Cervantes und Shakespeare

400. Todestag Mit Don Quijote und Sir John Falstaff schufen Miguel de Cervantes und William Shakespeare Protagonisten einer Epoche, in der der Zweifel in die Welt kam

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Cervantes und Shakespeare

Bild: Leon Neal/AFP/Getty Images

Fett und mager - das ist der erste und offensichtlichste Gegensatz, der einem beim Vergleich von Sir John Falstaff und Don Quijote von der Mancha ins Auge springt. Und unabhängig davon, ob diese Figuren nun realen Vorbildern nachgebildet sind oder der Fantasie ihrer Autoren entsprungen waren: in ihnen und ihrer Gestalt manifestierte sich etwas von Geist und Lebensgefühl ihrer Zeit, mit all seinen Euphorien, Träumen, Ängsten und Abgründen.

Mit einem welthistorischen Blick erscheint es offensichtlich, dass sich in der komplementären Ikonographie von zunehmendem Mondbauch und abnehmender Mondsichel, vom "boastful knight" und dem "caballero de la trista figura", eine Verschiebung der globalen Machtverhältnisse abbildet, deren historische Wegscheide jene Seeschlacht im Jahre 1588 vor der englischen Küste war, in der die Spanische Armada der englischen Flotte unterlag.

Spanien war nach der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus 1492 rasch zur Weltmacht aufgestiegen und hatte seinerseits mit der Seeschlacht von Lepanto 1571, die das Ende der Osmanischen Vorherrschaft im Mittelmeer markierte, noch einen späten nationalistischen Höhepunkt erlebt. An der Seeschlacht von Lepanto, einem unsäglichen Gemetzel, hatte auch Miguel de Cervantes teilgenommen. Er wurde schwer verwundet, seine linke Hand blieb verkrüppelt.

Doch wirtschaftlich war Spanien bereits in einer dramatischen Schieflage (einer ähnlichen Verschuldungsspirale wie Amerika heute) und Cervantes, der aus einem Milieu kam, das man heute als Mittelschicht bezeichnen würde, kämpfte Zeit seines Lebens gegen den Abstieg ins Prekariat, was seine Spuren auch bei Don Quijote hinterlassen hat, der sich seine Ritterrüstung aus Schrott selber zusammenbastelt.

Dass dieser Abstieg gleichzeitig mit einer kulturellen Blüte einherging, dem spanischen "siglo de oro", das neben Cervantes eine Fülle von bedeutenden Spanischen Künstlern hervorbrachte, ist nicht ungewöhnlich, ist Kultur doch immer verzögertes Echo der Weltgeschichte. Auch die französische "belle epoque" fiel in eine Zeit, als Frankreich nach dem Krieg von 1870 bereits im Abstieg war.

Umgekehrt schwelgt Sir John Falstaff, wie ganz England in den 1590er Jahren, in der Antizipation des Aufstiegs. Wenn sein Kumpel Hal (der spätere Henry V.) erst mal König sei, dann habe er ausgesorgt. So ist denn auch Hal für die Dynamik des Stückes (die Rede ist von "Henry IV, Part I") von entscheidender Bedeutung. Er, den sein Vater eigentlich schon als Tunichtgut abgeschrieben hat, der dann aber zur Verblüffung aller seinen Konkurrenten Hotspurs aus dem Feld schlägt und triumphal die Krone erlangt, repräsentiert symbolisch jenen Moment des Aufstiegs, die Euphorie einer jungen Generation, die jetzt an der Reihe ist. Der Rausch des bevorstehenden Erfolges, der emotional meist größer und mächtiger ist als die Befriedigung über den Erfolg selbst, das ist der Treibstoff, der Falstaff's Übermut in Bewegung setzt.

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Als Miguel de Cervantes damit begann Don Quijote zu schreiben, war er an einem Tiefpunkt angekommen. Noch als Soldat war er in Gefangenschaft geraten und als Sklave nach Algier verschleppt worden. Auch wenn er nach einigen gescheiterten Fluchtversuchen durch eine Lösegeldzahlung wieder frei kam, fiel es ihm schwer danach wieder Fuß zu fassen. Permanent hoch verschuldet, nahm er, nachdem er sich in den 1580er Jahren zunächst erfolglos als Autor von Stücken versucht hatte (in Nachahmung von Lope de Vega, der damit sensationellen Erfolg hatte), diverse Verwaltungsposten an und landete schließlich wegen Veruntreuung 1597 im Gefängnis, wo er mutmaßlich den Roman zu schreiben begann, der dann im Jahre 1605 erschien.

Diese Geburt eines Kunstwerks aus einem Moment der Krise erinnert an Dante's Divina Commedia. Auch Dante war nach der Verbannung aus seiner Heimatstadt Florenz ein gesellschaftlicher Outcast, der alles verloren hatte. Und wie die Divina Commedia enthält auch Don Quijote Elemente von Selbsttherapie und Rachefeldzug.

Doch während Dante noch in der Ordnung eines befestigten christlichen Weltbilds metaphysischen Schutz suchen konnte, wurden Cervantes und Shakespeare in eine Welt des Zweifels hineingeboren. Sie waren Zeitgenossen von Galileo Galilei und Giordano Bruno, die jenes geozentrische ptolemäische Weltbild, auf dem das Christentum Dantes fußte, in Frage stellten. Dieser Zweifel griff von den wissenschaftlichen auf die religiösen und politischen Bereiche über. Wenn die Vorstellung des Kosmos falsch war, waren dann nicht auch alle anderen Ordnungen in Frage zu stellen?

Doch war die Situation in England anders als in Spanien. Durch das von Henry VIII. herbeigeführte Schisma war die Macht der Kirche geschwächt und es waren eher staatliche Organe, die um die öffentliche Ordnung besorgt waren. Spanien dagegen war das Zentrum der heiligen Inquisition wo drakonisch gegen jede Art von Häresie vorgegangen wurde.

Dass das Klima unter Elisabeth I. in England bei allen Repressionen, die es durchaus gab, relativ gesehen viel liberaler war als unter Philip III. in Spanien, lasst sich auch an den Protagonisten Shakespeares und Cervantes' ablesen. Shakespeare konnte es sich leisten einen nihilistischen Anarchisten auf die Bühne zu stellen. Cervantes musste defensivere Strategien wählen. Von einem impotenten, verrückten alten Mann und einem Bauerntölpel war nichts zu befürchten.

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Kein Zweifel, Don Quijote und Sir John Falstaff trafen einen Nerv der Zeit, was sich schon am kommerziellen Erfolg ablesen lässt. Henry IV; Part I war (nach den wenigen objektiven Indizien, die man hat) Shakespeares erfolgreichstes Bühnenstück und auch Don Quijote hatte sofort immensen Erfolg. So viel Erfolg, dass ein fremder Autor einige Jahre später eine Fortsetzung veröffentlichte, was wiederum Cervantes veranlasste selber 1615 einen zweiten Teil nachzuliefern.

Das zündende und erregende, das diese Werke für ihre Zeitgenossen hatte, ist für den heutigen Leser nur noch schwer und mit viel rekonstruktivem Aufwand nachvollziehbar. Humor ist in hohem Maße zeitgebunden. Als eine Ästhetik des Indirekten entsteht ihre Wirkung in Relation und Reaktion zu Zeichen, Ritualen, Ordnungen und Stimmungen, die zur jeweiligen Zeit lebendig sind.

Man kann das auch an Beispielen aus jüngerer Vergangenheit beobachten. Dass etwa der Humor Loriots Jüngeren zunehmend fremd und unverständlich wird, da die bildungsbürgerliche Rituale und Ideale der Nachkriegszeit, die er parodiert, immer mehr in die Ferne rücken.

Gerade jene wohl berühmteste Episode bei Cervantes, wenn Don Quijote gegen die Windmühlen kämpft, verstehen wir eigentlich nur halb, da wir in Windmühlen nur noch alte pittoreske Relikte sehen. Im 16. Jahrhundert waren Windmühlen jedoch moderne Technik und erste Vorboten der Industrialisierung. Müller waren quasi die ersten Fabrikbesitzer und meist sehr wohlhabend.

Der eigentliche komische Effekt besteht weniger darin, dass Don Quijote vergeblich gegen etwas anrennt, was er fälschlicherweise für Riesen hält, sondern dass hier symbolisch alte idealistische Ehrbegriffe von Ritterlichkeit auf einen modernen, davon gänzlich unbeeindruckten technisierten Merkantilismus treffen (interessanter Weise verwendet Heidegger den Begriff des "Riesenhaften" später in durchaus ähnlichem Sinn).

Das zentrale Paradigma, an dem sich die damalige zeitgenössische Komik abarbeitete, war natürlich die ständische Differenz und der Begriff der Ehre, der den ideologischen Kitt dieser gesellschaftlichen Ordnung bildete. Jener Ehr-Begriff, der in der Figur des Don Quijote parodistisch überspitzt wird, wird von Sir John Falstaff in seiner berühmten Rede auf die Ehre frontal attackiert. Und jene Rollenspiele von Falstaff, der zum Spiel die Rolle von Hal und dessen Vater Henry IV. einnimmt, und Sancho Panza, der zum Schein ein paar Tage den regierenden "Gubernator" spielen darf, kratzen subversiv an jener ehernen ständischen Ordnung.

Die jedoch um 1600 noch nicht durchbrochen werden kann. Falstaff wird, als Hal dann tatsächlich König wird, rüde abserviert und auch Sancho Panza, der sich als Gubernator gar nicht übel macht, wird sanft aber bestimmt wieder an seinen angestammten Platz gestellt.

Dass übrigens Don Quijote in der Zeit der Aufklärung und der Romantik von Lessing, Goethe, Schiller, Schleger und Tieck (von dem auch eine lange Zeit maßgebliche Übersetzung stammt) bis hin zu Heinrich Heine als komischen Buch begeistert gelesen wurde, hängt sicher nicht zuletzt damit zusammen, dass eben zu dieser Zeit die Infragestellung der ständischen Ordnung wieder ganz oben auf der Tagesordnung stand.

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Wo für den heutigen Leser des Don Quijote das humoristische kaum noch verfängt, treten die hintergründigen Perspektiven umso mehr in den Vordergrund. Unter der Oberfläche der drastischen Komödie, die vor allem auf die sadistischen Bedürfnissen der Masse abzielte, die damals zu Bestrafungen und Hinrichtungen wie zu Volksfesten pilgerte wie sie sich heute an der medialen Erniedrigung von Menschen erfreut, gibt es zusätzliche untergründige Tonspuren, die mit allegorischen und symbolischen Bedeutungen aufgeladen sind.

Dazu muss man sich zunächst die verschachtelte Erzählkonstruktion des Don Quijote bewusst machen. Die Geschichten von Don Quijote und Sancha Panza werden von einem Araber namens Cide Hamete Belengeli nach Hörensagen aufgeschrieben, dann von einem bezahlten Übersetzer ins Spanische übersetzt und dann wiederum von einem spanischen Erzähler an Hand der Übersetzung nacherzählt.

Dahinter verbirgt sich eine Verschleierungstaktik, die nicht nur zu ironischen Brechungen der Erzählperspektive dient und das kritische Auge der Zensoren verwirren soll. Im Grunde dreht Cervantes jeden Leser mehrmals um die eigene Achse, so dass er die Orientierung verliert.

Je mehr man sich in diesem langen Roman verliert und Don Quijote auf dem Ritt durch die Mancha von der Seite beobachtet, fragt man sich immer mehr: ist der Mann jetzt verrückt oder gibt er es nur vor. Anders als in Hamlet, wo der Zuschauer genau weiß, dass Hamlet die Verrücktheit nur aufsetzt, bleibt es bei Don Quijote immer offen, was sich in der vermeintlichen Genesung am Ende zur grundsätzlichen metaphysischen Frage zuspitzt.

Daher muss man sich auch hüten, irgendetwas in Don Quijote als das zu nehmen, als das es erscheint. Die verwickelte Erzählkonstruktion ist gewissermaßen ein geheimes Zeichen an den verständigen Leser, dass das, was er liest, die Travestie einer Travestie ist. Gerade jener Hauptvorsatz, gegen die schädliche Mode der Ritterromane anzuschreiben, ist wohl eine Finte. Auch Thomas Mann wunderte sich, dass sich Don Quijote eigentlich viel zu sehr selbst der ästhetischen Mittel des Ritterromans bedient um als deren Kritik durchzugehen. Ähnlich wie Loriots humoristische Parodien der bürgerlichen Rituale hat auch Cervantes Parodie der Ritterromane in Wahrheit etwas affirmatives und bejahendes.

Tatsächlich markiert Don Quijote auch nicht das Ende des Ritterromans. Ganz im Gegenteil blieben die Stoffe der Ritterromane vor allem für das um jene Zeit aufkommende neue Genre der Oper bis ins späte 18. Jahrhundert zentraler Bestandteil, es gibt unzählige Opern um die Ritterhelden Amadis (Amadigi), Orlando (Roland) und Rinaldo (Renaud).

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Im zweiten Teil des Don Quijote fügt Cervantes noch eine weitere parodistische Ebene hinzu. Denn zu Beginn erfahren Don Quijote und Sancho Panza, dass es ein Buch gibt, das von ihren Abenteuern erzählt. Und so werden sie auf ihren folgenden Abenteuern plötzlich wiedererkannt und als berühmte Figuren gefeiert.

Nicht nur diese erzählerische Prämisse unterscheidet den zweiten Teil signifikant vom ersten. Auch der Sancho Panza des zweiten Teils ist im Grunde eine andere Figur, viel redseliger und aktiver als der des ersten Teils. Gewiss ist der zweite Teil noch eine ganze Dimension raffinierter in seinen parodistischen Spiegelungen, doch verhält er sich antiklimaktisch zum ersten Teil. War der erste Teil die Erzählung einer Illusionierung, ist der zweite der einer Desillusionierung.

Vor allem aus diesem Grund erscheint einem der erste Teil auch sympathischer. Don Quijotes Aufbruch hat bei aller Lächerlichkeit eine anarchisch utopische Kraft und sein unerschütterlicher Selbstbehauptungswille - und er wird gerade im ersten Teil tatsächlich unentwegt geschunden und verdroschen - flößt einem im Laufe der Zeit eine merkwürdige tiefe Zuneigung ein. Auch Sancho Panzas Anhänglichkeit, die etwas von der Kreatürlichkeit eines treuen Hund hat, berührt einen mehr als die mutternwitzige Eloquenz des Sancho im zweiten Teil.

Der erste Teil endet denn auch in einer an Dantes Commedia angelehnten Apotheose eines glücklichen Endes. Auf völlig unwahrscheinliche Weise treffen die Protagonisten aus verschiedenen Erzählsträngen zusammen und alle Konflikte und Abenteuer lösen sich in Wohlgefallen auf. Und auch wenn Don Quijote am Ende im Käfig in sein Dorf zurückgebracht wird, auf hintergründige Weise ist er als Held und chaotische Schöpfer aller dieser schönen Illusionen gerade in diesem Moment auf dem Höhepunkt seiner idealistischen Selbsttäuschung.

Was dem zweiten Teil diese desillusionierende bittere Note gibt, ist, dass Don Quijote, der im ersten Teil bei aller absurden Verstiegenheit sein eigener Herr war, jetzt, wo jeder ihn als jenen verrückten Ritter wiedererkennt und alles nur noch Inszenierung ist, zu einem passiven Spielball wird.

Symbolisch ist der Wendepunkt jene Szene mit den Löwen im Käfig, die eine weitere Anspielung zu Dante enthält. Dante begegnet am Beginn der Commedia einem Löwen, der Symbol seinen eigenen Stolzes ist. Dass nun der Löwe im Käfig nicht gegen Don Quijote kämpfen will und sich Don Quijote zum Sieger erklärt und sich fortan nicht mehr "Ritter von der traurigen Gestalt" sondern "Ritter von den Löwen" nennt, hat einen psychologisch tiefgründigen Hintersinn, ist wie ein symbolischer Verrat an den eigenen Idealen.

Cervantes lässt gewissermaßen auf das Paradiso das Inferno folgen. Was unter der Oberfläche von fortlaufenden Possen und Späßen daraufhin betrieben wird, ist eine seltsame Mischung aus einem Kreuzweg der Desillusionierung und einem Rachefeldzug, der alles in Frage stellt. So werden Herzog und Herzogin, die zu Beginn noch ganz sympathisch erscheinen, mit subtilen Andeutungen allmählich als korrupt und moralisch verrottet entlarvt und am Ende scheint Cervantes selbst vor Blasphemien nicht zurückzuschrecken. Wenn Sancho Panza gegen Ende des zweiten Teils zum Schein Altisidora, die angeblich aus Gram über die unerwiederte Liebe von Don Quijote gestorben ist, durch sein Leiden (er wird von der Dienerschaft mit Hieben und Nadelstichen traktiert) von den Toten auferstehen lässt, scheint dahinter parodistisch verstohlen eine christliche Ikonographie durch.

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Dass man auf Don Quijotes Fahrten immer wieder in Szenarien hineinstolpert, die einem aus Shakespeares Stücken merkwürdig vertraut vorkommen, sollte einen nicht wundern, schöpften beide doch zu großen Teilen aus demselben Reservoir aus italienischer Novellistik und Romanzenliteratur.

Das Schäferszenario im Wald nach den ersten Abenteuern kennt man aus As you like it (Wie es euch gefällt), die Geschichte von Cardenio und Fernando erinnert stark an The Two Gentlemen of Verona (Zwei Herren aus Verona) und die kurze Episode von Claudia und Don Vincente gegen Ende des zweiten Teils ist eine seltsame Mischung aus Romeo and Juliet und Othello.

Während England für Cervantes ein ferner Planet war, tauchen spanische Elemente in Shakespeares Stücken an einigen Stellen auf, und zwar dort, wo es auf Grund der historisch politischen Landkarte auch zu erwarten ist. Mit Mailand, Neapel und Messina standen drei wichtige italienische Städte zu Shakespeares Zeit unter Spanischer Herrschaft und als bedeutendste Europäische Seemacht war auch die Präsenz von Spaniern in Venedig, der wichtigsten Hafenstadt der Welt, naheliegend.

So sind in Much ado about nothing (Viel Lärm um nichts), das in Messina spielt, mit Don Pedro und Don John zwei spanische Protagonisten mit von der Partie. Hinter Don John scheint die historische Figur von Don Juan de Austria durch, der wie Cervantes an der Schlacht von Lepanto teilgenommen hatte. Die Neapolitaner aus The Tempest (Der Sturm) Alonso, Gonzalo und Ferdinand (Fernando) tragen ebenso einschlägige spanische Namen wie Rodrigo, Cassio und Jago im Venedig von Othello.

Othello ist in diesem historischen Kontext übrigens als nordafrikanischer Maure zu identifizieren, was zu einem paradoxen Missverständnis führt, da wir Othello heute als Schwarzen mit der amerikanischen Kolonialgeschichte assoziieren. Tatsächlich waren die Mauren damals nicht die Versklavten sondern die Versklaver, was Cervantes an eigener Haut erleben musste.

In gewisser Weise ist, in historisch symbolische Entsprechung der beiden Seeschlachten von 1571 und 1588, das Maurische für Cervantes das, was für Shakespeare das Spanische ist. Und zieht man die Summe, scheint es offensichtlich, dass jene feindlichen spanischen und maurischen Elemente vor allem mit den dämonisierten Gegenspielern assoziiert werden, denen allerdings gleichzeitig auch eine gefährliche Faszination und dunkle Attraktivität beigemischt ist.

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Was Cervantes und Shakespeare eint, ist jenes neue Bewusstsein um das Illusionäre der Welt nachdem das christlich scholastische Weltbild, das mit dem ptolemäischen Kosmos eng verwoben war, durch die kopernikanische Wende als Inszenierung entlarvt wurde. Shakespeares berühmte Zeile "the world is but a stage and we are merely players" ist denn auch tatsächlich als Quintessenz dieser neuen Weltwahrnehmung zu verstehen.

Don Quijote und Falstaff ziehen die logische Konsequenz dieser Erkenntnis, wenn auch vielleicht in einer schockbedingten Überreaktion: wenn die Welt nur Illusion ist, was hält mich dann davon ab, mir die Welt nach meinen eigenen Vorstellungen neu zu erschaffen?

Kunst war schon immer Gegenwelt, ein eskapistisches oder reflektives Versuchslabor von Gefühlen und Gedanken, eine halb geträumte Parallelwelt. Bei Cervantes und Shakespeare werden die Trennlinien plötzlich sichtbar. Die Gegenwelt ist nur noch im Kopf von Don Quijote und Falstaff, außerhalb herrscht gnadenlose Realität.

Der große Paradigmenwechsel der kopernikanischen Wende, der Wechsel von einer subjektiven zu einer objektiven Weltwahrnehmung, schlägt hier durch. Bei Shakespeare wird das Theater - gerade in den so zahlreichen Spiel-im-Spiel Szenen, die es bei Shakespeare in Fülle gibt - zur ultimativen Metapher des von-außen-auf-sich-selbst-Blickens.

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Trotz dieser gemeinsamen Erkenntnisgrundlage, ist das Weltgefühl von Cervantes und Shakespeare völlig gegensätzlich. Der eingangs erwähnte Gegensatz von Falstaffs Fettleibigkeit und Don Quijotes Magerkeit hat noch weitere, psychologische und habituelle Komponenten.

So bedingen die körperlichen Schwerkraftverhältnisse den unterschiedlichen Drang nach Mobilität. Während Don Quijote von Fernweh geplagt das Aberteuer, die Konfrontation und den Kampf sucht, hasst Falstaff die Bewegung, ist eigentlich nur in seinem sicheren Hafen Eastcheap in seinem Element und auf dem Schlachtfeld stellt er sich lieber tot.

Die Weltwahrnehmung Cervantes' ist die eines Außenseiters, der mit dem Mut der Verzweiflung gegen das gewaltige dunkle Phantom des Nihilismus ankämpft. Nicht umsonst ist die Lanze Don Quijotes bevorzugte Waffe, ist in ihrem Kampfmodus das Anrennen bereits impliziert. Und Cervantes hatte genug Gründe, verzweifelt zu sein. Alt, verkrüppelt, verschuldet, von Staat und Kirche geächtet und wahrscheinlich - die Schlaflosigkeit und Impotenz Don Quijotes deuten das an - an Symptomen eines posttraumatischen Stresssyndroms leidend. Jene bösen Zauberer, die Dulcinea verzaubert haben und Don Quijotes glorreiche Rittertaten vereiteln, sind die antagonistischen Widersacher, die Cervantes kreativen Widerstandsgeist am Leben halten.

Bezeichnender Weise ist Prospero bei Shakespeare selbst der Zauberer. Und Falstaffs Überlebensstrategie liegt nicht im Angriff sondern in der Verteidigung. Er lässt alle Kränkungen und Beleidigungen an seinem Bauch wie an einer undurchdringbaren Rüstung einfach abperlen.

Wie so viele andere Figuren in Shakespeares Kosmos kreist Falstaff vollkommen um sich selbst. In seiner Kugelhaftigkeit drückt sich nicht zuletzt eine fast kleinkindhafte narzisstische Selbstbezogenheit aus. Miss Quickly spielt eine merkwürdige Doppelrolle aus Wirtin und Kindermädchen. Sein Amoralismus hat denn auch etwas präpubertäres. Frei von schlechtem Gewissen, weil er die Regeln der Moral noch gar nicht zu kennen scheint. Auch seine Schlagfertigkeit und reaktive Intelligenz zeugen von einem Bewusstsein, das nie durch den Sündenfall und den Selbstzweifel der Pubertät gegangen ist, das keine grüblerische Reflektion und keine "second thoughts" kennt.

Die Signifikanz der Figur besteht in ihrem anarchischen und destruktiven Potenzial. Was Montaigne in seinen zivilisationskritischen Essays formuliert, bringt Shakespeare mit dem radikalen Vitalismus Falstaffs als Experiment auf die Bühne. Falstaff ist gewissermaßen der Stresstest dafür, wie belastungsfähig die Relikte der alten Weltordnung noch sind.

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Man erschrickt zunächst ein wenig, wenn Friedrich Nietzsche den Moment, in dem Don Quijote am Ende des Romans aus dem Schlaf erwacht und feststellt, dass er von seinem Wahn genesen ist, mit dem Ausruf von Jesus Christus am Kreuz "Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen" vergleicht.

Doch verfügte Nietzsche nicht nur über eine gewisse Expertise in Sachen Verrücktheit, er hatte auch den hellsichtigen Blick des Propheten, der durch die zivilisatorischen und modischen Hüllen hindurch auf die nackten existentiellen Befindlichkeiten blickte. Er spürte bei Cervantes eben jenen Schrecken vor dem nihilistischen Abgrund, den er selbst nur zu gut kannte.

Interessanter Weise geschieht am Ende von "The Tempest" etwas ähnliches wenn Prospero der Zauberkünste entsagt und das Spiel der Illusionen beendet. Auch er bricht, obwohl nach dem guten Ende der Geschichte dazu überhaupt kein Anlass besteht, in Verzweiflung aus: "And my ending is despair unless I be relieved in prayer".

Vor dem Abgrund der Endlichkeit konnte sie auch die Kunst nicht retten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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