Die Vergänglichkeit bleibt immer aufs neue eine Zumutung. Jede Epoche kommt an einen Punkt, wenn ihre Protagonisten erfahren müssen, dass, was ihnen teuer und heilig war, an Bedeutung verliert. Dass Geschichte und Kultur sich immer weiter drehen, dass sich Perspektiven und Werte wandeln.
Besonders für das 20. Jahrhundert, das den Begriff der Modernität zu ihrem Signum erhob und wie kaum ein anderes Jahrhundert in einem Rausch der Antizipation und des Fortschrittsversprechens schwelgte, ist diese Erfahrung besonders bitter.
Es ist unverkennbar, dass die avancierten Bildungsausläufer der bürgerlichen Epoche, das, was man einst mit Stolz als Hochkultur bezeichnete, die Geisteswissenschaften und freien Künste, in eine Defensive geraten sind. Selbstgewissheit und Selbstbewusstsein sind abhanden gekommen. Unverkennbar beobachtet man in der heutigen Bildungselite Zeichen der Verunsicherung, heroische Hartnäckigkeit und sorgenvolle Unruhe.
Es scheint ein Epochengesetzt, dass eben jene Paradigmen einer Epoche, die Ursache für ihre Größe und Bedeutung waren, sich irgendwann in ein hochmütiges Extrem steigern, das die Bindung an den Weltgeist allmählich verliert. Gerade in der Musik, die mehr als alle anderen Künste ein Kulturkonstrukt ist und in ihrer teils technischen teils abstrakten und teils sinnlichen Natur viele Angriffspunkte zur experimentellen Befragung bot, offenbarte sich der modernistische Ehrgeiz in einer Fülle und Komplexität, die schon früh in einen ungesunden Elitismus mündete.
Das führte dazu, dass gewisse Konsolidierungsprozesse, die notwendig sind, damit sich Kultur kristallisiert und in ein breiteres kulturelles Bewusstsein einfließen kann, immer schwieriger wurden. Heute gestehen selbst Verfechter Neuer Musik eine gewisse Ratlosigkeit und Orientierungslosigkeit ein.
In dieser Entwicklung spitze sich etwas zu, was symptomatisch für gewisse Phänomene der jüngeren Geschichte ist. Einer modernen Hemmungslosigkeit sich in spekulative Abenteuer zu stürzen, ohne an das morgen zu denken. Künstler zu sein bestand vermehrt in einem artistischen "pitch", um eine Gefolgschaft zur ideelen oder finanziellen Investition anzuregen. Je mehr verwüstetes Land man dabei hinterließ, desto besser standen die Chancen, eine Anhängerschaft zu gewinnen.
Darin spiegelte sich das Lebensgefühl der fortschrittsberauschten Moderne, die in einem Hochmutsgefühl der grenzenlosen Machbarkeit, ständig Wechsel auf die Zukunft aufnahm. Doch kam irgendwann der Punkt als der Raubbau an Ressourcen, die Zerstörung und Verschmutzung der Natur, die von Generation zu Generation sich verdoppelnden Verschuldungsquoten, die immer gigantischer werdenden Spekulationsblasen, als Schattenseite immer stärker ins Bewusstsein traten.
Wer sollte das je bezahlen, woher sollten die Ressourcen für morgen kommen, wer sollte die Aufmerksamkeit für die unüberschaubaren ästhetischen Abenteuer aufbringen?
Schon Thomas Mann hatte ein Bewusstsein für diese Problematik als er seinen Helden Adrian Leverkühn in Doktor Faustus über die Musik der Zukunft spekulieren lässt. Leverkühn ist überzeugt, dass sie eben das genaue Gegenteil seiner eigenen hochgezüchteten, hochmütigen und lebenskühnen Ästhetik sein müsse. Eine Musik, die mit den Menschen wieder "auf Du und Du" steht.
Der 1935 geborene Este Arvo Pärt wuchs hinein in die Zeit der letzten ästhetischen Schlachten, die nach dem 2. Weltkrieg geführt wurden. Spielte anfangs selber mit in den ästhetisch politischen Scharmützeln bevor er vom Saulus zum Paulus wurde. Es traf ihn nicht wie ein Blitz sondern eher wie ein langsam aufkeimender Zweifel. Jahre kritischer Selbstbefragung folgten, in denen er nur noch sporadisch komponierte.
Am Ende kam er zu dem selben Schluss: nämlich dass die Antwort auf die kulturelle Krise der Zeit eine moralische sein muss. Dass auf den Stolz und Hochmut der modernistischen Ästhetik nur Demut folgen kann. Und er begann mit "Für Alina" das Komponieren neu zu erlernen, mit Demut und Respekt für jeden einzelnen Ton. Einer Haltung, in der sich der Respekt vor der Natur und vor der Menschheit spiegelt.
Es ist symptomatisch, dass diese Entwicklung in den 70er Jahren stattfand, erwachte doch zu jener Zeit mit dem Club of Rome Bericht und der Entstehung der Öko Bewegung ganz allgemein ein Bewusstsein um eben jene Problematik. Jene selbstkritische Erkenntnis, dass man in jeder Beziehung über seine Verhältnisse lebt.
Die Hellhörigkeit für diesen historischen Paradigmenwechsel, vor allem aber die kompromisslose Konsequenz, mit der er einen neuen Weg gesucht hat, um diesem ästhetisch Ausdruck zu verleihen, machen ihn zu einem der bedeutendsten Komponisten der letzten 50 Jahre.
Dass Pärts neue Ästhetik tief in Tonalität und christlicher Religion verwurzelt ist, ja mehr noch, sich historisch tief bis in die gregorianischen Anfänge der Musik zurück gräbt, ist im Grunde selbstverständlich. Es geht darum die traditionellen Wurzeln zu reaktivieren, einen neuen Einklang mit der Vergangenheit, mit der Gewachsenheit von Natur und Kultur zu finden.
Wie bei jedem Paradigmenwechsel steht die neue Ästhetik in direkter Opposition zur alten. Und wie es immer war, stehen die Vertreter der alten Ästhetik der neuen mit Unverständnis gegenüber. Wenn Kritiker Pärt immer wieder Schlichtheit, mangelnde Komplexität und mangelnde ästhetische Experimentierfreude vorwerfen, verstehen sie nicht, dass Pärts Musik gar nicht avanciert, abstrakt, komplex und risikofreudig sein kann, ohne damit das eigene ästhetisch moralisches Paradigma ad absurdum zu führen.
Eben denselben Kritikern fällt es auch schwer, zwischen Original und den inzwischen zahlreichen Derivaten - denn alles, was Signifikanz und Bedeutung hat, wird schnell auch imitiert und plagiiert - zu unterscheiden, da sie eben für die entscheidende moralische Dimension, die das Original von den Imitaten unterscheidet, kein Sensorium haben.
Auch dass Pärt kein Intellektueller ist, Interviews und ästhetische Debatten eher meidet, liegt in der Natur der Sache. Das Diskursive und Reflektive war eben ein zentrales Element der alten Ästhetik. Doch die Zeit der Ästheten und Intellektuellen neigt sich dem Ende zu.
Wenn Pärt von Musikjournalismus oft als Außenseiter bezeichnet wird, mag das in Bezug auf den institutionalisierten und in liebgewonnenen Gewohnheiten verharrenden elitären Klassikbetrieb zutreffend sein, ist jedoch im Hinblick auf eine globale Perspektive eigentlich absurd.
Pärts Musik ist schon lange mit der Menschheit auf "Du und Du", über Länder, politische Systeme, Klassen und ästhetische Gruppierungen hinweg. Insbesondere seine starke Präsenz in Musik zu Filmen - und das Kino und Serien-Fernsehen ist ohne Zweifel inzwischen das zentrale ästhetische Medium unserer Zeit - reflektiert die Bedeutung und gesamtkulturelle Relevanz seines Werkes noch viel stärker als die zaghafte und halbherzige Anerkennung des Feuilletons und selbst die zahlreichen Preise, die Arvo Pärt inzwischen erhalten hat.
Es ist vielleicht kein Zufall, dass mit Arvo Pärt ein Vertreter des slawisch-russischen Kulturkreises zum ästhetischen Protagonisten des moralischen Paradigmenwechsels wurde. Schon bei Tolstoi, Dostojewski und Gogol, später bei Pasternak, Mandelstam und Achmatova bis zu den Filmmeditationen Andrei Tarkowskis spielte eine existenzielle Dimension von Moral, die sich von der mehr aufklärerisch geprägten Moral der westlichen Literatur unterschied, immer eine große Rolle.
Gerade im Klageton, der so vielen Kompositionen Pärts eigen ist, schwingt immer etwas mit vom Schauer vor einem existenziellen Abgrund, einer totalen Verlorenheit. Arvo Pärt hat uns wieder hellhörig gemacht, für die Grenzen der menschlichen Moral und für die Fragilität unserer Existenz.
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Arvo Pärt
Bild: Juul Pedersen/AFP/Getty Images
04:36 11.09.2015
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Kommentare 9
Danke fuer diesen Artikel ueber Paert. Dass der schon 80 sein soll... Unglaublich. Die Avantgarde wird doch nie so alt.
Vielen Dank für den Beitrag. Es ist ein schöner, würdiger Beitrag für diesen Ausnahmekomponisten, dessen Werk auch ich liebe.
Zumindest sind seine Tintinnabuli-Stücke im Allgemeinen nicht lästig.
Die europäische Musik seit den ersten zaghaften Anfängen der Polyphonie in Form von Bordungesängen etwa im 8. Jahrhundert n.0 stellt eine Ausnahmeerscheinung dahingehend dar, als in ihr im Gegensatz zu originärer außereuropäischer Musik die Kategorie des "Neuen" durch die Jahrhunderte hindurch zu einem zentralen Aspekt avancierte. Das Neue wirkte epochenbildend, und als "großer" Komponist wurde aufgefasst, wer entweder das Neue etablierte oder das Vorhandene zu einem Abschluss brachte, nach dem das Neue zwingend wurde, weil mit den Alten nichts Neues mehr gesagt werden konnte, was nicht bereits gesagt war.
Das stieß bereits bei Schubert an eine erste Grenze, dessen Modulationen den Rahmen der Tonalität bereits soweit ausschöpften, dass Tonalität im Grunde gegenstandslos wurde, und dann durch Wagners Handhabung von Metrik an eine zweite Grenze. Beides zusammen machte Tonalität zu etwas Altem, in dem nichts Neues mehr gesagt werden konnte. Manche Komponisten (Bruckner, Brahms, Mahler u.a.) spürten das noch nicht so genau, andere litten darunter, unter ihnen Josef Matthias Hauer, der beinahe vergessene Erfinder der Zwölftontechnik, und Arnold Schönberg, der als Erfinder der Zwölftontechnik gilt. Andere suchten ihr Heil im colorite locale nationaler Volksmusik (Bartok, Stravinsky, die meisten Russen).
Die Verallgemeinerung der Reihentechnik auf weitere musikalische Parameter neben der Tonhöhe führte direkt zur seriellen Musik, und damit ist die Geschichte des Neuen als musikalische Zentralkategorie bereits zuende erzählt. Mit der Postmoderne, bereits ab den sechziger Jahren, begann das Zeithalter der Wiederholungen, Zitate und Kollagen in der Hochkultur. Die Zeit des Restaurativen, auch wenn die Gegenwehr zunächst noch groß war.
Man kann das als Rückbesinnung der Musik auf ihre Wurzeln begrüßen oder als Triumpf der ästhetischen Langeweile bedauern. Aber über Ästhetik lässt sich eben nicht mehr streiten, und schon gar nicht, wenn gar keine explizite ästhetische Theorie mehr zugrunde liegt. Wer hat das nochmal gesagt? Kunst ist die Praxis einer ästhetischen Theorie. Möge also jeder für sich einschätzen, was mit heutigen Komponisten los ist. Arvo Pärt hat für sich offenbar eine Nische und ein Refugium gefunden. Ob der Musik damit geholfen ist, sei dahingestellt. Der Dreiklang als Inkarnation der Ewigkeit. Ich habe schon freudiger gelächelt.
schließe mich GEBE an, lieber Thomas.W70
Der blinde Fortschrittsoptimismus, egal, ob in der sozialen Wirklichkeit oder spiegelbildlich in der Kunst, hat sich verrannt, hat postmodern Zynismus und Beliebigkeit zurückgelassen. Eine verständliche, aber paralysierende Reaktion. Wir müssen einen neuen oder erneuerten, reflektierten Fortschrittsbegriff gewinnen. Da werde ich wohl Lethe nicht an meiner Seite haben, aber hier stimme ich ihm ausdrücklich zu: eine Erneuerung im Geiste der Vergangenheit ist eine Sackgasse. Wie auch die radikale Serialität eine ist. Daraus könnte erst etwas werden, wenn ein neuer Schönberg ihr trotz der schier unendlichen Möglichkeiten der Formung eine ausreichende Suggestivität abgewinnen könnte. Was aber nichts an der Situation ändern würde, daß ein verbindlicher Stil für alle als Bezugspunkt eines Komponierens auf der Höhe der Zeit oder dem Stand des Materials nicht mehr möglich ist. Wir sind unwiderruflich beim Pluralismus gelandet, man kann sich allen künstlerischen Perspektiven auf allen Niveaus anvertrauen. Und das war für die Rezipienten schon immer die angemessene Haltung. Oder hätte man als Schubert-Enthusiast den Opa Haydn ins museale Altenteil verbannen sollen? Die Komponisten wußten, daß die Musik nicht so schnell altert, wie sie voranschreiten, fühlten sich ihren Vorgängern tief verpflichtet. Aber der Respekt vor den Leistungen der Vergangenheit annuliert nicht einen relativen Begriff des Fortschritts und der künstlerischen Qualität.
Was nun Paert betrifft. Als er bekannt wurde, war auch ich beeindruckt von der neuen Stimme, so wie von den amerikanischen Minimalisten und Meredith Monk, um weitere Beispiele zu nennen. Sehr nachhaltig war in allen Fällen der künstlerische Gewinn nicht, womit ich nicht die Gefälligkeit und das Existenzrecht dieser Musiken bestreite, mit Ausnahme weniger Ausnahmen unter den Vertretern der minimal music gestehe ich diesen Musikern auch großes handwerkliches Können und viel Erfahrung zu. Bei den metaphysischen Bedeutungs- und Geltungsansprüchen unterstelle ich allerdings zu Gunsten der Künstler bewußte Marketingstrategien, alles andere wäre lächerlich.
Na, da ist es ja gelungen, aus Pärts sanftmütigen Klängen ein paar schräge Argumente zu gewinnen:
Es scheint ein Epochengesetzt, dass eben jene Paradigmen einer Epoche, die Ursache für ihre Größe und Bedeutung waren, sich irgendwann in ein hochmütiges Extrem steigern, das die Bindung an den Weltgeist allmählich verliert.
Puh, da isser, der Weltgeist:
… das Kino und Serien-Fernsehen ist ohne Zweifel inzwischen das zentrale ästhetische Medium unserer Zeit …
Auch recht gewagt gesagt:
… Musik, die mehr als alle anderen Künste ein Kulturkonstrukt ist … - herrje, wieso denn das? Notfalls ließe sich dies auch von der Kochkunst sagen.
Und endlich, ob der Meister da wohl zustimmen würde:
… Arvo Pärt ein Vertreter des slawisch-russischen Kulturkreises … Hä?
Nee, auch ich mag – in homöopathischen Dosen – Pärts gediegen gestrickte Musik manchmal recht gern, vor allem, wenn sie mit großem interpretatorischen Geschick und vorzüglichem tontechnischen Einsatz zu Ohren gebracht wird. (Ist dies nicht gegeben, schmiert´s allerdings auch recht schnell ab, was bei den großen alten Meistern so nicht der Fall ist.)
Schließlich ist @W.Endemanns letztem Satz rundum zuzustimmen: Bei den metaphysischen Bedeutungs- und Geltungsansprüchen unterstelle ich allerdings zu Gunsten der Künstler bewußte Marketingstrategien, alles andere wäre lächerlich.
Selbst wenn es sich dabei nicht um eine bewusste Entscheidung des Künstlers handeln mag - für´s Geschäftliche gibt´s ja die Agenturen:
Fromm macht, was frommt!
woran man Musikproleten erkennen könnte:
sie wissen inzwischen nichteinmal mehr zu schreiben, wie Komponisten geschrieben werden.
wieviel feiner war dagegen doch die introduction kent naganos in die hamburgische staatsoper...
was vom Leben bleibt?
hoffentlich mehr also so eine konzise Abfertigung.
Bildungsbürgerlich daherkommender Kanonik indes mangelt es nicht an Einsicht: sondern an Distanz zum behandelten Subjekt, sollte es so sein wie es zu vermuten stehen könnte.