Die Welt aus den Fugen

Die Kunst der Fuge Anmerkungen zum letzten großen, unvollendet gebliebenen Instrumentalzyklus von Johann Sebastian Bach, der nicht ist, was er zu sein scheint

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Was mag Johann Sebastian Bach wohl gedacht haben als er kurz vor seinem Tod, durch zwei missglückte Augenoperationen und einer wohl dadurch ausgelösten Serie von Schlaganfällen siech und untätig danieder lag. War das die Strafe für seine Hybris? Hatte er sich zu viel angemaßt als er in seiner zuletzt für sein monumentales Fugenwerk geschriebenen Fuge seinen Namen, nicht wie sonst heimlich versteckt und hinter das "soli deo gloria" demütig zurücktretend, sondern als eigenständiges Thema selbstbewusst verewigte?

Das ist eine Spekulation unter so vielen, die Bachs letzten großen Instrumentalzyklus überwuchern. Doch eine keineswegs abwegige. Denn was sich in Bachs großem Projekt der Clavier Übungen, dessen fünfter Teil die sogenannte Kunst der Fuge bildet, abzeichnet, ist in der Tat eine faustisch kühne Entwicklung, sich mit jedem Teil mehr und mehr von konventionellen Formen und Überlieferungen zu emanzipieren und immer mehr ins spekulative und neuschöpferische vorzustoßen.

So sehr Bach bis dahin in seinen Werken die traditionellen Formen, ob in seinen Passionen, Kantaten, Messen oder Konzerten und Suiten, die Potenziale der Formen und Gattungen ausmaß und ausschöpfte, er überschritt gewisse gattungsspezifische Konventionen nie.
Die Clavier Übungen, die dem Habitat der Studierstube entsprangen, eben jenem eigenen Reich, in dem Bach weder kirchlichen noch weltlichen Zwängen unterworfen war, boten das freie Feld für die privaten und geheimen Wissenschaften und Experimente. Waren die ersten beiden Teile noch Vorübungen, in denen er neue konzeptionelle Räume auslotete, begannen vor allem Dritter und Vierter Teil (die sogenannten Goldberg Variationen) die Traditionen, aus denen sie erwachsen waren, zu sprengen. Die Kunst der Fuge ist vollends ein Parforce Ritt, in dem Bach mit den musikalischen Elementen selbst spekuliert.

Es war eben jener faustischer Zug in der Kunst der Fuge, der dafür sorgte, dass dieses Stück in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts seine große Blüte erlebte, eben jener Zeit, in der Thomas Mann sich das faustische Schicksal der Deutschen erfüllen sah.

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Lange Zeit galt die Kunst der Fuge als Bachs letztes Werk. Sein Sohn Carl Phillip Emanuel hatte die Legende in die Welt gesetzt, dass er bei der Arbeit an jener Fuge mit dem BACH Thema, unterbrochen wurde und kurz darauf starb. Inzwischen weiß man nicht nur, dass Bach die Arbeit schon wesentlich früher unterbrochen hatte und im letzten halben Jahr seines aktiven Lebens an anderen Projekten gearbeitet hat. Die Konzeption und der erster Teil der Komposition reicht sogar noch viel weiter zurück. Bereits 10 Jahre früher, kurz nach oder vielleicht bereits während der Arbeit an den Goldberg Variationen wurden die ersten Stücke entworfen.

Warum Bach die Arbeit unterbrochen hat und erst einige Jahre später wieder aufnahm, auch darüber kann nur spekuliert werden. Vielleicht waren es prosaische Gründe, vielleicht war es aber tatsächlich eine ähnliche Angst vor der eigenen Courage wie bei Goethe und seinem Faust, der lange zögerlich mit diesem hochpersönlichen und riskanten Stoff umging bevor er ihn in einem letzten Kraftakt vollendete.

1748 begann Bach die Drucklegung vorzubereiten und konnte noch etwa die Hälfte der Stiche selbst beaufsichtigen. Als er im Juli 1750 starb - durchaus überraschend, einige Anweisungen, die Bach vom Krankenbett aus gab, zeigen, dass er mit baldiger Erholung rechnete - war die Ratlosigkeit groß, da offensichtlich keiner in die Pläne eingeweiht war. Man setzte, was man noch vorfand mehr schlecht als recht zusammen und veröffentlichte das Werk posthum. Wie wenig man sich mit dem Werk selbst befasst hatte zeigt schon der Fauxpas, dass man eines der Stücke zweimal abdruckte, da man nicht bemerkt hatte, dass das eine eine überarbeitete Version des anderen war.

Dieser Torso Charakter öffnete vollends Tür und Tor für alle möglichen Spekulationen und vor allem seit der Renaissance des Stückes vor hundert Jahren befasst sich eine unüberschaubare Literatur mit der Deutung und Rekonstruktion des Stückes.

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Carl Phillip Emanuel, der mit dem musikalischen Nachlass betraut war, spielt in diesem Sammelsurium von Missverständnissen, die das Nachleben der Kunst der Fuge begleiteten, eine Schlüsselrolle. Und diese Missverständnisse sind nicht lediglich praktischer und sachlicher Art sondern eben auch Ausdruck einer ästhetischen Kluft von verschiedenen Generationen.

Das Verhältnis der Bach Söhne zu ihrem Vater ähnelt durchaus dem prekären Verhältnis, das Thomas Manns Söhne zu ihrem übermächtigen Vater hatten. Und Carl Phillip Emanuel nahm dabei eine ähnliche Rolle ein wie später Klaus Mann. Seine neue Ästhetik des galant leichten, exzentrisch und fantastisch ungebundenen steht in einer ähnlich provokanten Opposition zu der ernsthaften und in den Wurzeln der Tradition fest verankerten väterlichen Ästhetik wie die frühen, mit frivolen Tabubrüchen garnierten Stücke Klaus Manns, die die bürgerliche Moral des Vaters herausforderten.

Carl Phillip Emanuel schwamm auf der Modewelle des galanten Rokoko aufwärts und war in den 1740er Jahren als Hofcembalist Friedrich des Großen ganz oben auf der Karriereleiter angekommen. Doch ähnlich wie Klaus Mann plagte ihn regelmäßig das schlechte Gewissen und beide entwickelten immer wieder eine Sehnsucht nach der Solidität und Ernsthaftigkeit der väterlichen Figuren.

Jene berühmte Begegnung Bachs mit Friedrich dem Großen am Potsdamer Hof, aus der das Musikalische Opfer hervorging, offenbart auf bezeichnende Weise jenen Zusammenstoß der Generationen und Kulturen, der sich dann in der Nachgeschichte um die Kunst der Fuge fortsetzte.

Bekanntlich wurde der alte Bach aufgefordert über ein Thema des Königs spontan eine Fuge zu improvisieren, was er in dreistimmiger Form wie zu erwarten souverän tat. Als er jedoch eine sechsstimmige Fuge extemporieren sollte lehnte er das ab, mit dem Hinweis, dass nicht jedes Thema dafür geeignet sei und improvisierte stattdessen eine solche Fuge über ein eigenes Thema.

Gewiss hätte Bach, der wahrscheinlich auf einem Reflektionsniveau improvisierte, das die meisten zeitgenössischen Komponisten selbst beim Komponieren nicht erreichten, um der Show willen leicht etwas andeuten können, was alle anwesenden befriedigt hätte. Aus der Ablehnung spricht nicht nur Bachs heiliger Kunstethos, der ihm verbot selbst vor dem König faule Kompromisse zu machen. Gewiss hat er sich auch ein wenig geärgert über das albern Amateurhafte der maximalistischen Forderung, das seiner universalistischen Ästhetik zutiefst widersprach.

Bach schrieb hunderte von Fugen, in denen er alle Möglichkeit von der Zweistimmigkeit bis zur Sechsstimmigkeit ausschritt. Doch zu glauben, die Kunsthöhe hinge von der Anzahl der Stimmen ab, ist schlicht Blödsinn. Jede Konstellation hat ihre eigenen komplexen Problemstellungen. Vielstimmige Fugen sind eher unhandlich und unflexibel und auch deswegen in Bachs Werk die Ausnahme.

Ähnliches gilt für Fugen mit mehreren Subjekten, wie sie jene unvollendete Fuge aus der Kunst der Fuge darstellt (wie sie erhalten ist, ist sie eine Tripelfuge, war aber eventuell als Quadrupelfuge konzipiert). Wenn Carl Phillip Emanuel in seinem Vorwort davon spricht, dass sein Vater noch eine weitere Fuge mit vier Themata geplant hatte, bei der alle Themen auch noch umgekehrt werden, spricht daraus eben derselbe oberflächliche Maximalismus.

In Wahrheit zählt jene unvollendete Tripelfuge, was den kompositorisch Anspruch angeht, zu den schlichtesten Stücken des Zyklus wie überhaupt diese Art der Kombinatorik von mehreren Themen etwas taschenspielerhaftes hat. Denn natürlich werden die Themen aus dem mehrstimmigen Satz heraus entwickelt. Dass sie dann am Ende zusammenpassen: welch Wunder.

Leider hat Carl Phillip Emanuels Suggestion, die auch Marketingzwecken diente, denn er musste die Druckausgabe unter die Leute bringen, die Rezeption stark beeinflusst. Bis heute wird diese unvollendete Fuge in Untersuchungen als "Krönung" des Zyklus bezeichnet, was sie aus Bachs eigener Sicht gewiss nicht war. Für ihn waren Fugen auf mehrere Themen nur eine Herausforderung unter vielen, die der Fugen Kosmos bereithielt, und eher eine von den handwerklich anspruchsloseren.

Carl Phillip Emanuels Marketingstrategie entsprang auch das größte Missverständnis, das bis heute über dem Zyklus schwebt und mit peinigender Ahnungslosigkeit über Jahrhunderte nachgebetet wurde. Er versuchte den Zyklus als Fugen Lehrwerk zu verkaufen, was grandios scheiterte (nach seiner eigenen Aussage wurden nur 30 Stück abgesetzt), gewiss auch deshalb, weil er genau das nicht ist. Von ihm stammt wahrscheinlich auch der Titel "Die Kunst der Fuge", Bach selbst hätte es wie alle anderen Teile schlicht "Fünfter Theil der Clavier Übung" genannt.

Carl Phillip Emanuel war ein Künstler einer neuen Ästhetik und man sollte deswegen vielleicht nicht so streng mit ihm sein. Doch wenn er sich etwas intensiver mit dem Zyklus befasst hätte - was er, vielleicht auch aus psychologischen Gründen, nicht getan hat - hätte auch ihm klar sein müssen, dass, bei aller Systematik der Konzeption, der Musik selbst jede demonstrative oder didaktische Klarheit völlig abgeht und sie im Gegenteil vor Inkommensurablem und Spekulativem, vor Irregularitäten und Idiosynkrasien nur so strotzt. Aus der Kunst der Fuge das Fugenschreiben lernen zu wollen ist wie aus den späten Beethoven Quartetten den Sonatensatz lernen zu wollen: völlig abwegig.

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Die faustische Aura der Kunst der Fuge führt fast zwangsläufig zu Beethovens Spätwerk und in der Tat ist der genannte Vergleich zu den späten Streichquartetten Beethovens wohl am besten geeignet, einen Begriff davon zu bekommen, was die Kunst der Fuge sein will.

"In der Geschichte der Kunst sind Spätwerke die Katastrophen" schrieb Adorno in seinem Aufsatz von 1937 über den Spätstil Beethovens. Was er damit sehr treffend umschreibt, ist der sich in krisenhaften Eruptionen vollziehende Übergang von Kulturen. Wie in natürlichen Ökosystemen gibt es auch in der Kultur Momente, in denen ein Gleichgewicht, das lange produktiv fruchtbar war, plötzlich aus dem Gleichgewicht gerät und kollabiert.

Künstler der Statur eines Bach oder Beethoven, die den Kosmos ihrer Kultur derart intensiv ausschreiten und ausschöpfen, dass sie selbst zum Symbol und Träger dieser Kultur werden, kommen irgendwann an jenen Punkt der katastrophalen Selbstauflösung. Und es ist vollkommen konsequent, dass für Bach, der unbestreitbar der größte Kontrapunktiker der Musikgeschichte war, eben die Fuge das Genre ist, in dem sich dieses Schicksal erfüllte.

Schon einige Choralvorspiele aus dem Dritten Teil der Clavier Übung haben jene Qualität, die in der Kunst der Fuge bestimmend wird und der man auch in den späten Quartetten Beethovens immer wieder begegnet. Einen Drang, die Kunst auf eine Spitze hinzutreiben, an der sie nur noch bersten kann. Das offensichtlichste Beispiel ist bei Beethoven sicher die "Große Fuge", der den früher bei Beethoven noch objektivierten transgressiven Elan so steigert, das man förmlich das Knirschen und Beben der Mauern spürt. In der Kunst der Fuge ist es vor allem der Contrapunctus 11, der in seiner disruptiven Qualität nicht nur an die große Bearbeitung von "Aus tiefster Not schrei ich zu Dir" aus dem Dritten Teil sondern auch an die "Kreuzige" Chöre der Passionen erinnert, wo der harmonisch feste Boden plötzlich zu wanken beginnt und die Panik vor der Welt verschlingenden Katastrophe spürbar wird.

Dieser Impuls der Überbeanspruchung wird auch gerade in jenen Gruppen nach außen sichtbar, die unter kontrapunktischen Gesichtspunkten am anspruchsvollsten sind, nämlich den Canons und Spiegelfugen. Anders als noch in den Goldberg Variationen, wo bei den Canons die handwerkliche Komplexität spielerisch camoufliert wird, bleiben in der Kunst der Fuge die Schwierigkeiten als Ächzen im Getriebe sicht- bzw. hörbar, ja werden als Beglaubigung von Schweiß und Tränen mit ausgestellt.

Im Expressiven kommt es zu einer Lava-haften Verflüssigung der Strukturen. Wie bei Beethoven etwa im Kopfsatz des cis-moll Quartetts so begegnet man insbesondere in den sogenannten Gegenfugen - das Thema wird dabei mit seiner invertierten, diminuierten und augmentierten Form kombiniert (das heißt, das Thema wird auf den Kopf gestellt bzw. im doppelten und halben Tempo gespielt) - dieser Art von Klangstrom, in dem die Strukturen noch schemenhaft zu erkennen sind, doch gleichzeitig aufgelöst erscheinen.

In diesen Zusammenhang gehört auch die Konzeption, den gesamten Zyklus einem einzigen Thema zu unterwerfen, die nicht zufällig an die 12 Ton Methode Schönbergs erinnert, wo selbst Opern eine einzige Reihe zu Grunde liegt, und sich auch in einigen von Beethovens späten Quartetten nachvollziehen lässt. Sie steht exemplarisch für jenen faustischen Drang der Selbstermächtigung. Im demonstrativen Gegensatz zum Wohltemperierten Clavier, dessen Prinzip eine Diversität ist, die das eigene Handwerk mit traditionellen Formen, Figuren und Genres abgleicht und sich exemplarisch daran erprobt, wird das kreative Subjekt jetzt absolut gestellt. Wie eben Faust bei Goethe nach der Teufelsverschreibung nicht mehr gefesseltes Objekt von Raum und Zeit ist sondern umgekehrt allmächtig Raum und Zeit an das subjektive Empfinden und Räsonieren heranträgt.

Auch wenn der Intellekt die Mittel bereit stellt für das finale Zerstörungswerk, der Impuls selber ist alles andere als intellektuell als vielmehr atavistisch. Was man auch aus Wagners Götterdämmerung oder aus epischen Filmen und Videospielen kennt, wenn am Ende alles in einem Inferno versinkt, entspringt einem im Grunde narzisstisch infantilen Impuls, die eigene Erlebnisaura und die Welt gleichzusetzen. Wenn man den Schauplatz verlässt, kann und darf dort nichts mehr weiter existieren.

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Über der Kunst der Fuge schwebt auch ein musikhistorisches Missverständnis. Es wird oft so getan, als ob es im Barock eine hoch entwickelte Fugenkultur gab, die in der Kunst der Fuge gewissermaßen exemplarisch zusammengefasst wurde. Doch macht man sich auf die Suche nach den Vorläufern und Vorbildern, stellt man fest, dass avancierte Fugentechniken bei den bedeutenden Instrumentalkomponisten vor Bach kaum eine Rolle spielen und die wenigen Beispiele von Theoretikern stammen, die künstlerisch eigentlich kaum von Bedeutung sind.

Kontrapunktische Instrumentalformen spielen, vor allem in der Orgelmusik seit 1600, bei Komponisten wie Sweenlinck, Frescobaldi, Scheidt, Fischer oder Buxtehude, in deren Tradition Bach steht, zwar durchaus eine wichtige Rolle, doch ästhetisch steht das 17. Jahrhundert im Zeichen des "stile moderno", der im Antagonismus zur Vokalpolyphonie des "stile antico" eben nicht nach Komplexität strebt sondern nach Klarheit, Stringenz und Charakteristik. Der handwerkliche künstlerische Ehrgeiz, den Bach an den Tag legt, ist in Wahrheit ein spätes Phänomen, das sich auch bei seinen Altersgenossen Händel, Rameau und Domenico Scarlatti beobachten lässt, und Ausdruck eines aufkeimenden bürgerlichen Selbstbewusstseins und eines aufgeklärten sachlichen Blicks auf alle Phänomene, der beginnt die technischen Potentiale auszuschöpfen, ist.

Trotzdem bleibt Bach noch ein Repräsentant einer feudalen Kultur mit ihrem geschlossenen Weltbild, dem der individualistische Ausdruckswille des 19. Jahrhunderts noch fern ist. Auf einer syntaktischen Ebene bleibt daher auch die Kunst der Fuge noch vollkommen einem traditionellen Idiom verhaftet. Doch ist der Barock ein Kultur der indirekten Kommunikation über Zeichen und Allegorisierungen, die über den Umweg der Kontextualisierung Botschaften vermitteln.

Man muss die Kunst der Fuge daher vor allem im Spannungsverhältnis zum Wohltemperierten Clavier, dem anderen repräsentativen Fugenwerk Bachs, und im Kontext der anderen Teile der Clavierübung betrachten, um sich über das hochspekulative und singulär exterritoriale dieses Werkes vollkommen bewusst zu werden.

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Dass die Kunst der Fuge ein Torso ist, darüber besteht weitgehend Einigkeit. Auch darüber, dass drei der im Erstdruck enthaltenen Stücke, die Frühfassung von Contrapunctus 10, die Bearbeitung der zweiten Spiegelfuge für zwei Cembali und das Choralvorspiel "Vor Deinen Thron tret ich hiermit", nicht zum Zyklus gehören.

Doch wie das Werk von Bach geplant war, darüber wurde heftig spekuliert. Nach einer Phase von zahlreichen Neuordnungsvorschlägen ist man, nicht zuletzt auf Grund akribischer Untersuchungen der Quellen, inzwischen zu einer konservativen Haltung zurückgekehrt und betrachtet den Erstdruck als weitgehend den Vorstellungen Bachs entsprechend. Auch folgt man der Aussage von Carl Phillip Emanuel Bach und geht davon aus, dass entweder noch eine weitere Fuge fehlt oder jene unvollendete Fuge bereits jene Quadrupelfuge ist und somit das letzte Stück des Zyklus bildet.

Der Kontext der Clavier Übungen legt allerdings nahe, dass noch mehr Stücke fehlen. Vor allem wenn man den Dritten und Vierten Teil betrachtet, in dessen zeitlichen Umfeld auch der Fünfte Teil entworfen wurde, ergeben sich gewisse Parameter. Wie ich schon kürzlich in Zusammenhang mit den Goldberg Variationen ausführte, zielte Bach auf eine Identität von Form und Inhalt, die sich auch und gerade auf Zahl und Anordnung der Stücke erstreckt.

So war der fünfte Teil wohl auf 25 Stücke angelegt (5x5, der vierte hat 32=4x4+4x4, der dritte 27=3x3x3). Das heißt neben der unvollendeten Fuge fehlen noch 5 weitere. Und Konzentrizität ist die zentrale morphologische Idee des Zyklus, die sich bereits im Thema und seiner Prädisposition zur Umkehrung und Spiegelung abbildet.

Da die ersten elf Stücke noch unter Bachs Aufsicht vorbereitet wurden, braucht man im Grunde nur diese erste Hälfte zu spiegeln um den kompletten Plan vor Augen zu haben, der, wie zu erwarten denn auch vollkommen konzentrisch ist und aus vier Vierergruppen und drei Dreiergruppen besteht. Was im Erstdruck noch fehlt sind also die zweite und dritte Dreiergruppe. Die unvollendete Fuge gehörte offensichtlich zu einer dieser zwei fehlenden Gruppen (Nr. nach den modernen gebräuchlichen Ausgaben):

1. Vierergruppe: Nr. 1-4 (Einfache Fugen)
1. Dreiergruppe: Nr. 5-7 (Gegenfugen)
2. Vierergruppe: Nr. 8-11 (variierende Contrasubjecte)
2. Dreiergruppe: fehlt
3. Vierergruppe: Nr. 12 a/b und 13 a/b (Spiegelfugen)
3. Dreiergruppe: fehlt
4. Vierergruppe: Nr. 14-17 (Canons)

Meiner Ansicht nach stand diese Ordnung als Gerüst von Anfang an fest auch wenn Bach im Laufe des Entstehungsprozesses an einzelnen Stücken immer wieder Modifikationen vornahm. Das Autograph P 200, das von manchen für eine frühere Fassung gehalten wird, halte ich für ein Arbeitsmanuskript, das den Stand des Zyklus vor der Unterbrechung der Arbeit darstellt. Die Reihenfolge, die anders ist als später im Erstdruck, repräsentiert wohl die des Kompositionsprozesses.

Was in den anderen Teilen ein übergeordnetes Merkmal war, nämlich dass eine französische Ouvertüre immer in der Mitte des Zyklus stand, ist in dieser Ordnung auf interessante Weise variiert. Denn das Stück "in stylo francese" ist hier die Nr. 6, als Mittelstück der ersten Dreiergruppe. Wahrscheinlich sollten die anderen Dreiergruppen ebenfalls in der Mitte ein solches Stück enthalten, womit diese Stücke jeweils im Zentrum dreier konzentrischer elfteiliger Binnenstrukturen stünden und übereinander gelegt eine dreidimensionale Konzentrizität entsteht.

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Ähnlich wie in Drittem und Viertem Teil gibt es auch in der Kunst der Fuge neben der klaren übergeordneten Struktur noch Substrukturen und gegenläufige Ordnungen, die das Ganze zu einem komplexen Gebilde machen. Und mehr denn je fließt verklausuliertes und subjektives mit ein, worin eine weitere Parallele zum späten Beethoven und Goethe besteht.

Wenn es schon bei den Goldberg Variationen schwierig ist, über die angedeuteten Bedeutungsebenen zu spekulieren, so ist es bei der Kunst der Fuge nahezu aussichtslos, einigermaßen objektivierbares festzumachen. Gibt Beethoven mit dem lydischen Dankgesang und dem "schwer gefassten Entschluss" zumindest stellenweise Hinweise über die subjektiven Hintergründe, mit denen gewiss auch die anderen Quartette unterfüttert sind, weisen bei Bach nur musikimmanente, das heißt rhetorische und figurative Ausdruckskonventionen, motivische und satztechnische Anspielungen sowie Exzentrizitäten und Zuspitzungen auf weitere Bedeutungsebenen.

Schon die drei verschiedenen Gestalten des Hauptthemas haben gewiss einen allegorischen Hintersinn. Am Ende des Contrapunctus 3 wird (entgegen der Regel und der ästhetischen Integrität) unvermittelt das Thema in jener zweiten, verschliffenen Form eingeführt, was ohne Zweifel irgendetwas zu bedeuten hat. Und dass das Thema im bereits erwähnten Contrapunctus 11 fragmentiert geboten wird, muss wohl eine krisenhafte Bedeutung haben.

Besonders jene zweite Vierergruppe, dessen Abschluss der Contrapunctus 11 bildet, legt subjektive Bedeutungsschichten nahe. Die Gruppe wird technisch oft als Gruppe von Doppel- und Tripel-Fugen bezeichnet, was nicht nur sachlich nicht ganz akkurat ist sondern auch auf eine falsche Fährte führt. Die Idee scheint vielmehr das Spannungsfeld des Themas im Verhältnis zu eine Reihe Contrasubjecten zu sein, mit denen es konfrontiert wird.

Ohne zu spezialistisch zu werden, sollte an dieser Stelle, kurz klar gemacht werden, dass das Verhältnis von Thema und Kontrapunkt das zentrale dialektische Prinzip der Fuge ist, wobei das Thema der gebundene und führende Part ist und der Kontrapunkt der ungebundene und untergeordnete. In der avancierten Fugentechnik gewinnen nun manche Kontrapunkte ein solches Eigengewicht, das sie als etwas eigenständiges wahrgenommen werden und dann Contrasubjekte genannt werden.

Diese Dynamik von Subjekt, Kontrasubjekt und Kontrapunkt, die im hierarchischen Feudalismus natürlich auch soziale Implikationen hat, gewinnt gerade in der Kunst der Fuge ein entscheidendes Momentum, nicht zuletzt auch deswegen, weil durch das übergeordnete Generalthema sich jedes neue Thema fragen muss, ob es Hauptthema der Fuge, Contrasubjekt oder nur Contrapunkt ist. Die Gegenfugen haben unter diesen Vorzeichen inzestuösen Charakter, da sie sich mit ihresgleichen paaren, die Canons narzisstischen Charakter, da sich das Thema mit seinem Spiegelbild paart.

In jener 2. Vierergruppe bleiben die Abgrenzungen unscharf. Contrapunctus 9 ist eigentlich weniger eine Fuge als ein Choralvorspiel, in dem das Thema quasi als cantus firmus auftaucht, worin ein Bezug zum Dritten Teil und zur kirchlichen Sphäre hergestellt wird. Contrapunctus 10 wiederum hat (durch den binären Kontrapunkt in Oktave und Dezime) eine für eine Fuge ungewöhnliche Terzen-Sinnlichkeit, die Bach ausdrücklich betont.

Umrahmt werden diese beiden Stücke von den beiden Contrapuncti 8 und 11, die deswegen aus dem Rahmen fallen, weil sie dieselben Themen (oder Contrasubjecte) enthalten, wobei 11 unverkennbar eine krisenhafte Steigerung von 8 darstellt, mit einer Stimme und einem zusätzlichen chromatischen (Gegen)-Thema. Dass hier eine Entwicklung dargestellt wird, scheint offensichtlich. Vermutlich geht es, ähnlich wie beim späten Beethoven und Goethe, um autobiographische Hintergründe, doch bin ich sehr vorsichtig damit, etwas konkretes festmachen zu wollen.

Die erste Spiegelfuge hat Polonaisencharakter und könnte einen Bezug zum Dresdner Hof bedeuten (siehe dazu meine Anmerkungen zu den Goldberg Variationen). Die zweite Spiegelfuge könnte mit ihren Flötenfiguration und dem französischen Einschlag auf den Preußischen Hof verweisen. Auch die letzte Vierergruppe mit den Canons ließe sich biographisch mit jener letzten Phase, in der der Canon als Form und Ausdruck eines Rückzugs ins privat spekulative eine prominente Rolle spielt, synchronisieren. Doch wie gesagt ist Vorsicht geboten. Vielleicht sind solche Spekulationen auch völlig abwegig.

Es gibt gute Gründe mit Spekulationen vorsichtig zu sein. Dass in Bachs Spätwerk Zahlensymbolik und rhetorische, figurative und formale Allegorisierungen eine wichtige Rolle spielen, bestreitet kaum jemand, doch verführt die Fülle und Komplexität des Materials leicht zu Spekulationsblasen und es gibt eine unübersehbare Literatur mit zum Teil hanebüchenen Auswüchsen.

Doch selbst wenn Bach die Kunst der Fuge vollendet hätte und die Missverständnisse um seine Bedeutung vermieden worden wären, seine Geheimnisse hätte der Zyklus, der auch wenn er nicht Bachs letztes Werk war doch in gewisser Weise sein finales war, wahrscheinlich trotzdem nicht preisgegeben. Wie Beethovens späte Quartette blieb auch der Torso der Kunst der Fuge eine merkwürdige Kraterlandschaft, die mit ihrer merkwürdigen wilden Schönheit von vergangenen Katastrophen Kunde gibt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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