Der Pianist, der aus der Kälte kam

Sviatoslav Richter Zum 100. Geburtstag des Pianisten, dessen Leben mit dem Aufstieg und Niedergang des Sowjetimperiums zusammenfiel und der damit zu einem Protagonisten dieser Epoche wurde

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Man hat heute ein wenig vergessen, wie berühmt Swjatoslaw Richter einst gewesen ist. Auf dem Höhepunkt seines Ruhmes, in den 50er und 60er Jahren, war er eine fast mythische Gestalt, um die sich Legenden rankten. In seltener Einhelligkeit wurde er sowohl von Publikum, Kritikern als auch Künstlerkollegen bewundert und verehrt. Nicht wenige hielten ihn für den größten lebenden Pianisten.

Doch als die Zeitläufe sich änderten, verblasste der Mythos wieder. Während Rubinsteins und Horowitz' Laufbahnen in den 60er Jahren in eine reife Altersblüte mündeten und sie bis zu ihrem Lebensende in den Musikzentren der Welt mühelos Riesensäle füllten, tingelte Richter seit den 70er Jahren vermehrt durch die Provinz.

Richter war darüber keineswegs unglücklich. Nicht nur der Erwartungsdruck war ihm unerträglich geworden, fast noch mehr war es die Fremdbestimmung durch die moderne Kulturmaschinerie, die ihm gegen der Strich ging. Sein eigener Herr zu sein, das bedeutete Richter mehr als alles andere in seinem Leben.

Hinzu kam, dass Richter anders als Horowitz und Rubinstein nie ein genuiner Bühnenmensch gewesen ist. Die Tuchfühlung mit dem Publikum genoss er nicht. Auf der Bühne wirkte er ähnlich linkisch wie Glenn Gould. Doch da Richters Misstrauen gegenüber der Technik fast genauso groß war, fühlte er sich, anders als Glenn Gould, auch im Studio nicht wohl.

Der Modus Vivendi, den Richter in späten Jahren fand, in kleinen abgedunkelten Sälen, einer Lampe und einem Blattumwender zur Seite, war der ihm gemäße Kompromiss. So zu tun als ob das Publikum nicht da wäre, eine private Situation vortäuschen, so ging es. Beim Auf- und Abtreten hielt er oft die Noten wie zum Schutz vor der Brust. Niemand sollte in sein Herz schauen können.

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Der Mythos, der Richter empor getragen hatte, war der des Kalten Krieges. Dass er lange nicht in den Westen reisen durfte, hatte ihm etwas von der Aura eines Märtyrers verliehen. Und als er dann endlich im Westen auftreten durfte, galt die demonstrative Begeisterung gewiss nicht ausschließlich seinem Klavierspiel sondern war eben auch ein Zeichen in Richtung Osten.

Hinzu kam, dass Richters Klavierspiel etwas muskulös stählernes und präzise überdeutliches hatte, was in gewisser Weise jenes vom Sputnik Schock ausgelöste Angstphantom von der russischen technischen Überlegenheit ziemlich gut verkörperte. Wenn er Chopins Etüde op. 10, No. 1, das er im ersten Carnegie Hall Konzert seines US Debuts als Zugabe spielte, mit beeindruckender Kraft und Präzision in die Tasten wuchtete, kann man sich gut vorstellen, dass das auf eine faszinierende Weise furchteinflößend wirkte.

Nicht zuletzt erzeugte der Kalte Krieg auch eine eigene ikonographische Kultur, denn wo Konflikt ist, ist immer auch Leben. Der Kampf zwischen Amerikanern und Russen befruchtete mit seinen Romantisierungen und Dämonisierungen von Doktor Schiwago bis zu James Bond eine ganze Kulturindustrie.

Vielleicht zum letzten Mal hatte klassische Musik damals Tuchfühlung mit dem Weltgeist (was später nur noch den Massenmedien gelang). Denn als Van Cliburn den Moskauer Tschaikowsky Wettbewerb gewann und zuhause wie ein Kriegsheld gefeiert wurde, wurde das symbolisch überhöht als erster Schritt zum Brechen der Russischen Überlegenheit. Es ist bezeichnend, dass Richter dabei eine nicht unwesentliche Rolle spielte. Er saß in der Jury und gab Cliburn entgegen den Regularien und auch gegen die Parteilinie, die eigentlich einen Russen als Gewinner sehen wollte, alle seine Stimmen.

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Zur Bestimmung von Richters kultureller Sozialisation spielt sein Geburtsjahr 1915 gewiss eine bedeutende Rolle. Anders als Rubinstein und Horowitz, die in jungen Jahren noch etwas vom 19. Jahrhundert in sich aufgenommen hatten, wurde Richter in die Zeit nach erstem Weltkrieg und Russischer Revolution hinein geboren.

Und in der Tat ist es einer der offensichtlichsten und charakteristischen Züge an Richter, dass bei ihm jenes Element von Salon und allem, was kulturell und artistisch damit verbunden ist, fast keine Rolle spielt. Richters Zugriff hat einen Zug von proletarischer Handfestigkeit und Direktheit, den er keineswegs zu bändigen oder domestizierten versucht, sondern im Gegenteil mit einer Mischung aus Stolz und Trotz ausstellt. Man erkennt Richters Spiel weniger am Klang als an der rhythmischen Kompaktheit und einer Spur von Linkischheit, die jedoch keineswegs als Mangel wahrgenommen wird, sondern den Eindruck einer erfrischenden Unverbildetheit vermittelt.

Richter wuchs in die chaotische Welt des frühen Sowjetkommunismus hinein, in der es drunter und drüber ging. Anfangs versuchten Richters Eltern, der Vater unterrichtete Klavier am Konservatorium, die Mutter kam aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie, noch den Schein einer bürgerlichen Existenz aufrecht zu erhalten, doch lösten sich mit der Kollektivierung alle bürgerlichen Sicherheiten mehr und mehr auf.

Mit einer Art kindlichem Überlebensinstinkt spürte Richter, dass die Welt der Eltern keine Sicherheit bot und schlug sich schon sehr früh alleine durch, verlor dann, als er nach Moskau ging, jeden Kontakt und sah seinen Vater, der während des 2. Weltkriegs ermordet wurde, nie wieder.

Viele Menschen gingen im Chaos unter oder zerbrachen daran. Auch für den jungen Richter waren es gewiss harte Zeiten, doch wusste er die individuelle Freiheit, die ein Nebeneffekt des institutionelle Chaos waren, für sich zu nutzen. Das Leben im Chaos ihn letztendlich stärker geprägt und geformt als jeder Klavierunterricht, ihn wie in einem Feuer gestählt. Es verlieh seinem Charakter eine Siegfried-hafte Furchtlosigkeit und Unverwundbarkeit.

Richters Persönlichkeit hat auch jenseits aller künstlerischen und pianistischen Erwägungen etwas ungeheuer anziehendes. Etwas kraftvolles und ungebändigtes, eine innere Freiheit und Unabhängigkeit, die etwas außerordentlich rares ist. Ihm fiel schon immer schwer sich irgendwo einzuordnen. Die Schule war für ihn ein Alptraum und auch am Moskauer Konservatorium ging er zu Kursen, auf die er keine Lust hatte, einfach nicht hin. Hätte nicht sein Lehrer Heinrich Neuhaus interveniert, hätte er das Konservatorium verlassen müssen.

Überhaupt kann man Heinrich Neuhaus gar nicht genug preisen, dass er Richter, der ohne jegliche formelle Vorbildung zu ihm kam, ohne offizielles Verfahren einfach in seine Klasse aufnahm und Richter nicht nur beherbergte - er schlief jahrelang unter Neuhaus' Flügel - sondern ihn selbstlos nach Kräften förderte und beschützte. Als Künstler und Pianist war er im Grunde das Gegenteil von Richter, sensitiv und verfeinert, und allzu viel dürfte Richter bei ihm nicht gelernt haben.

Doch ohne Neuhaus wäre es Richter vielleicht nie gelungen sich im russischen Musikleben zu etablieren. Pianisten gab es in Überfülle. Richter hatte keinerlei einflussreiche Beziehungen und verabscheute überhaupt jeden Karrierismus, den man heute ein wenig euphemistisch als networking bezeichnet.

Es mag ein wenig paradox klingen, doch die Wirren des Krieges und der Stalinistischen Ära kamen Richters Entwicklung eher entgegen. Die Menschen hatten andere Sorgen und so konnte Richter, der sich, nicht zuletzt durch die Förderung Prokofjews, rasch etabliert hatte, im Grunde spielen, was er wollte. Ja er genoss in gewisser Weise das spontane und improvisierte, mit dem er auf Konzertreisen durch das in Chaos aufgelöste Russland beständig konfrontiert wurde. Auch später noch hatte er einen regelrechten Gräuel gegenüber jeder Routine.

Auch dass man ihn, den unangepassten und renitenten Künstler, observierte und schikanierte, ihn nicht in den Westen reisen ließ, war gewiss nicht erfreulich doch eben auch ein Widerstand, der seine moralischen Selbstbehauptungskräfte produktiv herausforderte.

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Richter war ein durchaus komplizierter Charakter voller Widersprüche. Er hasste die Oberflächlichkeit, schimpfte über die Eitelkeit Karajans, doch war seinerseits von Eitelkeit keineswegs frei, genoss durchaus den Rausch der Virtuosität, hatte eine offensichtlich Schwäche für Liszt. Er hasste Machtausübung und doch offenbart sich in seiner enormen rhythmische Kraft und seinem apodiktischen Dezisionismus eben doch etwas von der Lust an der Beherrschung, auch liebte er Wagner über alles.

Richter war auch nicht die Spur bescheiden obwohl man ihm das fast sprichwörtlich unterstellt. Richters kommunikative Defensive war eher ein Schutzmechanismus, um sich vor politischen Spürhunden, später aber auch vor lästiger Zudringlichkeit zu schützen.

Richter, dessen Vater deutsch-polnische Wurzeln hatte, bekannte selbst, dass er etwas von deutscher Pedanterie und Bildungsbeflissenheit hatte. Tatsächlich übte er nach festen zeitlichen Pensen (soundsoviel Minuten pro Seite) und nahm sich für die Lektüre immer eine feste Anzahl von Seiten vor. Man mag darüber ein wenig lächeln, doch ist diese Art Routine charakteristisch für Menschen, die in ihrem eigenen Kosmos leben.

Von Ferne erinnert Richter ein wenig an Tolstoi (der übrigens in Russland auch als deutsch gilt), der es fertig brachte gleichzeitig leidenschaftlicher Jäger und Vegetarier zu sein. Und wie bei Tolstoi kann man auch bei Richter jene Verhärtung des Moralischen bei zunehmendem Alter beobachten. Wie Tolstoi sich vom mondän literarischen seiner großen Romane abwandte, sie als hedonistisch verdammte, und gegen Ende seines Lebens vor allem moralisierende Schriften verfasste, so wendete sich auch Richter vom großen Publikum ab und seine späten Konzerte glichen oft eher Exerzitien. Doch wie man Tolstoi trotz allem mehr für seine sündige Anna Karenina liebt, so bevorzugen auch die meisten Richter Fans den spektakulären frühen Richter vor dem spröden späten.

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Spektakulär muss Richters Klavierspiel damals durchaus gewirkt haben als er die internationalen Bühnen betrat. Dass heutigen Hörern das nicht mehr so stark bewusst ist, hat gewiss damit zu tun, dass Richters Klavierspiel stilbildend für Generationen von russischen Pianisten wurde und man sich an diese Art des Klavierspiels mittlerweile gewöhnt hat. Es hatte im Vergleich zu älteren Pianistengenerationen etwas schneidend direktes und schnörkellos sachliches, das nicht nur ungemein erfrischend und unverbraucht gewirkt hat sondern auch dem sachlichen Zeitgeist der 50er Jahre entsprach.

So beeindruckend Richters Stil in seiner Konsequenz und Geschlossenheit ist und so phänomenal seine pianistischen Möglichkeiten waren, hört man sich durch Richters umfangreiche Diskographie gewinnt man aus einer historischen Perspektive den Eindruck, dass Richters vulkanische Sachlichkeit auch einen Schritt zur Entfremdung von bestimmten Kulturtraditionen darstellt. Richter war eben ein Zeitgenosse Adrian Leverkühns, hatte die Auflösung der bürgerlichen Welt am eigenen Leibe miterlebt und im Grunde jedes Vertrauen in ein gesellschaftliches Wir verloren.

Richter hätte vielleicht der bedeutendste Beethoven Interpret des 20. Jahrhunderts sein können, verkörperte er doch gewisse Aspekte von Beethovens Werk und Wesen, dessen kraftvollen Elan und moralische Wucht wie kein anderer Pianist. Doch bei fast allen Interpretationen Richters von Musik zwischen Beethoven und Brahms bleibt dieser blinde Fleck mangelnder bürgerlich gesellschaftlicher Identifikation. Beethovens "Alle Menschen werden Brüder" konnte Richter nur ein säuerliches Lächeln ins Gesicht zaubern. Dass Joachim Kaiser, der in dieser Musik zuhause war wie kaum ein anderer, Richter immer mit merklicher Reserve begegnete, mag von dorther rühren.

Richters fast alttestamentarisches Beharren auf den den Notentext - schon wenn man bei Bach nicht alle Wiederholungen spielte, war das ein Verbrechen - rührt auch von einer Unsicherheit und Unfähigkeit, historisch stilistische Muster und damit auch gesellschaftliche Weltbilder zu entschlüsseln und zu verstehen. So nimmt Richter oft zu einem erratischen, steintafelhaft gemeißelten Ausbuchstabieren zuflucht, im Glauben, dass wenn man die Worte mit Emphase spricht, sich der Sinn der Schrift von selbst offenbaren müsse.

Sein Chopin, Skrjabin, Tschaikowsky und Rachmanninoff, eben alle Musik, die ihre Wurzeln in der konversationellen Welt des Salons hat, haben manchmal etwas durchaus erfrischend handfestes und schnörkelloses, doch alles in allem halten sie den Vergleich mit Rubinstein und Horowitz nicht aus. Sein Rubato bleibt unorganisch und für die raffinierten Schattierungen des Belcanto hatte er kein rechtes Gefühl.

Die Konzertaufnahmen zählen meiner Ansicht nach zu den besten Richter Aufnahmen, besonders dann wenn Richter für produktiven Ausgleich sorgen kann. In der Aufnahme von Tschaikowskys 1. Klavierkonzert mit Karajan balanciert Richters fast ein wenig herbe Sachlichkeit Karajans luxuriöser Klanglichkeit sehr gut aus, ebenso Kondraschins effektbewussten Schwung in den Liszt Konzerten.

Seine Aufnahme des 1. Prokofiev Konzerts ist unübertrefflich, der jugendliche Elan und Übermut des Stückes entsprach dem jungen Richter vollkommen. Überhaupt spielt Prokofiev für Richters Laufbahn eine zentrale Rolle. Seine Aufführung des 5. Konzertes unter Leitung des Komponisten sowie der drei Kriegssonaten (6-8, die 7. hatte Richter uraufgeführt, die 9. Sonate ist ihm gewidmet) hatten ihn vor den Augen der russischen Musikwelt geadelt.

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Ohne Zweifel war Richter, allen Erfolgen und aller getreuen Anhängerschaft zum Trotz, ein einsamer Mensch. Er hatte einen messianischen Zug, was sich auch an seiner Gefolgschaft ablesen lässt, deren Äußerungen oft etwas von religiöser Erweckung und Bekenntnis haben. Doch die Zeiten, in die er hinein geboren wurde, taugten nicht zum Idealismus, was der Gestalt Richters etwas von tragischer Resignation verleiht.

Der ungemein musikalische Arthur Rubinstein, der bei den 5 Carnegie Hall Konzerten 1960 im Publikum saß, war, wie er in seinen Memoiren schildert, weniger von Richters Beethoven oder Prokofiev beeindruckt sondern pries ein eher obskures Stück, "Oiseaux tristes" (traurige Vögel) aus Ravels "Miroirs". Dieses Stück, das die Verlorenheit eines dunklen Waldes evoziert, lässt in der Tat etwas von Richters tragischer Einsamkeit durchschimmern.

Auch Bruno Monsaingeon traf eine hervorragende Wahl als er den langsamen Satz aus Schuberts später B-Dur Sonate zur Titelmusik seines Richter Film - einem der schönsten Musikerfilme, die es gibt - machte. Auch dieses Stück bewegt einen unter Richters Händen ungemein, da es nicht einfach nur rührend traurig ist sondern die existentielle Verlorenheit, die in Richters Biographie eingeschrieben ist, untergründig mitschwingt.

Die in meinen Augen bedeutendste Richter Aufnahme ist jedoch jene von einigen Präludien und Fugen aus op. 87 von Dimitri Schostakowitsch, die 1963 aufgenommen wurde. Die Strenge des Satzes, die diese Form verlangt, wird bei Schostakowitsch zur Chiffre der individuellen Selbstbehauptung. Hier hat Richters ungeschminkte Direktheit, sein subjektiv hymnischer Ton, die brachiale Gewalt und moralische Unbeugsamkeit offenbarende und wahrlich erschütternde Wirkung. Dort wird er zum Zeitzeugen und zum Ankläger einer katastrophalen und menschenverachtenden Epoche.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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