinnt symbolisch eine neue Dimension der Autonomie, dadurch, dass sie aus ihrer rein funktionalen Rolle heraustritt. Hinter jedem der vier Protagonisten tritt ein Subjekt hervor, das nicht mehr nur servil seine Pflicht erfüllt, sondern sich als Individuum, wenn auch in diesem Fall als renitentes, mit einbringt. Wenn schließlich in der Coda das Thema im ff mit Sforzati gegen den Strich gebürstet wird, ist das wie ein Rütteln an den Gittern der ständischen Ordnung.

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War der erste Satz von op. 59/1 ein intellektuell politisches Statement, adressiert der zweite Satz das Weltgefühl, das hinter dem Epochenwechsel steht. Schon zuvor war der offensichtlichste Unterschied in der Sonatenform von Beethoven zu seinen Vorbildern Haydn und Mozart der Übergang vom Menuett zum Scherzo gewesen. Dieser Satz ist nun beides, oder, genauer gesagt: die Exorzierung des Menuett durch das Scherzo.

Im Tanz manifestiert sich am unmittelbarsten und sinnlich vernehmbarsten das Lebensgefühl einer Epoche, und das Menuett war der zentrale Tanz der Barockkultur. Es gibt keine Oper zwischen Lully und Mozart, in der es nicht eine Hand voll Menuette gibt. Das Menuett (wenn richtig gespielt) hat in seiner metrischen Unbestimmtheit ein narkotisierendes, und in seiner kalkulierten Nonchalance ein distinguierendes Element, das der gleichermaßen narzisstischen wie hedonistischen aristokratischen Kultur vollkommen entsprach (wie eben der aktuelle, zu reiner Kopulationsmimesis degenerierte Tanzmodus, vollkommen der unseren entspricht).

Beethoven umzingelt die prototypische Menuett-Formel (ab Takt 23) mit einem Motiv, das nur aus Wiederholungen eines einzigen Tones besteht. In eben diesem harten Gegensatz des raffiniert gezierten Menuetts zur nackt energetischen Direktheit, zuweilen auch Brutalität des hämmernden Scherzos, in der sich das produktiv zupackende Versprechen der bürgerlichen Kultur ausdrückt, manifestiert sich der purgierende Effekt. Und auch hier ist der damit verbundene ästhetische Übergang programmatisch für Beethoven. In der folgenden 5. Sinfonie op. 67 wird jede antiquierte Formelhaftigkeit vollkommen durch eine pure und kondensierten Energetik verdrängt worden sein.

Auch der dritte Satz von op. 59/1 ist etwas Besonderes. Es ist eines der wenigen Male, dass Beethoven seine Wunden zeigt, was sonst eigentlich seinem heroischem Selbstverständnis widersprach. Es ist wie eine tiefe Niedergeschlagenheit nach der großen Euphorie, ein Bangigkeit ob der ungewissen Zukunft nach dem großen Ereignis.

Im letzten Satz des dritten Rasumowsky Quartetts op. 59/3 vollzieht sich erneut eine Dynamik, die von grundsätzlicher Bedeutung ist. Dieser Satz beginnt wie eine Fuge, weigert sich dann aber eine Fuge zu sein, womit sich dieser Satz intuitiv gegen die alte, von religiöser Ordnungsgläubigkeit überformte barocke Weltordnung richtet. Mit einem transgressivem Elan, der bereits auf das Finale der 5. Sinfonie verweist, wird die Energetik der Motivik ganz in die teleologische Tektonik der Sonatenform, in eine Apotheose des Aufbruchs, umgelenkt.

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Bekanntermaßen fand die Revolution in den deutschen und österreichischen Fürstentümern dann doch nicht statt. Schlimmer noch mündeten die Napoleonischen Kriege in eine restaurative Periode. Das war sicher frustrierend für Beethoven. Doch ein Künstler von seinem Format und Sendungsbewusstsein neigt nicht zur Resignation (anders als Hölderlin, dessen Krankheit in einem kulturmythologischen Sinn ein Akt der Selbstaufgabe war). Mehr noch ist es durchaus ein Merkmal jener überlebensgroßen Künstlerfiguren (wie auch Goethe oder später Richard Wagner), dass sie den Mut und die Kraft haben sich immer wieder neu zu erfinden.

Und so geht auch Beethoven nicht vollkommen in der so populären Bezeichnung des Revolutionärs auf. Es gibt auch einen Beethoven der Restauration, der durchaus versuchte sich den Gegebenheiten einer neuen Zeit anzuverwandeln und sie mit zu formen. Denn auch ohne Systemwechsel war eine allgemeine Verbürgerlich der Kultur unübersehbar, und eben jener Biedermeier war all seinen konservativen Tendenzen zum Trotz zu seiner Zeit etwas neues und brachte ein neues Lebensgefühl in die Welt.

Finanziell war Beethoven seit 1809 durch die Apanage einiger Fürsten, allen voran des Erzherzog Rudolph, abgesichert. Mit dieser Konstellation konnte Beethovens Stolz ganz gut leben, da es dezidiert kein Lohn für eine Anstellung war sondern eine Art Kultur-Sponsoring ohne jede Verpflichtung (außer dass er in Wien bleibt) und im gegenseitigen Einverständnis, dass er damit seinen Förderern eine Ehre erwies. Überhaupt bildet sich in Beethovens Verhältnis zum Erzherzog, den er in Klavier und Komposition unterrichtete und dadurch auf künstlerischem Gebiet sein Superior war, eben jenes neue Verhältnis ab, das zumindest symbolisch auf Augenhöhe war.

Doch lässt sich nicht leugnen, dass mit den Feindbildern auch der ästhetische Elan ein wenig verloren gegangen ist. An vielen Kompositionen dieser Phase, wie auch an den beiden Streichquartetten op. 74 und 95, lässt sich beobachten, dass Beethoven zwar keineswegs stagniert sondern immer wieder neues ausprobiert, allerdings ohne dass sich daraus eine neue ästhetische Richtung herauskristallisierte. Das Erzherzogs-Trio op. 97, das nicht nur in der Besetzung sondern auch thematisch an das Tripel-Konzert anknüpft, ist gewissermaßen Beethovens Friedensvertrag mit der aristokratischen Klasse. Aus der stolzen Polonaise des Tripelkonzertes ist eine gemütlich humoristische Ecossaise geworden.

Die zunehmende Taubheit führte zwangsläufig dazu, dass Beethoven die Gesellschaft vermehrt mied. Durchaus konsequenter Weise vollzog sich die neue ästhetische Wende gegen Ende der 1810er Jahre zum „Spätwerk“ dann auch auf anderem Gebiet, nämlich in der persönlichen Sphäre der Klaviersonaten (zwischen op. 101 und 111). Darauf folgten die beiden Opera Magna, die 9. Sinfonie op. 125 und die Missa solemnis op. 123, in denen Beethoven gewissermaßen die Summe seines Lebenswerks zog.

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Die letzten fünf Streichquartette (zwischen op. 127 und 135) knüpfen einerseits unmittelbar an die letzten fünf Klaviersonaten an. Die ersten drei Quartette (op. 127 in Es-Dur, 132 in a-moll und 130 in B-Dur) sind wie op. 59 einem russischen Adeligen gewidmet, dem Fürsten Nikolaj Galitzin, und korrespondieren auch in manchen Aspekten mit diesen Quartetten (mit einem Moll Quartett in der Mitte und einer Fuge ganz am Ende).

Schon in diesen Kontexten zeichnet sich ein wesentliches Merkmal dieser Quartette ab, nämlich ihr lebenssummarischer Anspruch, der sich in zahlreichen Reminiszenzen und Beziehungen zum eigenen Werk und zum persönlichen Erfahrungshorizont manifestiert. Darin besteht auch eine große Ähnlichkeit zum zweiten Teil von Goethes Faust. Ebenso wie in der stark allegorisierten Sprache, die fast nur noch in Referenzen und Andeutungen spricht. Selbst die musikalische Form an sich ist nicht mehr ein Mittel, das durch Ordnung Orientierung und Sinn stiftet, sondern seinerseits Vehikel des allegorischen Über-sich-hinaus-weisens.

Hielt man die mittleren Streichquartette für anspruchsvoll und nicht ganz leicht verständlich, kapitulierten die Zeitgenossen nahezu gänzlich vor den späten Quartetten. Nach ihrer Uraufführung wurden sie lange Zeit so gut wie gar nicht gespielt. Selbst jemand wie Theodor W. Adorno, der ein gewichtiges Buch über Beethoven zu schreiben plante, das dann jedoch nicht zustande kam, arbeitete sich in seinen Skizzen immer wieder, oft mit einer gewissen Ratlosigkeit, an diesen Quartetten ab.

Man darf sich durchaus fragen, warum Beethoven überhaupt die Form des Streichquartetts für seine letzten Reflexionen gewählt hat. Er tat es aus denselben Gründen, warum Goethe die Form des Dramas für den Faust wählte (auch wenn er es als Lesedrama betrachtete). Sie sind durchaus nicht privat sondern adressieren in ihrem kommunikativen Resonanzraum nach wie vor eine intime Salon-Gesellschaft, wenn auch vielleicht eine von überzeitlichen imaginären Verständigen, die den geheimen Botschaften ihrer Allegoriengewächse folgen können.

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Was man an den späten Quartetten wahrscheinlich zu wenig wahrnimmt, sind ihre sinnlichen Komponenten, woran eine, durchaus nützliche, doch in ihrem analytischen Blickwinkel vielleicht allzu einseitige Beethoven Exegese nicht ganz unschuldig ist. Es kommt kein einziges Menuett mehr vor, was in den 1820er Jahren endgültig aus der Mode war. An seine Stelle treten neue bürgerliche Tanzformen wie Ländler, Deutsche Tänze und Ecossaisen (gegen die allerneueste Mode, den Walzer, hatte Beethoven eine Aversion, die er in den Diabelli Variationen deutlich zum Ausdruck bringt).

Erstaunlich prominent ist auch Gioachino Rossini, der Wien mit seinem „Il barbiere di Siviglia“ (1819 erstmals in Wien aufgeführt) in einen regelrechten Taumel versetzt hatte. Der dritte Satz von op. 127 mit seinen rollenden Trillern und schlendernden Punktierungen, der Tarantella-artige zweite Satz aus op. 131 und die Fiorituren in einigen langsamen Sätzen zeigen ganz deutlich Rossini-hafte Features. Wie eingangs erwähnt spielen auch erotischen Implikationen in vielen langsamen Sätzen, allen voran den Variationssätzen, eine wichtige Rolle. Im ernsthaften und intellektuellen Anspruch, der vor allem im 20. Jahrhundert gerade an diese Quartette herangetragen wurde, werden diese sinnlichen Aspekte fast immer unterbelichtet.

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Für alle späten Quartette spielt die gewählte Tonart eine wichtige Rolle, da in ihrem Verweis auf zentrale andere Werke in derselben Tonart bereits viel Andeutung steckt. So verweist der „Maestoso“ Es-Dur Beginn von op. 127 natürlich auf Eroica-Sinfonie und Emperor-Konzert. Doch statt triumphal von der Subdominante As-Dur zur B-Dur Dominante fortzuschreiten, wird Beethoven wie von eine Grille in einen zart schwingenden Ländler hereingezogen.

Die Bezüge zur Eroica sind unverkennbar, im Takt und Tonartenplan des ersten Satzes (der Konstruktion von Es-Dur Exposition, G-Dur Durchführung und C-Dur Scheinreprise) sowie dem Contredance des letzten Satzes mit derselben retardierenden 6/8 Episode. Doch gleichzeitig reflektiert und ironisiert Beethoven diese Bezüge vor dem Horizont der eigenen Biographie. Die hochfliegenden revolutionären Träume haben sich eben nicht erfüllt. Das heroische Pathos kippt in einen biedermeierlichen Tanz, der Trauermarsch des Helden in ein nostalgisch sehnsüchtiges Begehren, der kriegerische Elan der Hornsignale in ein gemütliches Schlendern.

Das a-moll Quartett op. 132 korrespondiert einmal mehr mit dem Tripel-Konzert, insbesondere im Marsch-Gestus des ersten Satzes (der in der Durchführung das Thema des Tripel-Konzertes zitiert). Dass es nicht in C-Dur sondern a-moll steht, ist kein Wunder, berührt das Scheitern der frühen brüderlichen Ideale vielleicht den wundesten Punkt in Beethovens Biographie. Im „Dankgesang“ offenbart sich einmal mehr Beethovens zwiespältiges Verhältnis zu Gott. Mit dessen fiktivem Choral und der Formulierung „divinita“ („Gottheit“) scheint er nach wie vor ein klares Bekenntnis zum biblischen Gott zu verweigern. Wie in der 9. Sinfonie ruft Beethoven dann auch das selbstzufrieden marschartige Finale mit „nicht diese Töne“ zurück, um in ein fiebrig unruhigen alternatives Finale überzugehen, dessen Thema nicht zufällig an den letzten Satz der Sturm-Sonate erinnert, ist es doch erneut die Prospero-Melancholie des Scheiterns, die hier durchklingt.

Das cis-moll Quartett op. 131 bezieht sich auf das einzige andere Werk in dieser Tonart, die Mondschein-Sonate op. 27/2 und das allerletzte Quartett op. 135 in F-Dur spannt einen Bogen zum allerersten Quartett op. 18/1.

Das eigentlich „finale“ Streichquartett (in dem Sinn wie die 9. Sinfonie die finale Sinfonie ist, auch wenn Beethoven noch Skizzen zu einer 10. Sinfonie machte) ist jedoch das B-Dur Quartett op. 130, das an die Hammerklavier-Sonate op. 106 sowie das Credo der Missa Solemnis anknüpft (wie die Fuge der Hammerklavier-Sonate und die „Et vitam venturi saeculi“-Fuge bewegt sich das Quartett zwischen den Tonart-Sphären B-Dur, Ges-Dur und D-Dur). Der serene Beginn erinnert von ferne an die Phrase „Vater, tief gebeugt und kläglich fleht Dein Sohn hinauf zu Dir“ aus Christus am Ölberge.

Unmissverständlich geht es um die letzten Dinge. Dass er den letzten Satz mit der „Großen Fuge“ nochmal mit einer „Overtura“ eröffnet, signalisiert, dass hier ein letztes großes Schauspiel inszeniert wird. Doch anders als Goethe am Ende des Faust lässt sich Beethoven nicht erlösen und in den Olymp aufsteigen. Seinem prometheischen Selbstverständnis des heroischen Renegaten bleibt er bis zuletzt treu. Der kriegerische Kontext der B-Dur Tonart, mit dem „Laufet Brüder“ aus der 9. Sinfonie und der in das Agnus Die der Missa Solemnis einbrechenden Kriegsmusik, ist offensichtlich. Mit der Fuge stürzt sich Beethoven in ein letztes Gefecht, ohne Rücksicht auf Verluste.

Was an diesem Quartett und der Fuge jedoch merkwürdig ist, ist, dass neben den serenen, heroischen und expressiven Tönen immer wieder eine Scherzo-Ironie (an das Haydnsche Scherzo des B-Dur Quartetts op. 18 erinnernd) und ein transgressiver Übermut (an eine Wendung gegen Ende der C-Dur Fuge aus op. 59/3 erinnernd) durchbricht. Sie sind das heroische Antidot gegen die romantische Selbstergriffenheit, der sich der späte Beethoven umso grimmiger verweigerte, je mehr sie sich am historischen Horizont abzeichnete.

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Eben darin liegt auch, was Beethoven für uns heute so fremdartig macht. Der bürgerliche Idealismus und die Ästhetik der Moderne, die nach den Schrecken des zweiten Weltkrieg nochmal eine Renaissance erlebten (und mit ihm Beethoven), ist im Klima antibürgerlicher Affekte und dem Vormarsch des populären Hedonismus schon lange in der Defensive. Entgegen der wohlfeilen Jubiläums-Rhetorik, warum Beethoven heute noch aktuell ist, wäre es in seinem Fall eigentlich ehrlicher, festzustellen, dass Beethoven dem heutigen Zeitgeist vollkommen entgegensteht. Der Idealismus von Kant und Hegel, Schiller und Hölderlin, Haydn und Beethoven, er befindet sich aktuell im Überwinterungsmodus.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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