Das heilige Monster

Richard Wagner Der 200. Geburtstag des Komponisten ist kein Anlass zu uneingeschränkter Festlichkeit. Zu problematisch bleibt sein Erbe

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Das heilige Monster

Foto: Johannes Simon/Getty Images

Richard Wagner war eine monströse Erscheinung. Monströs war sein egomanischer Narzissmus und die kulturellen und moralischen Verheerungen, die damit einhergingen. Gewisse Traditionen, ein artistisch objektiver Abstand, der den Spiel- und Diskurscharakter von Kunst aufrecht erhält, all das wird von Wagner regelrecht niedergewalzt.

Pikanterien der Harmonik und Instrumentierung, die ein Berlioz, Meyerbeer, Auber oder Gounod wohl dosiert als Würze einsetzten, werden von Wagner mit ungenierter Unverdünntheit ausgereizt. Aus anregenden Substanzen macht Wagner harte Drogen.

In vielen zeitgenössischen Rezensionen und Betrachtungen über Wagners Musik kann man, sowohl unter den Bewunderern als auch bei solchen, die ihn verhöhnten, einen gewissen Schrecken über die Brutalität und exploitative Dreistigkeit, mit der Wagner vorging, heraushören.

Eduard Hanslick, der wohl einflussreichste Kritiker seiner Zeit und gegenüber Wagner viel gerechter als oft kolportiert wird, erkannte vollkommen dessen überragende Bedeutung, bringt gleichzeitig aber geradezu exemplarisch jenes Unbehagen über das Gewaltsame und Hypertrophe bei Wagner zum Ausdruck. Dass diese Gewaltsamkeit eben nicht nur eine Geschmacksverirrung ist, sondern auch eine ästhetische und moralische Desensibilisierung bedeutete, die nicht ohne Folgen bleiben werde.

Auch Nietzsches fast pathologische Obsession für Wagner schöpft sich ganz wesentlich aus diesem grenzverletzenden, gefährlichen Charakter von Wagners Musik. Was in Nietzsches Denken an steigernder Enthemmung, an kreativer Zerstörung vorkommt, ist entscheidend vom Erlebnis Richard Wagner inspiriert.

Im historischem Abstand ist sichtbar, wie sehr Wagner damit auch Kind seiner Zeit war, der beginnenden Industrialisierung und Ökonomisierung. Wagners Werk, mag es sich oberflächlich auch als kapitalismuskritisch gerieren, trägt in seiner gnadenlosen Effektivität und der Ausbeutung aller technischen und ästhetischen Wirkungsmittel selbst das Kainsmal des Kapitalismus.

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Charakterlich erfasst man das Phänomen Wagner am umfassendsten, wenn man ihn von jenem monströsen Narzissmus aus betrachtet. Wagner war, lange bevor es tatsächlich eintrat, von seiner exzeptionellen Bedeutung vollkommen durchdrungen. Seine gigantisch Egomanie, die Rücksichtslosigkeit und sein ausbeuterischer Charakter, doch auch sein Antisemitismus und seine Xenophobie leiten sich aus jenem Narzissmus ab. Der Neid als dessen zentraler Triebkraft ist das Motiv fast Handlungen und Beziehungen Wagners.

So ist sein scheinbarer Antikapitalismus ebenso wenig altruistisch wie sein Antisemitismus rassistisch ist. Beides wird vielmehr aus persönlichen Neid-Impulsen gespeist. Die Vorstellung von Wagner als Sozial Revolutionär ist eine der größten Absurditäten der Wagner Rezeption ist.

Die Revolution von 1848 war für Wagner einzig und alleine dazu da, seine privaten Probleme zu lösen. Wagner war so hoffnungslos verschuldet und seine finanziellen Spielräume als Kapellmeister und Komponist so limitiert, dass ihm die Revolution als einziger Ausweg aus seinem Dilemma erschien.

Er wetterte gegen Eigentum und Besitzstand nicht um der gerechteren Verteilung willen, auch wenn er das in den Parolen natürlich brav mitsang, sondern um seinen gigantischen Schuldenberg loszuwerden und seinen eigenen Kunst- und Theaterträumen unbeschränkte Mittel zuführen zu können. Er selbst konnte ohne Luxus nicht leben und verbrauchte Mittel, die meilenweit über das hinausgingen, was er sich leisten konnte. Als sich mit der Patronage von Ludwig II. eine reaktionär feudalistische und ideologisch diametrale Lösung zu seinem Problem auftat, nahm er sie an ohne auch nur eine Sekunde zu zögern.

Wagner Antisemitismus ist ebenso wenig ideologisch und lässt sich im Grunde an zwei Personen fest machen: Mendelssohn und Meyerbeer. Beide besaßen genau das, was er haben wollte. Kulturpolitisch war Mendelssohn die wichtigste Figur im deutschen Musikleben so wie Meyerbeer der wichtigste Protagonist an der Pariser Oper war, dem damaligen Zentrum der kulturellen Welt. Beide stammten aus schwer reichen Familien und kamen relativ mühelos zu ihrem durchaus verdienten Erfolg. Wären nicht zufälligerweise beide Juden gewesen, Wagner wäre vielleicht nie zum Antisemiten geworden.

Bei Wagners Antisemitismus lässt sich genau jene paradoxe Widersprüchlichkeit wie bei den revolutionären Impulsen beobachten. Waren sie im nützlich, war ihm völlig egal, ob jemand Jude war oder nicht. So nahm er ungeniert das Geld von Thomas Manns Schwiegervater Alfred Pringsheim und vielen anderen Juden und nahm die nützlichen Dienste von Karl Tausig, Joseph Rubinstein oder Hermann Levi in Anspruch.

Das Pamphlet "Das Judentum in der Musik", das sich unübersehbar gegen Mendelssohn und Meyerbeer richtet, ist ein übles Machwerk des Neides. Schrecklich konfus und redselig wie fast alle Schriften Wagners werden hanebüchene Thesen zusammengezimmert, die letztlich nur dazu dienen, in der Herabsetzung dieser Komponisten den eigenen narzisstischen Neidkomplex zu befriedigen.

Besonders das Verhältnis zu Meyerbeer ist dabei brisant, viel brisanter als das zu Mendelssohn, der ihm ästhetisch eigentlich viel zu fern stand, um ihm gefährlich werden zu können. Denn Meyerbeer hat Wagner tatsächlich ästhetisch stärker beeinflusst als jeder andere Komponist, letztendlich viel stärker als etwa Beethoven und Weber.

Bei Meyerbeer findet man jenes Element der technischen Kalkulation, des gezielten Einsatzes von theatralischen, harmonischen und orchestralen Wirkungen, das Wagner später ausbauen und perfektionieren wird, zum ersten Mal in klarer Deutlichkeit. Überhaupt erlebt der Wagner Kenner, wenn er Opern von Meyerbeer hört, permanente dejavus. Wagner hat sich bei Meyerbeer so ungeniert bedient wie sonst vielleicht nur bei Franz Liszt. Er ging mit den Einfällen anderer genauso um wie mit dem Geld anderer, nämlich hemmungslos ausbeuterisch.

Auch Wagners ästhetische Urteile über andere Komponisten sind gänzlich neidgesteuert. So urteilte er über den jungen Brahms noch sehr freundlich, doch als Brahms zu einem bedeutenden Konkurrenten wurde, war es aus mit aller Freundlichkeit und es wurde zu einem regelrechten Ritual im Hause Wagner, über Brahms Werke herzuziehen. Wenn Wagner, wie etwa über die Sinfonischen Dichtungen Liszt, positiv schreibt, kann man sicher sein, dass er diese Werke im Grunde für unbedeutend hielt und in ihnen keine Gefahr für seine eigene Reputation sah.

Am protofaschistischen Charakter Wagners und seines Werkes kann es kaum keinen Zweifel geben, zu überwältigend sind die ideologischen und psychologischen Konvergenzen. Wenn Thomas Mann sagt, dass viel Hitler in Wagner steckt, trifft er voll ins Schwarze, allzu ähnlich sind sie sich in ihrem narzisstisch totalitärem Größenwahn und zerstörerischem Neidkomplex.

Wenn es heute vermehrt Stimmen gibt, die davon sprechen Wagner sei durch den Nationalsozialismus missbraucht worden, so ist das grotesk. Selten war eine ästhetische Strömung mit einer politischen so in Eintracht wie Wagner mit dem Nationalsozialismus, bis hin zur Götterdämmerung im Führerbunker.

Wenn Wagner Apologeten etwas bauernschlau darauf hinweisen, dass es keinerlei Hinweise in der Partitur gebe, dass Figuren wie Mime oder Beckmesser antisemitisch gemeint seien, so haben sie einerseits durchaus recht. Sie könnten ebenso auch Schwulen- oder Zigeunerkarikaturen sein. Jedoch an der Tatsache, dass diese Figuren als minderwertige, nicht dazugehörige Außenseiter gebrandmarkt werden, die eben das begehren, was man selber begehrt, und unter dem Vorwand der Nichtzugehörigkeit oder aus einem ästhetischen Reinheitswahn heraus gesellschaftlich oder physisch vernichtet werden, kann wiederum kein Zweifel bestehen.

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Doch die bitterste Pille kommt erst noch. Denn Wagners Größe und Bedeutung ist nicht etwas, das jenseits oder trotz seines narzisstischen Charakters existiert, sondern hängt unmittelbar damit zusammen.

Es ist leider so, dass Größenwahn, wenn er mit einer spezifischen Begabung zusammentrifft, tatsächlich auch Größe erzeugt. Dass Wagner jedes Ereignis seines Lebens als weltbedeutendes Ereignis wahrnahm ist gewissermaßen die Voraussetzung dafür, dass sein Werk umgekehrt weltbedeutende Ausstrahlung hat.

Alles, was er erlebte und was ihm begegnete, nahm er auf, reflektierte es unermüdlich und rang ihm schicksalhafte Bedeutung ab. Die Wagnerforschung hat längst zu Tage gefördert, dass viele Ereignisse, so wie Wagner sie wiedergab, nicht passiert sein können. Doch das spielt im Grunde überhaupt keine Rolle, sondern illustriert lediglich jenen Prozess der biographischen Neuschöpfung eines repräsentativen Lebens, dem Bedeutung abgerungen wird.

Wagners künstlerische Entwicklung ist ein merkwürdiger Sonderfall. Er ist ein interessantes Beispiel dafür, dass Begabung eigentlich zweitrangig ist, dass schierer Ehrgeiz und Willenskraft einen tatsächlich weiter tragen können als die glänzendste Begabung. Das Gegenbeispiel dazu ist Felix Mendelssohn Bartholdy, der phänomenal begabt war und damit selbst den schwer beeindruckbaren Goethe verblüffte, doch das gewaltige Versprechen, das seine Begabung gab, nie einlösen konnte.

Wenn Wagner eine Begabung besaß, dann die der Nachahmung und technischen Aneignung, und, vielleicht von noch größerer Bedeutung: unendliche Ausdauer.

Wagner frühe Werke sind meist dreiste Nachahmungen aktuell populärer Vorbilder. Was etwa an den frühen Klaviersonaten, die er als Teenager schrieb, am meisten beeindruckt, ist ihre Länge. Anders als Brahms frühe Klaviersonaten, die bei aller Unvollkommenheit schon völlig individuell sind, sind sie völlig epigonal und künstlerisch belanglos. Doch alles ist eben nicht, wie meist bei Anfängern nur zaghaft angedeutet, sondern lang und breit in aller Ausführlichkeit ausgeführt. Wagner hat zwar noch nichts zu sagen, doch die Attitüde selbstbewusster Rhetorik beherrschte er von Anfang an.

In den frühen Opern wimmelt es denn auch von Einflüssen aus allen Richtungen. Zuerst sind es Mozart, Gluck, Beethoven und Weber, gelegentlich auch Rossini und Bellini, doch dann vor allem die Franzosen bzw. Wahl-Franzosen Cherubini, Auber, Halevy und Mayerbeer, an denen er sich orientiert. Auch Berlioz, Liszt und Chopin spielen musikalisch eine wichtige Rolle. Nietzsche wird später zu Recht darauf hinweisen, dass Wagners entscheidende musikalische Einflüsse aller Beschwörung deutscher Tradition zum Trotz tatsächlich aus der französischen Sphäre kommen.

Wäre Wagner nach dem "Rienzi" gestorben, er wäre heute vergessen. Wäre er nach dem "Lohengrin" gestorben, hätte er einen ehrenvollen Platz neben Weber als Vollender deutscher Opernromantik. Doch was in den letzten 30 Jahren seines Lebens geschah, ist eine kreative Explosion wie sie wohl beispiellos in der Musikgeschichte ist.

Zwischen Brahms erster und vierter Sinfonie gibt es wohl einen qualitativen Unterschied an Reife und Beherrschung der Form und Technik, doch ist der im Grunde nicht der Rede wert im Vergleich zu dem, was bei Wagner zwischen Lohengrin und Parsifal geschah. Von Oper zu Oper macht Wagner Fortschritte, die andere Komponisten im ganzen Leben nicht durchmachen.

Die größten Sprünge sind gewiss "Tristan" in Bezug auf Harmonik und "Meistersinger" in Bezug auf Satztechnik. Manche halten die "Meistersinger" für einen Rückschritt, da die Harmonik dort weniger avanciert ist als im "Tristan". Doch scheint das nur oberflächlich so. Kompositionstechnisch sind die "Meistersinger" noch eine ganze Dimension fortgeschrittener und die Harmonik ist, gerade weil die Spielräume sujetbedingt kleiner sind, in ihren Übergängen noch viel raffinierter.

Der Ausgangspunkt von Wagners musikalischem Denken war immer die Harmonik. Melodik ist bei Wagner meist nur Umspielung der harmonischen Ereignisse. Doch hat Wagner dieser Verfahren, das von vielen zu Recht in der Art des Zugriffs als dilettantisch bezeichnet wurde, derart perfektioniert und verfeinert, dass es eine eigene Ästhetik ausbildete und seinerseits stilbildend wurde.

Verschmelzung ist die zentrale Idee von Wagner künstlerischer Morphologie. Die Schmiedeszene aus Siegfried ist nicht anderes als eine Parabel der eigenen ästhetischen Methode. Alles, was Wagner an literarischer, philosopischer und musikalischer Erfahrung gesammelt hat, wird in die eigene Vorstellungswelt und praktische musikalische Arbeit amalgamiert.

Der kompositorische Akt selbst ist bei Wagner ein Akt, der dem Metallgießen ähnelt. Er selbst beschreibt, dass er sich beim Komponieren in einem Zustand der Ekstase befindet, einem Zustand, bei dem Empfindungen gewissermaßen verflüssigt und in einen musikalischen Zustand gegossen werden.

Das Überwältigende vieler musikalischen Stellen bei Wagner besteht darin, dass sie etwas abgusshaft reales haben. Musik hat bei Wagner manchmal gänzlich ihren abstrakten Charakter verloren und wird gänzlich zur Empfindungsoberfläche.

Soetwas wie etwa das Waldweben in der Oper Siegfried, ist weder weder harmonisch noch in ihren irisierend vibrierenden Figuren neu. Soetwas gab es schon in der Barockmusik. Doch dadurch, dass er die Musik einer funktionsharmonischen Logik entkleidet, und sie quasi photorealistisch in klanglich statischen Flächen darstellt, erzeugt er diesen veblüffenden realistischen Wiedererkennungseffekt.

Auch dass er das Waldvogelmotiv metrisch aus diesem gleichmäßigen Gewebe heraushebt ist ein einfacher aber genialer Einfall. Man erkennt auch hier sofort das photorealistische daran, nämlich dass Vögel zwar durchaus rhythmisch singen aber eben metrisch ungebunden.

Gerade in seinem Spätwerk wird Wagner ein Meister dieser physisch realistischen Effekte, und zwar nicht nur von Natureffekten sondern auch eben auch von menschlichen physiologischen und psychologischen Effekten. In der großen Liebesszene des Tristan mein man Herzschlag und Konvulsion zu spüren, im Vorspiel zum zweiten Akt der Götterdämmerung scheint Schauder musikalische Wirklichkeit geworden.

Zwar kann man auch auf diesem Feld viele Vorbilder ausmachen, vor allem Berlioz und Liszt haben hier viel Vorarbeit geleistet. Doch wie Wagner diese Effekte ausbaut und auf die Spitze treibt ist ungeheuerlich. Wagner hatte diese außerordentliche Begabung nicht nur alles aufzunehmen sondern auch zu Verdichten und ästhetisch auf den Punkt zu bringen.

Richard Wagner war kulturgeschichtlich einer jener zentralen Figuren, die einerseits eine Entwicklung zusammenfassen, doch gleichzeitig erschöpfen und damit ihren Untergang einleiten. Man hielt sich zwar fast noch das ganze 20. Jahrhundert in der Illusion, Wagner sei ein kreativer Zerstörer gewesen, der einen Aufbruch zu neuen Ufern ermöglichte. Doch Claude Debussy hatte wohl von Anfang an Recht damit, als er sagte Wagner sei nicht Morgenröte sondern Abenddämmerung gewesen.

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Dass die Werke zwischen Holländer und Parsifal Wagner persönlichen Erlebnis- und Erfahrungshorizont reflektieren, ist gewiss kein Geheimnis, doch wie sehr diese Werke von Wagner persönlichen narzisstischen Konstellationen geprägt sind, macht man sich eigentlich nicht recht klar.

Lohengrins "nie sollst du mich befragen" ist nichts anderes als das narzisstische Postulat "nie sollst du mich in Frage stellen" und der Ring des Nibelungen, der bis heute als antikapitalistische Gesellschaftskritik bezeichnet wird, ist in Wahrheit eine reine Größenwahnfantasie. Die politische Antinomie des Rings ist nicht Sozialismus gegen Kapitalismus sondern narzisstischer Alpha-Kapitalismus gegen subalternen Kapitalismus.

So scheint nie jemandem aufgefallen zu sein, dass im Ring überhaupt kein Volk oder Menschheit da ist, die von Wotans oder Siegfrieds scheinbar antikapitalistischen Aktionen profitieren würden. Wotan ergaunert sich sein Walhall, um selber darin zu wohnen und auch Siegfried denkt nicht eine Sekunde daran, seinen Hort mit jemandem zu teilen. Er verschließt ihn mit dem toten Fafner wie in einem Banksafe.

Wotan und Siegfried repräsentieren jenen Typus von Alpha Kapitalisten, die sich nicht die Hände schmutzig machen, sondern im Bewusstsein der eigenen Göttlichkeit dreist nehmen, was sie wollen. Dass sie Reichtum und Liebe genießen stellt im Grunde die einzige Legitimation dar gegenüber den subalternen Kapitalisten, die Geld und Macht nur lieblos und dumpf horten.

Das ist jedoch das innerste Zentrum von Wagners Persönlichkeit gleichermaßen wie von Wagners Werk: eine Vergöttlichung des elan vital. Ich bin im Recht, wenn ich fühle, wenn ich den Klang der Welt höre, wenn ich in einem kreatürlichen Sinn lebendig bin. Wagners Sucht nach Luxus und Eros ist eine Sucht nach Lebendigkeit und Welthaltigkeit.

Wagner überschritt Grenzen und durchschritt Dantes Höllen und Paradiese, um uns davon Kunde zu geben. Gewisse Aspekte der Pein und Ekstase von Liebe existierten nur in einer dumpfen Ahnung bevor man ihnen in "Tristan und Isolde" in Klang gegossen begegnete. Das Wetterleuchten eines Weltuntergangs hat man wohl nie vorher so überwältigend vernommen wie in Siegfrieds Trauermarsch. Nie dieses Gefühl erschöpften und ergebenen Verschwimmens mit dem Fließen der Natur wie im Karfreitagszauber überhaupt gekannt.

Man könnte gewiss noch einige Duzend weiterer Momente der Epiphanie aufzählen, wie es sie in dieser Fülle aber auch in ihrer magischen Präzision bei keinem anderen Komponisten gibt. Und so ringt einem das Phänomen Wagner bei allem Schauder über seine Monstrosität doch gleichzeitig eine heilige Ehrfurcht ab. Es war etwas an diesem Menschen, das über normales Menschenmaß hinausging.

Wagner ist ein Phänomen, dem man gewachsen sein muss. Schon die Geschichte zwischen Wagner und Nietzsche zeigt, wie man davon in moralische Abgründe gerissen werden kann, von der Nazi Katastrophe, die folgte, ganz zu schweigen. Auch noch heute kann einem in Gegenwart von Wagnerianern unwohl werden.

Vorbild kann da Thomas Mann sein, der nicht nur die klügsten und intimsten Essays über Wagner geschrieben hat, sondern bei aller Begeisterung immer auch ein lebendiges Bewusstsein um die moralischen Abgründe bewahrt und formuliert hat.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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