Chaos und Katastrophe

Opern Kritik Zu Dimitri Schostakowitschs Oper „Lady Macbeth von Mzensk“, die in einer aktuellen Neuinszenierung von Harry Kupfer zurzeit in München zu sehen ist.

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Es ist schon kurios, zu welch sonderbaren Ergebnissen der Herdentrieb der politischen Korrektheit führen kann. Die einhellige Sympathie, die jener Katarina Izmailova, besagter Lady Macbeth von Mzensk, die zunächst Ihren Schwiegervater, dann ihren Ehemann, ihren Neffen und schließlich ihre Nebenbuhlerin ermordet, inzwischen entgegengebracht wird, ist erstaunlich.

Stalins Verurteilung der Oper führt nach heutigen Parametern zur moralischen Formel: Stalin böse - Oper gut, Frauenemanzipation gut - Katarina Izmailova gut. Dabei wird Katarina, die, gewiss nicht aus Liebe, einen reichen Kaufmann geheiratet hat, gar nicht mal schlecht von ihrem Mann behandelt, der ohnehin meist geschäftlich unterwegs ist. Vielmehr kann sie mit ihrer Freiheit nichts anfangen und langweilt sich zu Tode.

Wenn nun Harry Kupfer im Stoff- und Lüster-behängtem Münchener Nationaltheater in klassenkämpferischer Attitüde sentimentale Allianzen eingeht mit den gelangweilten und sexuell frustrierten Industriellengattinnen im Parkett, kratzt man sich schon ein wenig am Kopf.

Nicht, dass eine Frau wie Katarina Izmailova nicht auf die Opernbühne gehört – ganz im Gegenteil, die Beschäftigung mit menschlichen Sehnsüchten und Abgründen gehörte schon immer zu den zentralen Motivationen von künstlerischer Auseinandersetzung. Was jedoch fatal ist, ist die Vermischung von Kunst und Politik, von ästhetischen und ideologischen Perspektiven. Die Geschichte der Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ steht geradezu exemplarisch für diese schlimme und verhängnisvolle Mesalliance.

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Nikolai Leskows Erzählung von 1866, auf der die Oper beruht, ist ein Produkt des späten zaristischen Russland mit seinen gewaltigen sozialen und ökonomischen Umwälzungen. Motivische Ähnlichkeiten mit Tolstois „Anna Karenina“ und „Auferstehung“ sowie Dostojewskis „Dämon“ und „Brüder Karamasow“ sind unübersehbar. Wie Tolstoi und Dostojewski ist auch Leskow einem mittleren bürgerlich-adeligen Milieu zuzuordnen und entsprechend ist auch seine Perspektive. Er ist durchaus fasziniert von der psychologischen Dynamik, die er bei der Verbrecherin Katarina beobachtet, doch ebenso wie Dostojewski und Tolstoi lässt er keinen Zweifel, dass ihre Taten moralisch zu verurteilen sind.

Als Dimitri Schostakowitsch zusammen mit Alexander Preis den Stoff für ein Libretto adaptierte, hatte sich die Welt weiter gedreht. In Russland hat es die proletarische Revolution gegeben und Schostakowitsch (1906 geboren) war genau im richtigen Alter, um diese Revolution als die seine wahrzunehmen. So identifizierte er sich, wie viele Künstler seiner Generation, zunächst durchaus mit den Ideen jener proletarischen Revolution. Ja war euphorisch ergriffen von der Aussicht auf eine neue Weltordnung, an dessen Gestaltung er teilhaben konnte.

Tatsächlich wurde die Oper, zu einer Zeit als „reaktionäre“ Opern bereits verboten wurden, zunächst als Meisterwerk eines neuen proletarischen Bewusstseins gefeiert. Jener Schock durch den Prawda Artikel „Chaos statt Musik“ traf Schostakowitsch völlig unvermittelt auch deswegen, da er sich politisch eigentlich auf der richtigen Seite wähnte.

Schostakowitsch und Preis hatten Leskows Geschichte im Grunde auf den Kopf gestellt. Zwar trägt Katarinas Schwiegervater Boris auch bei Leskow Learsche Züge eines herrischen Patriarchen, der auch im Alter nicht davon lassen kann, andere Menschen herum zu dirigieren, und schon bei Leskow begehrt er insgeheim seine Schwiegertochter. Doch werden die negativen Züge der bürgerlichen Kaufmänner bei Schostakowitsch heftig überzeichnet und zaristische Polizei und Kirche so karikiert (was bei Leskow nicht vorkommt), dass die Auflösung der bürgerlichen Ordnung durch das unterdrückte und frustrierte Proletariat als notwendige und befreiende Konsequenz suggeriert wird.

Man muss Schostakowitsch wohl seine Jugend zugutehalten, er war erst Mitte 20 als er die Oper komponierte, doch durch jene Züge von Selbstgerechtigkeit, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, und dem Übermut mit demagogischen Ressentiments von Enthemmung zu spielen, hat sich Schostakowitsch selbst in die politische Arena begeben. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte er damit die Begleitmusik zu jenem bolschewistischen Terror geschrieben, der sich bald auch gegen ihn selber richten würde.

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Wenn es etwas Proletarisches an dieser Oper gibt, dann ist es das Thema der Sexualität. War der Intellekt der Fetisch der bürgerlichen Epoche, ist der Körper der der Proletarischen. Gerade im Rückblick lässt sich das an vielen Dingen ablesen. An der überragenden Bedeutung des Sports, an der untergründigen Sexualisierung der medialen Bildsprache, an der zentralen Rolle, die Sex in nahezu allen Formen der Populärmusik zwischen Jazz und Hip Hop spielt (auch Adornos Ablehnung des Jazz hat vor allem damit zu tun, dass er jenen antiintellektuellen Paradigmenwechsel dahinter intuitiv erkannte).

Jene Szene im ersten Akt, als die Köchin von den Arbeitern, vornedran der neu eingestellte Arbeiter Sergei, sexuell belästigt wird, ist denn auch eine Schlüsselszene. Es ist gewissermaßen ein Schaulaufen Sergeis als Obermacker. Hatten die romantischen Helden noch ihren idealistischen Heldenmut zur Schau gestellt, geht es jetzt darum, wer, metaphorisch gesprochen, am meisten in der Hose hat. Und als Katarina ihn dann auch noch zum Ringkampf herausfordert, ist das nicht nur ein narzisstischer Akt von Erwählung, sondern auch als ob sich Katarina selbst von der physischen Robustheit Sergeis überzeugen wolle.

Die Beziehung von Katerina und Sergei ist dennoch kein Fall von sexueller Hörigkeit, wie so oft behauptet. Katerina ist nicht die Komplizin Sergeis sondern umgekehrt, Katerina ist der initiative Part bei allen Morden. Leskow hat den Titel seiner Erzählung völlig zu Recht gewählt. Katerina ist eben keine proletarische Anna Karenina, die nach emotionaler Erfüllung sucht, sondern ein Machtmensch, der in Sergei ein Instrument zur Erfüllung ihrer narzisstischen Machtfantasien sieht. Ist für Shakespeares Lady Macbeth der dynastische Ehrgeiz ihres Mannes das Mittel, das ihr zum Aufstieg behilflich ist, ist es für Katarina die physische Kraft und der sexuelle Hunger Sergeis, die sie zum Machterhalt nutzt. Nicht nur um die Ermordung ihres Mannes zu vollenden, sondern auch um nach dem Verschwinden der beiden Hausherren, die Ordnung im Haushalt aufrecht zu erhalten.

Es gibt einige Bemerkungen Schostakowitschs, in denen er seine Sympathie für Katerina zum Ausdruck bringt. Was Katarina für Schostakowitsch, und gewiss auch für viele Zeitgenossen, die die Oper feierten, bedeutete, war die Aussicht auf eine uneingeschränkte Selbstverwirklichung ohne die Fesseln bürgerlicher Moral, für die das Ausleben von Sexualität gewissermaßen symbolisch stand.

Dass er in Katarina jedoch eben jenen malignen Narzissmus, der alles, was der Selbstverwirklichung im Wege steht, völlig skrupellos auslöscht, idealisierte, der auch das narzisstische Monster Stalin kennzeichnete, gehört zu den schaurigen Pointen dieser konfusen Zeit.

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Schostakowitsch mag sich selber als jenen virilen Sergei gesehen haben, der mit blendender handwerklicher Brillanz auf den Putz haut und einen Orgasmus musikalisch illustriert. Doch Stalin sah in Schostakowitsch paradoxer Weise keinen Sergei sondern einen Kaufmann Sinowi (Katarinas Ehemann). Denn das zentrale Verdikt von „Chaos und Musik“ ist das vom „kleinbürgerlichen Formalismus“.

Eben in diesem Missverständnis offenbart sich das monumentale Dilemma, das über der Epoche lag. Die Gleichschaltung von Politik und Ästhetik führte zu grotesken Zwängen, die furchtbares Unheil stifteten, weil die Widersprüche zwangsläufig zum Chaos führen mussten. Und wo das Chaos ist, folgt der Terror auf dem Fuße.

Unaufrichtigkeit war auf allen Seiten. Bei Stalin, der die Überwindung des Zarentums feierte, um sich selbst als noch mächtigeren Diktator zu installieren. Und bei vielen Künstlern, die gegen bürgerliche Moral und Kapitalismus polemisierten und über eine neue proletarische Weltordnung philosophierten, doch gleichzeitig wollten, dass ästhetisch und institutionell alles bei alten bleibt.

Denn nüchtern betrachtet hatte Stalin ja leider Recht damit, dass der ästhetische Modernismus, als dessen russische Speerspitze sich Schostakowitsch durchaus zu Recht betrachtete, ein spätbürgerliches Phänomen war, das mit einer antiintellektuellen proletarischen Doktrin nicht vereinbar war.

Stalins Kulturpolitik mag rein machtpolitisch motivierte Propaganda gewesen sein und die Forderung nach einer Simplifizierung der Ästhetik künstlerisch naiv. Doch war es ebenso naiv von Schostakowitsch und seinen Kollegen zu glauben, das Proletariat habe nur darauf gewartet, intellektuell auf den aktuellen Stand der internationalen musikalischen Avantgarde gebracht zu werden.

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Denn natürlich orientierte sich Schostakowitsch an dem, was gerade im kapitalistischen Westen en vogue war. Es ist vollkommen offensichtlich, dass „Lady Macbeth von Mzensk“ modisch im Kontext von Opern wie Bergs „Wozzeck“, Kreneks „Johnny spielt auf“ und Weills „Dreigroschenoper“ steht.

Das Interesse am Prekariat, das sich in diesen Opern zeigt, ist nur das soziale Element einer grundsätzlichen Neigung zur Transgression, die sich in der Ästhetik nach dem ersten Weltkrieg abzeichnete. Hatte sich der Modernismus vor dem ersten Weltkrieg noch durch eine Steigerung innerhalb von ästhetischen Systemen und als fest eingebunden in soziale Milieus gezeigt, kommt es nun zu Grenzüberschreitungen nach allen Richtungen. Sowohl soziale als auch ästhetische Barrieren werden aufgeweicht wie etwa der Einbruch der populärmusikalischer Elemente in die Kunstmusik zeigt. Selbst der Neoklassizismus ist aus dieser Perspektive kein reaktionäres Phänomen, sondern ein transgressives Vermischen von historisch und modern.

Die Künstler dieser Zeit spürten durchaus jenen Paradigmenwechsel, das Aufkommen einer proletarischen Massenkultur, für die zunächst Jazz und Kino exemplarisch standen. Doch die Art, mit der diese Elemente in die Kunst Eingang fanden, war eben doch paternalistisch. Auf dem Bühne und im Roman waren proletarische Figuren vor allem Exempel für marxistische Diskurse oder für sentimentalem Elendstourismus. In der Musik wird der Jazz immer mit ironischer Verfremdung auf Distanz gehalten. „Chaos und Musik“ zielt genau auf jene anti-paternalistischen Reflexe.

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Musikalisch kommt der stärkste Einfluss jedoch von Sergej Prokofjew, der eine Generation älter und für den jungen Schostakowitsch, mehr noch als Strawinsky, ein Rollenmodell war. Namentlich die grotesken Elemente aus „Die Liebe zu den drei Orangen“ und die morbiden und kataklystischen Elemente aus „Der Spieler“ (nach Dostojewski) sind musikalisch deutlich in „Lady Macbeth“ nachvollziehbar.

Das Paradox ist, dass Prokofiew mit diesen Opern, die er im Westen geschrieben hatte, nur Achtungserfolge hatte, während Schostakowitschs „Lady Macbeth“ sofort international Aufsehen erregte und an vielen Orten in Europa und den USA nachgespielt wurde. Schostakowitsch, der der intellektuellere von beiden war, war zu dieser Zeit mehr auf der Höhe der avantgardistischen Moderne als Prokofiev, der vor dem ersten Weltkrieg zwar als russischer Wilder Aufsehen erregt hatte, dem es jedoch an einer gewissen intellektuellen Abgebrühtheit fehlte, um im Klima der europäischen decadence immer à la mode zu bleiben. Prokofiev spürte das selber und kehrte Mitte der 30er Jahre nach Russland zurück, in der trügerischen Hoffnung dort eher zu reüssieren.

So unterschiedlich sie in Temperament und Charakter waren, beide waren Junge Wilde, die mit Verve die musikalische Bühne betraten und aufmischten. Und doch gerade damit, wie so viele vor ihnen, im Grunde der regulären Dynamik von bürgerlicher Selbsterneuerung entsprachen. Denn natürlich stiegen sie in späteren Jahren selber zu etablierten und einflussreichen Figuren des Musikbetriebs auf, und schrieben weiter für ein intellektuelles Publikum unermüdlich Sinfonien, Sonaten und Streichquartette.

Doch damit blieben sie damit auch weiter Opfer des Chaos der sowjetischen Kulturpolitik und der narzisstischen Volatilität Stalins. Mal war man stolz auf ihren Erfolg und ihr Ansehen im Westen, ließ sie Huldigungskantaten schreiben und verlieh ihnen Preise. Doch dann wurden sie wieder als formalistische Avantgardisten desavouiert und schikaniert.

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Ohne Zweifel ist „Lady Macbeth von Mzensk“ (in einer revidierten Version aus den 60er Jahren heißt sie „Katarina Izmailova“) ein Geniestreich. Eines jener Werke, in denen sich individuelle künstlerische Entwicklung und neue ästhetische Strömungen gegenseitig befruchten, in denen die ersten Erfahrungen eines jungen Lebens in einer überindividuellen Resonanz als kulturell identitätsstiftend nachklingen.

Vieles, was im späteren Werk von Schostakowitsch von Bedeutung sein wird, taucht hier zum ersten Mal auf. Allem voran eine harte objektivierende Distanz, die die ersten vier Sinfonien noch nicht haben, die aber für Schostakowitschs spätere Werke zu einer zentralen Prämisse wird. Denn die Vorgänge um Lady Macbeth haben ihn ja nicht aus der politischen Arena ausgeschlossen sondern ganz im Gegenteil erst recht hineingezogen.

Er fühlte sich danach unter permanenter Beobachtung, soll Jahre lang aus Angst vor einer Verhaftung in Kleidern und mit gepacktem Koffer geschlafen haben. Hatte die zynische Distanz in Lady Macbeth noch etwas frivol ästhetisierenden, wird sie in der Folge zu einem Instrument der ironischen Distanzierung und Subversion. Und gerade dadurch gewinnt Schostakowitsch späteres Werk sein völlig unverwechselbares Gepräge.

Unverkennbar ist Lady Macbeth von einem, für Frühwerke typischen musikalischen Eklektizismus geprägt. Die Passacaglia ist eine Referenz an Wozzeck, zur Kennzeichnung bürgerlicher Dekadenz wird Richard Strauss immer wieder parodiert, selbst Mussorgsky und Puccini klingen an. Allerdings ist Schostakowitsch bereits souverän genug, alles kompositorisch in die eigene Sprache zu amalgamieren.

Das entscheidende Merkmal der Oper ist jedoch ganz gewiss die jugendliche Energie, die, verstärkt durch eine beeindruckende handwerkliche Brillanz, großen Eindruck macht. Besonders die Orchestrierung, die das Raffinement von Strawinsky und Ravel einerseits adaptiert und doch durch grelle Kontraste überspitzt und konterkariert, ist höchst bemerkenswert.

Zu dieser Ästhetik der Forcierung gehört auch die kolportagehafte Dramaturgie, die gerade in ihrer Überdeutlichkeit und jugendlichen Apodiktik gezielt die vitalistischen und transgressiven Empfindungen anspricht.

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Doch sind es auch jene Elemente der Kolportage und des „Zeitstück“-haften, die sich in der historischen Distanz als Schwäche erweisen. Dem Stück geht es ähnlich wie Beethovens „Fidelio“, der nur in der völligen ideologischen Identifikation auch ästhetisch funktioniert, jedoch in einer ideologisch rekallibrierten Welt nicht mehr zu funktionieren scheint.

Man muss eigentlich froh sein, dass das Dogma von der politischen Relevanz von Kunst heute nur noch eine Marketing Phrase ist. Bei der völligen intellektuellen Konfusion, die einem heute meist auf Opernbühnen begegnet, müsste einem sonst angst und bange werden.

Denn natürlich hat sich die Welt in den letzten 70 Jahren weiter gedreht. Die kapitalistischen Eliten sind heute nicht mehr bürgerlich geprägt sondern haben längst die proletarische Kultur adaptiert. Die Hedgefonds Manager und Silicon Valley Mogule gehen heute schwerlich noch in die Oper sondern fahren Autorennen oder feiern Sexparties in exotischen Locations. Wenn sie überhaupt noch verheiratet sind, wechseln sie Ehegattinen nach Verfallsdatum.

Wenn Harry Kupfer nostalgisch immer noch die antibürgerlichen Reflexe bedient wirkt das wie von vorgestern. Die sexuelle Übergriffigkeit der Arbeiter mag den einen oder anderen an die Kölner Silvesternacht erinnert haben, doch die wahren aktuellen Demarkationslinien der Macht verlaufen inzwischen an anderer Stelle. Die tatsächlichen Analogien wären die sexuellen Übergriffe von Bill Cosby und Donald Trump.

Und Melania Trump wäre die aktuelle Katarina. Jene Heuchlerin, die in den Bachelor shows ohne die geringste Scham Liebe vorheuchelt, um sich einen Millionär zu angeln, und die dann, wie ihre Vorgängerinnen ihren Mann bluten lassen wird, sobald er sich wie Sergei einer anderen zuwenden wird. Wie schon eingangs erwähnt ist denn auch diese seltsame Sympathie für Katarina zwar verständlich, jeder träumt insgeheim von Macht und Geld, doch in ihrer moralischen Idealisierung auf eine abstruse Weise verquer. Wie hier die Reflexe gegenüber der Opferrolle einer missbrauchten Frau für die eigene soziale Ambition instrumentalisiert werden, erinnert an den aktuellen Fall Gina-Lisa Lohfink.

Beklagenswert ist auch die banale Überdeutlichkeit, die einem vom Regietheater permanent geboten wird. War die Szene mit der Köchin bei Leskow eine frivole Anzüglichkeit, bei Schostakowitsch ein Fall von sexueller Belästigung, so muss es heute immer eine explizite Vergewaltigung sein, ohne dass es dramaturgisch wirklich Sinn machen würde. Und muss Boris Katarina wirklich permanent mit seinem Gehstock befummeln, damit wir kapieren, dass er sie sexuell begehrt.

Glaubt heute wirklich noch jemand, dass man sich bei einer Karikatur der Polizei auf die Schenkel klopft. Auch da hat sich die Welt weiter gedreht und alleine die Tatort Filme zeigen, dass ironischer Weise unter Polizisten Überreste von den Ideen eines positiven bürgerlichen Idealismus am stärksten verbreitet sind.

Interessanter Weise bezeichnet die Staatsoper auf ihrer Website „Lady Macbeth“ selbst als eine Art Tatort Krimi. Dahinter verbirgt sich wohl in erster Linie eine Anbiederung an den Mainstream – denn verfolgt man die online Ausgaben der großen deutschen Zeitungen, ist der Tatort inzwischen das Hauptkulturereignis der Deutschen.

Gleichwohl ist diese Verbindung absurd und exemplarisch für die völlige künstlerische Konfusion, die heute in der sogenannten Hochkultur herrscht. Hochkultur ist ein bürgerliches Phänomen und, das hätte schon Dimitri Schostakowitsch wissen müssen, es macht keinen Sinn den eigenen intellektuellen Anspruch zu verleugnen. Inzwischen hat diese Kultur ihr Selbstbewusstsein verloren, biedert sich in die eine Richtung an den populären Mainstream an, in die andere Richtung, mit ihrem völlig äußerlichen Konzertsaal-Wahn, an eine neue elitistische Klientel.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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