Der Sturm

William Shakespeare Warum ist Prospero so melancholisch? Anmerkungen zu Shakespeares letzter Komödie

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William Shakespeare
William Shakespeare

Foto: Hulton Archive/Getty Images

„The Tempest“ („Der Sturm“) ist das erste Stück in der berühmten „First Folio“ Ausgabe von Shakespeares Werken von 1623, und eröffnet den ersten Teil der Komödien. Allein diese Platzierung sorgte über die Jahrhundert immer wieder für Irritationen und Spekulationen. Dabei ist das nur der philologische Aspekt eines verästelten Stückes, das voll von allegorischen Schichtungen ist und hinter dem so viele Fragezeichen stehen wie wahrscheinlich bei keinem anderen Stück Shakespeares.

Die Position im First Folio wirft zwei Fragen auf: die nach der Datierung und nach der Gattung. Denn die Reihenfolge der Komödien im First Folio suggeriert eine Entstehungschronologie, die sich in vielen Teilen auch noch mit der heute etablierten Chronologie deckt. Tatsächlich gab es immer wieder vereinzelt Spekulationen, ob es vielleicht Shakespeares erstes Stück sei. Doch schon Nicholas Rowe schrieb 1709 „The Tempest, however it comes to be plac‘d the first by the former Publishers of his Works, can never have been the first written by him: It seems to me as perfect in its Kind, as almost any thing we have of his”.

Heute ist weitgehend Konsens, dass „The Tempest“ eines der letzten Stücke Shakespeares ist, und es in erster Linie deswegen prominent an erster Stelle des First Folio steht, weil es noch neu und bis dato noch nicht im Druck erschienen war. Ob es wirklich das letzte Stück war, an dem Shakespeare arbeitete, ist dagegen umstritten, und hängt vor allem davon ab, ob man die späten gemischten Urheberschaften für Kollaborationen hält oder für Vervollständigungen von unvollendeten Entwürfen.

Aufgrund von Computer-gestützten Analysen hat sich der Kreis dieser Stücke mit gemischter Urheberschaft in den letzten Jahren noch erweitert. War lange nur von „The Two Noble Kinsmen“ („Die beiden edlen Vettern“) und „Henry VIII.“ die Rede, zählt man inzwischen eine Handvoll weiterer Stücke, unter anderem „Macbeth“, dazu. Selbst bei „The Tempest“ gibt es vereinzelt Spekulationen, ob das Stück möglicherweise unvollendet ist, da es ähnlich wie „Macbeth“ für Shakespearesche Verhältnisse ungewöhnlich kurz ist und elliptische Züge trägt.

Im 19. Jahrhundert begann man sich auch unwohl damit zu fühlen, „The Tempest“ als Komödie zu bezeichnen. Man fand das Stück im Lichte der bürgerlichen Komödien-Konventionen wohl einfach nicht „komisch“ genug. Es bürgerte sich daher für „The Tempest“ und einige andere Stücke der Begriff der „Romance“ („Romanze“) ein, der bis heute gebräuchlich ist. Diese Bezeichnung ist zwar durchaus nachvollziehbar, da diese Stücke tatsächlich zahlreiche Bezüge zur Romanzentradition der Ritterromane aufweisen, doch eigentlich anachronistischer Unsinn. Weder Shakespeare noch irgendeiner seiner Zeitgenossen hat je ein Theaterstück als „Romance“ bezeichnet.

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Die zentralen Handlungselemente von „The Tempest“ stammen denn auch aus der reichhaltigen Romanzentradition. Eine wichtige Rolle spielt dabei die aus dem spanisch-portugiesischen Raum kommende Romanze „Primaleon“, die in der poströmischen Zeit von Konstantinopel spielt und Ende der 1590er Jahre in einer englischen Version (aus französischen und italienischen Quellen) erschienen war.

Dort gibt es einen „knight of the enclosed isle“, der über „Magicke Art, Necromancy, Cebalist and hidden Philosophy (wherein he may be named the second Zoroastres)” verfügt. Wie Prospero war dieser zusammen mit seiner Tochter aus seiner Heimat Ordan vertrieben worden und wird durch einen Schiffbruch auf seiner Insel mit allen wichtigen Protagonisten konfrontiert, die er, getrennt voneinander, mit seinen Zauberkünsten therapiert und manipuliert. Und wie Prospero erhält er am Ende sein Land zurück und seine Tochter wird mit einem Sohn des Primaleon vermählt.

Im „Primaleon“ kommt auch noch eine andere Insel vor, „the pleasant and delectable isle of Hercania“, die von einer weiblichen Zauberin bewohnt wird. Diese erinnert nicht nur an Sycorax sondern auch an andere Zauberinnen-Figuren wie Alcina und Armida bei Ariosto und Tasso, die die Besucher ihrer Insel in Pflanzen und Tiere verwandeln, und ihrerseits auf die Kirke Figur der „Odyssee“ und die Medea Figur von Ovids „Metamorphosen“ zurückgehen.

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Dass Shakespeare selbst „The Tempest“ im Kontext seiner Komödien sah, ist dagegen vollkommen offensichtlich. Zahlreiche Komponenten sind direkt aus den Vorgängern übernommen. Ja mehr noch scheint Shakespeare ganz bewusst Motive aus den früheren Komödien gleichsam summarisch wieder aufzunehmen: den Schiffbruch aus „Twelfth Night“ („Was ihr wollt“), die traumhafte Gegenwelt von Wald bzw. Insel aus „A Midsummernight’s Dream“ („Ein Sommernachtstraum“), den Bruderkonflikt aus „As You Like It“ („Wie es euch gefällt“), die Antonio Figur aus „The Merchant of Venice“ („Der Kaufmann von Venedig“) und „Twelfth Night“ sowie das spanische Personal (Mailand und Neapel standen zu Shakespeares Zeit unter spanischer Herrschaft) aus „Much ado about nothing“ („Viel Lärm um Nichts“). Und in allen diesen Komödien kommt es am Ende zur Hochzeit der Liebespaare.

Die Bearbeitung von John Dryden und William D’Avenant, die 1667 als „The Tempest or The Enchanted Island“ herauskam und lange Zeit die maßgebliche Version des Stückes war, ist ebenso unmissverständlich als „Comedy“ bezeichnet und führt zwei weitere Figuren, Dorinda und Hippolito, ein (deren Namen ebenfalls aus dem italienischen Kontext von Ariosto, Tasso und Guarini kommen).

Nun sind Gattungsabgrenzungen bei Shakespeare ohnehin nicht so scharf. So enthalten viele Komödien auch ernsthafte Konflikte, wie umgekehrt in den Historien und Tragödien immer wieder komödiantische und satirische Figuren auftauchen. Am Ende bedeutete Komödie damals, in Anlehnung an Dantes archetypische „Commedia“, lediglich, dass die Geschichte „gut“ endet. Was eben bei „The Tempest“ auf den ersten Blick durchaus der Fall ist: die alte Ordnung ist wieder hergestellt und das Liebespaar glücklich vereint.

Doch ist trotz allem nicht zu leugnen, dass „The Tempest“ in gewisser Weise „off balance“ ist, dass die komödiantischen Elemente von der Melancholie Prosperos verdunkelt und überschattet werden. Nicht zuletzt steht hinter dem glücklichen Ende ein großes Fragezeichen. Worauf noch zu kommen sein wird.

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Der Zusammenhang mit den anderen Komödien ist nicht zuletzt deswegen von Bedeutung, weil Shakespeare in jeder Komödie die Konstellationen, und damit die soziologischen, psychologischen und erotischen Reibungspotentiale variiert und neu ausrichtet, und oft gerade der Kontext und die Variation zu den anderen Komödien erhellend ist.

So ist gewiss ein weiterer Grund für den mangelnden komödiantischen Appeal von „The Tempest“, dass es mit Miranda und Ferdinand nur ein einziges Liebespaar gibt und dadurch das Potenzial der romantischen und erotischen Verwirrungen limitiert bleibt (was übrigens exakt das ist, was Dryden und D’Avenant mit den beiden zusätzlichen Figuren beheben). Doch scheint Shakespeare eben ganz bewusst, und im Unterschied zu den anderen Komödien, diese Variante durchspielen zu wollen, wie ein Paar ohne mimetische Konkurrenz und erotische Verwirrspiele zueinander finden kann.

Natürlich weiß der Autor von „Romeo and Juliet“ ganz genau, was die Gefahr von der Verbindung von Ferdinand und Miranda ist: „too light winning make the prize light“. Eine allzu leicht errungene Liebe ist nicht viel wert. Prospero versucht denn auch durch allerlei Schikanen die Sache ein wenig zu verkomplizieren. Was jedoch nicht so recht zu gelingen scheint - und nicht unwesentlich zu Prosperos Melancholie beiträgt.

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War in „As you like it“ Rosalind die universelle Akteurin, die am Ende auch den Epilog sprach, so nimmt in „The Tempest“ Prospero diese Rolle ein. Und war Rosalind eine dezidiert weibliche Figur, die mit der intuitiv integrativen Kraft einer Heilerin die Geschicke und Gefühle der Protagonisten in die rechten Bahnen lenkte, so ist Prospero unverkennbar eine patriarchalisch männliche Figur, die nahezu ausschließlich in Kategorien der Machtausübung denkt (in „A Midsummernight‘s Dream“ und „Twelfth Night“ werden mit Theseus/Oberon und Hippolyta/Titania bzw. Orsino und Olivia wiederum sexuell binäre Modelle durchgespielt).

Prosperos Zauberkräfte sind denn auch nichts anderes als die Symbolisierung von männlichen Machtfantasien, ebenso wie später bei Goethe die Künste Mephistos, bei Wagner der Ring des Nibelungen, oder heute die Superkräfte der Jedi-Ritter und Superhelden. Alle anderen Protagonisten dem eigenen Willen zu unterwerfen, wenn es sein muss mit Gewalt, ist die zentrale Motivation Prosperos. Was in seinem Namen angelegt ist (auch im Deutschen ist das Wort „prosperierend“ geläufig), ist auch heute noch das Mantra der Tycoons und Startup-Gurus: nämlich in der aggressiven Antizipation des eigenen Erfolges den Erfolg selbst herbeizuzwingen.

Harold Goddard bezeichnete „The Tempest“ nicht zu Unrecht als „King Lear in heaven“. Denn während tatsächlich King Lear umgekehrt „Prospero in hell“ ist, ein einst mächtiger, alter Mann, der von der existenziellen Erfahrung der wachsenden Ohnmacht überwältigt wird und alles mit sich in den Abgrund reißt, so erscheint Prospero wie ein religiös geläuterter King Lear, der mit seiner illusionistischen Allmacht alle seine Verfehlungen wieder gut machen will. Dabei ist nicht zu leugnen, dass er selbst in dieser Rolle als „guter“ Zauberer nicht von seinem Allmachtskomplex lassen kann. Nur er allein weiß, was gut und richtig ist.

Miranda erscheint in diesem Kontext wie eine Wiedergängerin Cordelias und die Nervosität und Ungeduld, mit der Prospero Mirandas Geschicke lenkt, scheint wie von einer Erinnerung an eine schlimme Erfahrung getrieben, die zu wiederholen es unbedingt zu vermeiden gilt.

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Ähnlich wie in „As you like it“ gibt es auch in „The Tempest“ eine geographische Unschärfe. Während der „forest of Arden“ zwischen dem Wald von Robin Hood im englischen Arden und den französischen Ardennen (wo der Roland/Orlando Stoff verortet ist) oszilliert, so ist Prosperos Insel einerseits im Mittelmeer zwischen Algier und Neapel, und andererseits in den fernen Überseegebieten wie den Bermudas (die 1503 entdeckt wurden) angesiedelt.

Das exotische Flair spielte sicher keine unwesentliche Rolle für den Erfolg des Stückes (insbesondere Drydens und D‘Avenants Bearbeitung war sehr populär). Seit der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus zirkulierten zahlreiche Berichte über die exotische Vegetation und die Ureinwohner dieser Gegenden, die die Fantasie der Leser beschäftigten und mobilisierten, wie heute die Science Fiction von fernen Planeten.

Michel de Montaignes Essay „Des cannibales“ (1580 auf Französisch, 1603 in einer englischen Übersetzung erschienen) gilt als eine der Inspirationen zu „The Tempest“. Montaigne berichtet darin von Erzählungen, die er von Seeleuten über die Menschen und deren Sitten in diesen Überseegebieten gehört hat. Dabei handelt es sich weniger um ernsthafte anthropologische Studien als um Seemannsgarn, das von Dämonisierungen und Idealisierung gekennzeichnet ist. Wie eben auch unsere Vorstellung von Außerirdischen fast immer überzeichnet ist. Entweder sind es Monster (wie in „Alien“) oder uns weit überlegene weise Wesen (wie in „Arrival“).

Entsprechend widersprüchlich sind die Berichte. So werden diese Menschen zunächst als in üppiger tropischer Natur im Müßiggang und im Einklang mit der wilden Natur harmonisch zusammen lebend beschrieben. Doch später heißt es dann, dass Krieg ihr wichtigster Lebensinhalt ist, den sie nicht zur Land- und Ressourcengewinnung führen, sondern gänzlich aus idealistischen Ehrvorstellungen. Wie so oft verraten diese Projektionen mehr über die berichtenden Europäer des 16. Jahrhunderts als über die Beschriebenen.

Bei Montaigne verbirgt sich dahinter ein antizivilatorischer Impuls, wenn er sich mit Blick auf die konfliktbeladene europäische Welt fragt, wer eigentlich die Barbaren sind. Diese Zivilisationskritik kehrt periodisch immer wieder, bei Rousseau und bei Nietzsche, und auch hinter der aktuellen Klimabewegung sind unverkennbar antizivilisatorische Motive spürbar.

Shakespeare legt die Montaigne Passagen dem alten und gutmütigen Gonzalo in den Mund und wie so oft bleibt letztendlich in der Schwebe, ob sich der Autor diese Position zu eigen macht oder mit ironischer Distanz betrachtet.

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Interessanter Weise spekuliert Montaigne darüber, ob, wie er bei Aristoteles gelesen habe, bereits die Karthager in Übersee waren. Tatsächlich ging schon Dante in der „Commedia“ davon aus, dass Odysseus von Gibraltar aus ins westliche Meer stach und für diese Hybris, die allen seinen Gefährten das Leben kostete, im Inferno bestraft wurde.

Dieser Zusammenhang ist deswegen von Interesse, da sich dadurch ein Kreis mit der Kirke Erzählung aus der Odyssee schließt. Diese ist eine schöne Frau und Zauberin, die Männer in Schweine verwandelt und diese bei sich gefangen hält. Odysseus, durch ein Kraut des Hermes geschützt, wird Liebhaber der Kirke und kann seine Gefährten retten. Das ungebundene Leben auf dem wilden Eiland genießend, bleibt er ein ganzes Jahr.

Ist man für die ambivalente Dynamik der antiken Mythologie sensibilisiert, fällt es einem nicht schwer, die Bedeutung hinter dieser Erzählung zu erfassen: es ist nicht eigentlich Kirke, die die Männer in Schweine verwandelt, sie ist vielmehr die Auslöserin jenes inneren Zwanges der Männer, die, ein Sexualobjekt vor Augen und auf einer fremden Insel aller zivilisatorischer Hemmnisse entledigt, zu Schweinen werden (was wohl keiner weiteren Erläuterung bedarf).

Kolumbus berichtete aus Südamerika von Erzählungen über ein einäugiges, menschenfressendes Wesen namens Caniba, das eine Insel bewohne (auch hier ist die Ähnlichkeit zu Polyphem aus der „Odyssee“ bemerkenswert), woher die Bezeichnung und Vorstellungen von kanibalistischen Ritualen rührt, die auch Montaigne beschreibt. Darin manifestieren sich dunkle Erinnerungen und Ängste aus einer animalischen Urvergangenheit von Fressen und Gefressenwerden, die auch heute noch etwa in der Zombie Metapher wirksam sind.

Caliban, der am liebsten Miranda vergewaltigen und Prospero im Schlaf töten möchte, verkörpert eben jene, von keiner Zivilisation gebändigten, animalischen männlichen Instinkte, die durch den Alkohol, mit denen Stephano und Trinculo ihn versorgen, erst so Recht entfesselt werden. Die damit verbundenen dionysischen eskapistischen Verheißungen spielten für die zeitgenössische Attraktivität des Stückes gewiss eine nicht unbedeutende Rolle. Wie in „A Midsummernight’s Dream“ nordischer Mythen von Feen und Gnomen, und in „As you like it“ italienisch bukolische Szenarien mit Schäfern und Nymphen exploitiert werden, lebt auch die Zauberinsel von „The Tempest“ von Projektionen als Sehnsuchtsort für das Ausleben von geheimen Fantasien.

Die in diesem Fall dezidiert männlich sind. Denn neben den Verheißungen von ungehemmten Sex und Rausch (die sich heute in abgelegenen Anwesen der Superreichen mit Kokain und käuflichem Sex manifestieren) spielt auch eine narzisstische Komponente hinein, die jene heroischen Weltumsegler wie Kolumbus und Magellan umwog, die wie heute jene „Visionäre“, die zum Mars aufbrechen möchten, die Grenzen des menschenmöglichen austesteten.

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In den letzten 50 Jahren haben denn auch die feministischen und kolonialistischen Interpretationen von „The Tempest“ dominiert. So sehr, dass der jüngst verstorbene Harold Bloom in seinem Shakespeare Buch „The invention of the human“ enerviert dagegen polemisierte. Häufig wird inzwischen Caliban mit einem Schwarzen besetzt oder Prospero mit einer Frau, so auch in der jüngsten Verfilmung von Julie Taymor (die trotz einer fantasievollen Inszenierung nicht wirklich geglückt ist).

Wie bereits aus dem bisher angedeuteten hervorgeht, ist nicht zu leugnen, dass das Thema des Kolonialismus in der englischen Politik um 1600 eine wichtige Rolle spielte, was nicht zuletzt durch die spanischen Protagonisten (König Ferdinand II. schickte Columbus nach Amerika) durch „The Tempest“ hindurchklingt. Auch die patriarchalischen Motive sind bei Miranda, ebenso wie Alfonsos Tochter Claribel, die beide aus rein machtpolitischem Kalkül verheiratet werden, vollkommen offensichtlich.

Eines der Themen von „The Tempest“ ist ohne Zweifel, dass Macht die ultimative Währung ist, und umkehrt legitime Ansprüche ohne Machtpotentiale, die sie durchsetzen, Schall und Rauch sind. Dass Caliban die Herrschaft über die Insel von seiner Mutter Sycorax her beansprucht, ist verstohlen hintersinnig eine politische Anspielung auf Elisabeth I. und James I., die sich auch beide über ihre Mütter, Anne Boleyn bzw. Mary Stuart legitimierten, wobei beide Ansprüche bei näherem Hinsehen durchaus anfechtbar waren.

Doch geht es eben auch darum, dass Macht ein komplexer Mechanismus ist, der neben materiellem und institutionellem Einfluss auch von psychosozialen Faktoren wie Autorität, Überzeugungskraft, ideellen und ästhetischen Komponenten sowie Inspirationen und Antizipationen bestimmt wird. Miranda ist denn auch eigentlich Prosperos größter Trumpf. Er hat ja eigentlich überhaupt keine eigene Agenda oder Lobby. Doch die Verbindung des Thronfolgers Ferdinand mit seiner Tochter überzeugt am Ende doch alle als aussichtsreichste und stabilste Perspektive.

Der Sturm ist auch Metapher für eine schockhafte Krise, die alte Gewissheiten über Bord wirft und die Tektonik der Machtverhältnisse neu ordnet. Ohne Zweifel war nicht zuletzt jener Regierungswechsel von Elizabeth I. zu James I. (der sich 1603 vollzog) einer der Hintergründe für die politischen Aspekte in „The Tempest“. Die erste bezeugte Aufführung von „The Tempest“ fand tatsächlich bei der Hochzeit von James Tochter mit einem Pfälzer Kurfürsten statt.

Caliban als Schwarzen zu identifizieren ist durchaus legitim, doch auch zwiespältig. Und das nicht nur weil die Figur auch über allegorische Aspekte verfügt, die über den prototypischen Ureinwohner hinaus gehen. Denn Caliban hat beunruhigender Weise eben auch radikal-egoistische Züge, die mehr an die heutigen schwarzen Diktatoren-Marionetten-Figuren Afrikas erinnern als jenen lieb sein dürfte, die in Caliban vor allem ein Opfer sehen wollen.

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Trotz der so dominanten männlichen Aspekte des Stückes - was sich auch darin äußert, dass es mit Miranda nur eine einzige weibliche Hauptrolle gibt - sind doch gleichzeitig hintergründig viele weibliche Aspekte präsent. Tatsächlich ist im Text von zahlreichen Frauenfiguren die Rede ist: angefangen von Mirandas Mutter (Prosperos verstorbener Frau) und Calibans Mutter (der Zauberin Sycorax) über Claribel (Alfonsos Tochter, von deren Hochzeit man gerade aus Algier zurückkehren wollte) bis hin zu den mythischen Figuren Dido, Ceres, Juno, Iris und Venus. Und natürlich weckt die Figur der Sycorax (in ihrem Namen steckt das griechische Wort für „Rabe“) Erinnerungen an die dominanten Mutterfiguren wie Gertrud und Volumnia, die nach freudianischem Muster ödipal in den Frauen und Liebhaberinnen wie Hippolyta, Lady Macbeth, Cleopatra und der Dark Lady perpetuiert werden.

Während Rosalind mit ihren vielfarbigen erotischen Aspekten im reinen ist und taktisch spielerisch damit umgeht, scheint Prospero die weiblichen Anteile gewaltsam verdrängen zu wollen. Unverkennbar sind sie in Ariel externalisiert, der sich ähnlich wie Rosalind beständig verkleidet: gleich zu Beginn in eine Nymphe, später in eine Harpye und dann im rein weiblichen Maskenspiel als Göttin Ceres.

Das Maskenspiel, deren Protagonisten Prospero als „spirits… called to enact my present fancies“ bezeichnet, ist eine merkwürdige Versammlung der weiblichen Gottheiten: Juno, die Gattin des Jupiter, Iris, ihre Schwester und Götterbotin und die Fruchtbarkeitsgöttin Ceres. Die Pointe der Versammlung ist, dass die Damen sicherstellen, dass Venus und ihr Sohn Eros der geplanten Hochzeit fern bleiben. Dahinter steckt nicht nur eine ironische Anspielung auf Shakespeares damals berühmtestes Werk „Venus and Adonis“, gleichzeitig werden damit auch Prosperos Hintergedanken („fancies“) angedeutet, dem es in Zusammenhang mit Miranda in erster Linie um eine machtpolitische und dynastische Nachkommenschaft geht, und dem jede ungeplante Eros-getriebene Verwirrung ungelegen käme.

Das Verhältnis von Miranda und Ferdinand bleibt denn auch ohne eine vitale erotische Komponente. Die Holztrage-Szene betont unmissverständlich die soziale Beziehungs-Komponente und Shakespeare wählt eine effektive Metapher, wenn Miranda und Ferdinand am Ende beim Schachspiel gezeigt werden. Das Verhältnis einer gemäßigten narzisstischen Verbindung, das sich durch Berechenbarkeit und gemeinsame Interessen oft als stabiler erweist als die Adrenalin- und Dopamin-gesättigten erotischen Höhenflüge. So haben Miranda und Ferdinand dann auch kein Problem damit, Prosperos konservativer Forderung, vorehelichem Geschlechtsverkehr zu entsagen, willig zu folgen.

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Der Kontext zu den Zauberin-Figuren der Medea, Melissa, Alcina und Armida, die für die Theater- und Opernkultur des 17. und 18. Jahrhunderts eine enorme Rolle spielen, wird relativ selten thematisiert. Diese markieren den Archetypus einer attraktiven und selbstbewussten Frau, die Männer auf ihrer Insel durch Zauber gefangen hält, jedoch am Ende von ihrem Liebhaber verlassen wird und aus Eifersucht zu einer Furie wird.

Das ist nicht nur bereits die Konstellation von „Venus and Adonis“ (Adonis wird von einem Eber getötet, der die Allegorisierung von Venus rasender Eifersucht ist). Auch das Medea Zitat aus Ovids „Metamorphosen“, das Shakespeare Prospero in den Mund legt, deutet unmissverständlich in diese Richtung. Der Gefangene ist in diesem Fall Ariel, und macht man sich diesen Zusammenhang klar, erkennt man auch die Travestiespiele wieder, die hier, wenn auch sehr hintergründig und sublimiert, zwischen Prospero und Ariel gespielt werden. Ähnlich wie im Fall von Oberon und Titania, Orlando und Phoebe sowie Orsino und Olivia, vexieren auch hier die Perspektiven von Prospero und Sycorax auf ein gemeinsames Objekt der Begierde.

Doch wie gesagt sind Venus und Eros in „The Tempest“ verbannt. Statt von Venus und Eros wird das Stück von den männlichen Göttern Dionysos/Bacchus und Apoll bestimmt (die man ebenso allegorisch in Caliban und Ariel wiedererkennen kann). Doch wie Prospero als ein geläuterter Lear erscheint, der Miranda nicht wie Cordelia verstößt, erscheint er auch wie eine geläuterte Venus oder Sycorax, die Ariel nicht obsessiv an sich bindet und gefangen hält, sondern in Freiheit entlässt.

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Häufig werden in Zusammenhang mit „The Tempest“ psychoanalytische Deutungen bemüht. So wurde etwa immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass Caliban, Prospero und Ariel Siegmund Freuds Drei-Instanzen-Modell von triebgesteuertem Es, kontrolliertem Ich und idealistischem Über-Ich repräsentieren. Und es erscheint naheliegend, dass es in diesem Stück um Traumata, Obsessionen, Verdrängung, Schuld und Sühne geht. Gerade in der Beschreibung von Ariels Befreiung, der 12 Jahre lang in einem Baum eingeklemmt gefangen war, erscheint eine morphologische Bildhaftigkeit von der Lösung einer obsessiven Verkrampfung offensichtlich.

Goethe hat diese Interpretation im Grunde schon vor Freud exemplifiziert, indem er Ariel zu Beginn des zweiten Teil des „Faust“ auftreten lässt. Ariel ist auch dort das idealistische Gewissen Goethes, das ihn zur Läuterung und Reinigung ruft. Dazu, die Zechereien und unschönen Frauengeschichten seiner Frankfurter Zeit hinter sich zu lassen, um sich in Weimar den ernsthaften Pflichten von Politik und Wissenschaft zu widmen.

Überhaupt hat die Zauberinsel auch die Bedeutung eines therapeutischen Ortes. Die prominente Bedeutung von Schlaf, Traum und Musik (der Kunstform mit dem direktesten Kontakt zur Welt des Un- und Unterbewussten) im Stück verweist auf diesen Aspekt der Selbsterforschung und Selbstbewusstwerdung. In Prospero kristallisiert sich nicht zuletzt die Figur des Lehrers und Mentors wie Zoroaster (auf den bereits das „Primaleon“ verwies), Sokrates, Merlin, die auch noch in modernen Figuren wie Gandalf und Yoda durchscheint.

Es verwundert denn auch kaum, dass auch Nietzsche in seinem „Zarathustra“ (Zoroaster) diese anthropologischer Dreieinigkeit thematisiert, mit dem adlergleichen Ariel und amphibischen Caliban: „Und Zarathustra sprach nochmals: ich liebe euch, meine Thiere! Der Adler aber und die Schlange drängten sich an ihn, als er diese Worte sprach, und sahen zu ihm hinauf. Solchergestalt waren sie zu drei still beisammen und schnüffelten und schlürften miteinander die gute Luft. Denn die Luft war hier draußen besser als bei den höheren Menschen.“

Nicht zuletzt ist “The Tempest” auch eine Antwort auf Christopher Marlowes “Doctor Faustus”. “A sound magician is a mighty god” heißt es in Marlowes Stück. Und sein Doctor Faustus spricht jene Litanei der größenwahnsinnigen männlichen Selbstermächtigung, die unausgesprochen auch durch die Prospero-Figur hindurchklingt:

Shall I make spirits fetch me what I please,

Resolve me of all ambiguities,

Perform what desperate enterprise I will?

I'll have them fly to India for gold,

Ransack the ocean for orient pearl,

And search all corners of the new-found world

For pleasant fruits and princely delicates;

I'll have them read me strange philosophy,

And tell the secrets of all foreign kings;

Doch während Marlowes Doktor Faustus und Nietzsches Zarathustra die dionysisch enthemmenden und zerstörerischen Caliban Komponenten betonten, stehen bei Prospero und bei Goethes Faust das Motiv der Domestizierung und Bändigung im Vordergrund. Wie überhaupt in „The Tempest“ das Thema der Überwindung und Erlösung die zentrale Rolle spielt.

Die Dreieinigkeit von Caliban, Prospero und Ariel wird von Shakespeare nicht nur durch Prosperos gegen Ende an Caliban gerichtete Bemerkung „this thing of darkness I acknowledge mine“ beglaubigt. Auch dass Caliban (wie Prospero und Ariel) meist in Versen spricht, was in Bezug auf seine Charakterisierung als „savage“ und „natural“ schon immer für Irritationen gesorgt hat, deutet in diese Richtung.

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Dass Prospero Shakespeares Alter Ego ist wurde immer wieder unterstellt, doch vor allem in neuerer Zeit immer häufiger verworfen. Nicht unbeeinflusst ist die Sichtweise dabei davon, was man sich selbst für ein Bild von Shakespeare macht. Im 19. Jahrhundert war die Identifikation fast selbstverständlich. Nicht nur Goethe rückte sich selbst über die allergorisierende Verknüpfung mit Ariel in diese Schöpfer-Gott Rolle Shakespeares, auch bei Beethoven taucht der Hinweis auf dieses Stück immer wieder auf, unverkennbar mit ganz ähnlichen identifikatorischen Konnotationen.

Doch je kritischer die Prospero Rolle im Laufe des 20. Jahrhundert gesehen wurde, als Inbegriff toxischer patriarchalischer Männlichkeit, desto häufiger distanziert man sich von solchen Identifikationen. Ungern mochte man sich vorstellen, dass dieser übermächtige Autor etwa unsympathisch sein könnte. Von je her war Shakespeares Kosmos und sein Autor auch Projektionsfläche zeitgeistiger Paradigmen (worüber Gary Taylor mit „Reinventing Shakespeare“ ein sehr lesenswertes Buch geschrieben hat).

Tatsächlich gibt es zahlreiche Hinweise auf eine auktoriale Perspektive. Die demonstrative Verwendung des Begriffs „Art“ („Kunst“) als Synonym für Prosperos Zauberkräfte, der Abgesang nach dem Maskenspiel („our revels are now ended“) mit der Identifikation der „actors“ und „spirits“ und dem ironisch doppeldeutigen Hinweis auf „the great globe“ (die große Erdkugel bzw. das „Globe Theatre“) und schließlich der Epilog, in dem Prospero unmissverständlich in die Rolle des Autors wechselt. Insbesondere der depressive Grundton der Epilogs ist aus dem rein dramatischen Zusammenhang eigentlich nicht zu erklären. Prospero hat ja alles erreicht, was er sich gewünscht hat. Alles ist in bester Ordnung.

Schon vor ein paar Jahren hatte ich in Zusammenhang mit Cervantes auf die merkwürdige Parallelität zwischen dem Schluss von „Don Quichote“ und „The Tempest“ hingewiesen. Auch die Genesung des Don Quichote von seinem Wahnsinn vermittelt nicht die Genugtuung und Erleichterung, die man eigentlich erwarten sollte. Stattdessen durchfährt einen ein metaphysischer Schrecken und eine Trauer, wenn das Traumgebilde Don Quichottes in Rauch aufgeht.

Von Anfang an gibt es in „The Tempest“ diese Ambivalenz, dass Prospero einerseits der allmächtige Bändiger des Chaos ist, der die ultimative Ordnung aller Verhältnisse wieder herstellt. Und doch weicht ein Schleier von Melancholie nicht von ihm, der im Grunde alle Aktionen und Entscheidungen mit einem hintergründigen Fragezeichen versieht.

Es ist, als ob sich Prospero halb unbewusst selbst fragt: Miranda und Ferdinand werden wohl alt und glücklich, doch waren Romeo und Julia in den wenigen Tagen, die sie hatten, nicht noch viel glücklicher? Ariel ist jetzt frei und unabhängig, doch was wird er mit seiner Freiheit anfangen, und bleibt die Leerstelle, die er als Adonis lässt, nicht auf immer quälend schmerzvoll? Hatte Antonio nicht als leichtsinniger juveniler Tunichtgut in Venedig, und Caliban mit Falstaff, Stephano und Trinculo in Londons Kneipen nicht die beste Zeit ihres Lebens?

Anders als Goethes Faust, der am Ende sogar Mephisto übers Ohr haut, und in den Himmel einzieht, hat Shakespeares Abgesang mit „and my ending is dispair“ nichts Versöhnliches und Arriviertes. Wie für Don Quichote war für Shakespeare nur jene „enchanted isle“, die Welt der Imagination und des Traumes, das einzig wahre Leben. Mit dem Verlassen der Insel ist für Prospero wie für Shakespeare das Leben zu Ende.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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